Österreich ächzt unter der Inflation. Der österreichische Strompreisindex war im Juni 2022 mit einem Plus von 203 Prozent drei Mal so hoch wie im Vorjahr. Der Gaspreisindex um 424 Prozent höher als im Juni 2022. Diese Preisänderungen an den Großhandelsmärkten werden erst mit Verzögerung an die Haushaltskunden weitergegeben. Der Inflationsrate steigt und lag im Juni 2022 bei 9,3 Prozent, jene des Miniwarenkorbs, der den Wocheneinkauf abbildet, bei 19 Prozent. Die Sozialpartner:innen kämpfen lautstark für eine Entlastung. Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, erklärt im Interview mit Arbeit&Wirtschaft, wie diese Maßnahmen aussehen könnten.
Renate Anderl im großen Interview
Die Inflation hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Regierungsseitig wird auf Maßnahmen im Herbst verwiesen? Ist das nicht zu spät?
Es ist definitiv zu spät. Für die Politik ist es wirklich an der Zeit zu beweisen, dass sie handelt und den Menschen eine Entlastung anbietet. Wird jetzt nicht reagiert, dann besteht die Gefahr, dass sich Armut in unserem Land verfestigt. Aktuell ist es so ähnlich wie mit einem Brand, bei dem man zuschaut wie er entsteht und mit den Löschmaßnahmen wartet, bis er zu einem Flächenbrand geworden ist. Und unter Entlastung verstehen wir aber nicht Einmalzahlungen, denn eine Einmalzahlung wirkt nur einmal und ist nicht nachhaltig.
Wann hätte dieses Beobachten enden sollen?
Gestern. Denn die aktuelle Situation besteht nicht erst seit einer Woche. Spätestens seit dem Frühjahr wissen wir, dass die Teuerung nicht im nächsten Monat vorbei sein wird, ganz im Gegenteil. Alle Experten sagen, dass die Energiepreise nächstes Jahr noch einmal in die Höhe gehen werden. Das bedeutet aber, nächstes Jahr ist es ist zu spät. Denn dann gibt es den Flächenbrand. Es muss jetzt reagiert und Maßnahmen gesetzt werden, um den Funken, den wir haben, der eigentlich eh schon ein kleines Lagerfeuer ist, zu bekämpfen. Arbeiterkammer und ÖGB haben bereits im Frühjahr ihre Vorschläge gemeinsam mit den Sozialpartnern an die Regierung übermittelt. Die liegen noch immer dort und es wird nichts gemacht. Was wir jetzt nicht mehr hören wollen, ist, dass wir über bereits am Tisch liegende Maßnahmenpakete wieder diskutieren und es irgendwann eine Entscheidung gibt. Was wir nicht mehr hören wollen, ist, dass ein neuer Arbeitskreis eingerichtet wird.
Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Ganz einfach, die Bundesregierung muss in die Gänge kommen. Und es geht jetzt nicht darum, welcher Partei ich angehöre und wer die besseren Ideen hat. Es geht darum, dass die besten Ideen zur nachhaltigen Entlastung der Menschen auf den Tisch kommen. Die muss man diskutieren, über den eigenen Schatten springen, egal wo die beste Idee herkommt. Wenn sie die beste Idee ist, dann muss sie umgesetzt werden. Und es soll nicht darüber diskutiert werden, ob wir morgen dann wieder eine Gruppe einsetzen, die wieder darüber diskutiert, die dann beobachtet. Es muss gehandelt werden.
Das wäre beispielsweise?
Nehmen wir etwa die stark gestiegenen Preise für Heizöl, Benzin und Diesel an den Tankstellen in den vergangenen Monaten, wo wir mittlerweile wissen, dass es keine Preisabsprachen gab. Die Preiskommission etwa kann prüfen, ob der hohe Preisanstieg berechtigt ist oder nicht. Diesen Auftrag hat bisher kein Minister gegeben. Daher haben wir diese Woche in einen Brief an Wirtschaftsminister Kocher angekündigt, dass die Arbeiterkammer ein Preisprüfungsverfahren beantragen wird. Es wird spannend, ob der Minister das ernst nimmt, schnell ins Tun kommt oder wieder wartet und es am Schreibtisch liegen lässt.
Unterscheidet sich der Wille zum Handeln zu jenem in der Corona-Pandemie?
Als es in der Pandemie darum ging die Wirtschaft zu unterstützen, da hat man nicht sehr lange nachgedacht und den Betrieben Förderungen gegeben. Wir wussten, dass viel Überförderungen passiert und haben nicht den großen Aufschrei gemacht. Es war uns wichtig die Betriebe zu erhalten und die Arbeitsplätze zu sichern. Jetzt, wo es darum geht den Vielen zu helfen, fehlt uns der schnelle Entschluss. Lange Diskussionen über Ratenzahlungen bei Energiekosten, also die Kosten für Strom und Gas, werden das Problem nicht lösen.
Das durchschnittliche Bruttojahreseinkommen beträgt in manchen Bezirken Wiens rund 22.000 Euro. Wie soll sich das bei der hohen Inflationsrate für viele Haushalte ausgehen?
Das geht sich eben nicht aus, ganz einfach. Und es ist nicht so, dass wir nur zu den untersten Einkommensbezieher:innen hinschauen müssen oder zu jenen die Sozialleistungen beziehen. Mittlerweile sind die Auswirkungen der Teuerung in der sogenannten Mittelschicht angekommen. Es wird auch für jene mit einem Durchschnittseinkommen ein enormer Aufwand. Denn es gibt Grundbedürfnisse wie Wohnen, Heizen und Strom, bei denen man nicht sagen kann ich verzichte, ich brauche keine Wohnung mehr, im Winter heize ich nicht mehr. Das gleiche gilt für Grundnahrungsmittel. Es kann nicht sein, dass die Grundnahrungsmittel immer teurer werden und die Menschen nicht mehr wissen, ob sie sich die sprichwörtliche Butter aufs Brot schmieren können. Daher ist es ganz, ganz wichtig, dass wir jetzt agieren und Maßnahmen, wie den Energiepreisdeckel, gesetzt werden, die nachhaltig sind. Darunter verstehen wir jedoch nicht Einmalzahlungen, denn eine Einmalzahlung wirkt nur einmal und ist nicht nachhaltig.
Sie haben bereits den Energiepreisdeckel, also einen Preisdeckel für Strom und Gas angesprochen. Wie ist dieser umsetzbar?
Unser Modell geht vom Grundbedarf der letzten Monate zu einem günstigen Preis aus. Der darüberliegende Verbrauch wird zum Marktpreis verrechnet. Das hat auch gleichzeitig den positiven Effekt, dass zum Energiesparen angeregt wird, denn alles war ich mehr brauche wird teurer. Bemühe ich mich aber die gleichen Energiekosten aufzuwenden, wie in den letzten zwölf Monaten, dann ist die Finanzierung leichter. Denn auch wenn jetzt vor allem über die Teuerung gesprochen wird, so haben wir noch immer das Thema des Klimawandels und das wird viel zu wenig angegangen.
Sie meinen, es fehle an umfassenden Maßnahmen?
Ja, denn neben den steigenden Energiepreisen sind gleichzeitig die Auswirkungen der Klimakrise in unserem Alltag angekommen, wie die letzten Wochen gezeigt haben. Das Klimathema muss daher bei jedem Bereich immer mitgedacht werden. Wie können wir den Umstieg auf eine gescheite Energie schaffen? Hat die Bevölkerung überhaupt die Chance etwa von einer Gasheizung auf Erdwärme umzusteigen? Haben wir genug Arbeitskräfte dafür? Denn wir merken etwa gerade, dass wir viel, viel mehr Arbeit hätten als Menschen, die diese ausführen. Es geht also um neue Berufe und Ausbildungen. Das fehlt uns. Und auch das ist ein Paket, bei dem die Bundesregierung sehr säumig ist und schön längst hätte in die Gänge kommen sollen.
Wie sieht es mit der Finanzierung der Maßnahmen aus? Wer zahlt das alles?
Diese Frage ist berechtigt. Meine Antwort: Die, die es haben. Leider diskutieren wir grundsätzlich immer über jene, die kein Geld haben und nicht mehr wissen wie es weitergeht und viel zu wenig über jene, die mehr haben. Denn ich glaube, wir haben in unserem Land viele potenzielle Zahler. Wir haben nicht nur mehr Millionäre als je zuvor, die nicht ärmer, sondern reicher geworden sind. Es gibt auch Konzerne, die plötzlich förmlich von Gewinnen erschlagen werden. Es würde bei ihnen – ich sage es sehr bewusst zu zugespitzt – nicht auffallen, wenn sie ein bisschen etwas abzweigen, um unseren Sozialstaat, der uns gut durch eine Krise geführt hat, weiter auszubauen. Denn es ist gerade jetzt an Zeit zu sagen, wenn wir dafür sorgen wollen, dass in unserem Land Armut kein Flächenbrand wird, dann sollen jene ihren Beitrag leisten, wo das Geld vorhanden ist.
Wer sind die Gewinner der aktuellen Krise?
Die Konzerne. Auch in der Pandemie gab es einige Gewinner. So hat etwa der Lebensmittelhandel nicht zu den Verlierern gezählt. Jetzt wird europaweit von hunderten Milliarden Euro an Übergewinnen gesprochen. Und mit Übergewinnen sind jene Gewinne gemeint, mit denen die Unternehmen nicht gerechnet haben und bei denen auch nicht argumentiert werden kann, dass sie für Investitionen benötigt werden. Denn so viel investieren kann man gar nicht. Andere europäische Länder haben es zwischenzeitlich bereits vorgezeigt, dass es Möglichkeiten gibt, die Übergewinne abzuschöpfen, damit sie tatsächlich den Vielen zugutekommen. Das ist in Österreich ebenfalls nötig, wir werden dazu gemeinsam mit dem ÖGB ein Modell vorlegen.
Es kommt oft die Antwort, das sei eine Neid-Debatte. Was antworten Sie darauf?
Von mir aus kann jeder viel Geld haben. Das ist keine Neid-Debatte, besonders wenn ich in einem Land lebe, wo viele aktuell überlegen müssen, kann ich mir die Grundnahrungsmittel noch leisten, kann ich mir das Heizen noch leisten oder muss ich mit einem dicken Pulli zu Hause sitzen. Wir haben Beschäftigte, die einen 40 Stunden-Job haben und trotzdem nicht wissen, ob sie sich am 20. des Monats noch ein Brot kaufen können. Wer das als Neid-Debatte sieht, da verstehe ich die Welt nicht mehr. Denn gerade jetzt besteht der dringende Bedarf die Menschen zu entlasten und da ist auf der anderen Seite eben mitzudenken, wer es finanziert.
Oft liest man von Expert:innen, dass sich in zwei bis drei Jahren die Preise wieder normalisieren werden und bis dahin hieße es durchzuhalten. Ist das nicht ein sehr elitärer Ansatz?
Ehrlich ich weiß nicht, wie das mit den sich normalisierenden Preisen gemeint ist. Ich habe noch nie erlebt, dass die Preise irgendwann zurückgegangen sind, also Produkte billiger wurden. Daher müssen wir davon ausgehen, dass sie auf dieser Höhe bleiben oder noch höher werden. Die Frage ist dann, steigt das Einkommen der Menschen in gleichem Ausmaß oder bleiben wir weit, weit dahinter. Bleiben wir weit, weit dahinter, dann wird der Wohlstand in unserem Land immer weniger werden und wir sind bei der Frage, ob wir das wollen. Ich möchte das nicht. Wir sind noch immer eines der reichsten Länder, wir haben genug Geld, wir müssen es anders aufteilen.
Renate Anderl im Interview über den Sozialstaat
Am 3.8.2022 war Equal Pension Day, also jener Tag, an dem Männer bereits so viel Pension erhalten haben, wie Frauen erst bis zum Ende des Jahres erhalten werden. Die durchschnittliche Pension bei Frauen beträgt 1.239 Euro. Wie kommt es zu so niedrigen Pensionen und was ist zu ändern?
Wir sprechen immer davon, dass Frauen die niedrigste Pension haben. Wir müssen aber den Blick schon auf das Erwerbsleben der Frauen richten. Denn wenn ich im Erwerbsleben ein durchschnittliches Einkommen in der Höhe meines Partners habe, dann habe ich am Ende auch eine Pension, von der ich leben kann. Und es sind noch immer die Branchen mit hohem Frauenanteil, in denen am wenigsten bezahlt wird. Da stellt sich die Frage, was ist es uns wert, dass eine bestens ausgebildete Pädagogin auf unser wertvollstes Gut, das wir haben, unsere Kinder, aufpasst? Für mich viel zu wenig.
Daher müssen Frauen nicht nur einen gutbezahlten Job haben, unabhängig von der Branche, für die sie sich entscheiden, sondern auch jede Frau ein Anrecht auf eine Vollzeitstelle haben. Männern wird viel seltener bis gar nicht ein Teilzeitjob angeboten, bei Frauen ist es selbstverständlich. Ein weiterer Punkt, für den ich schon lange kämpfe ist, dass gerade Teilzeitkräfte kein Spielball der Wirtschaft sind. Jede Stunde, die eine Teilzeitkraft mehr arbeitet, muss auch als solche ausgeglichen werden. Davon sind wir weit entfernt. Heute ist es so, wenn viel zu tun ist arbeiten viele Teilzeitkräfte mehr und das Unternehmen erspart sich dadurch einiges. Für Teilzeitkraft gilt jedoch Drei-Monate-Durchrechnung. Sie wird wenn weniger zu tun ist, in Freizeit geschickt. Und damit ist sie ein Spielball der Wirtschaft. Es braucht einen Rechtsanspruch auf einen Kindergarten ab dem 1. Lebensjahr für jedes Kind, ähnlich wie für die Schule. Damit wird der Kreislauf ich bekomme einen Job nicht, weil ich keinen Kindergartenplatz habe und ich kriege keinen Kindergartenplatz, weil ich keinen Job habe, durchbrochen.
Damit sind wir beim Thema Sozialstaat, denn genau das wird nicht von alleine passieren. In unterschiedlichen Wellen wird in der marktliberalen Diskussion immer wieder versucht, den Sozialstaat klein zu reden, die Bedeutung abzusprechen. Was antwortworten Sie?
Der Sozialstaat wird bei vielen unterschätzt. Es hat bisher jeder in seinem Leben den Sozialstaat gebraucht. Denn das würde etwa bedeuten er war noch nie in seinem Leben krank und hat keine Schule besucht. Und gerade wenn man auf die Pandemiezeit zurückblickt, dann haben wir gesehen, was ein gut funktionierender Sozialstaat leistet und wie er uns durch die Krise geführt hat, etwa bei der medizinische Versorgung oder die Förderung und Unterstützung von Betrieben. Daher ist es jetzt vor dem Hintergrund von Klimakrise, Teuerung, Pandemie an der Zeit, dass wir den Sozialstaat nicht nur so wie wir ihn jetzt haben erhalten, sondern ihn weiter ausbauen, damit wir einen wirklich gut funktionierenden, finanziell abgesicherten, also den besten Sozialstaat haben.
Wie sieht der beste Sozialstaat aus?
Es ist der Sozialstaat, in dem ich mir persönlich keine Sorgen machen muss, dass ich unabhängig vom Geldbörsel, die besten Leistungen erhalte, wenn ich morgen krank werde und die beste Bildung ab dem ersten Lebensjahr erhalte. Der beste Sozialstaat sorgt dafür, dass es in unserem Land Armut einfach keinen Platz hat.
Die Aussichten für die kommenden Monate sind nicht rosig und es gibt bereits jetzt eine hohe Frustration in der Bevölkerung. Wie kann dieser Frustration entgegengewirkt werden?
Die Frustration kann ich nur dann wegbekommen, wenn wir eine Bundesregierung haben, die geschlossen auftritt und auch arbeitet. Jedes Mal, wenn ich die Zeitung aufschlage, lese ich wieder der Politiker hat dies getan, jene Politikerin jenes – egal von welcher Partei. Das macht die Menschen auch politikverdrossen und sie sagen, die sind eh alle zum Vergessen, da tut niemand was. Es wäre jetzt an der Zeit, dass die Politik beweist – und damit meine ich alle – dass sie in Krisenzeiten geschlossen etwas für das Land tun wollen. Das fehlt mir jetzt und in vielen Bereichen. Es geht dabei um Maßnahmen, die gesetzt werden, die auch bei den Menschen ankommen.
Die Diskussion um den Energiegutschein etwa, erinnert mich an die Pandemiezeit, wo wir in jedem Bundesland unterschiedliche Maßnahmen hatten. So ähnlich kommt es mir jetzt bei der Teuerung vor. Jeder macht sein Süppchen und jedes Bundesland schaut dann, wie kann ich in meinem Bundesland die Menschen entlasten. Aber genau das ist Aufgabe einer Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass für alle vom Bodensee bis zum Neusiedler See die gleichen Maßnahmen gelten.
Es gehört Ruhe hinein. Das gilt für alle Parteien. Denn wenn selbst aus einer Partei immer unterschiedliche Ideen kommen, wie jetzt etwa zu den Sanktionen gegen Russland. Das sind alles Diskussionen, die im Wohnzimmer geführt werden sollten, aber nicht, dass ich es in den Medien lese. Denn das verunsichert die Menschen, da es ganz viele gibt, die sich wirklich Sorgen machen, wie sie etwa im Winter heizen sollen, kann ich mir die Miete noch leisten und wo kann ich einsparen. Und wenn Menschen Ängste haben, gibt es mehr Unruhe. Daher ist es jetzt an der Zeit, dass wir für Stabilität sorgen. Zu zeigen, dass wir in diesem Land eine Bundesregierung und Politiker und Politikerinnen haben, denen tatsächlich die Menschen am Herzen liegen. Dieses Gefühl haben die Menschen im Moment nicht. Ich auch nicht.