„Das geht sich eben nicht aus, ganz einfach“

Portrait Renate Anderl Präsidentin der Arbeiterkammer im Interview
Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, im Interview über Inflation und Sozialstaat. | © AK/Alissar Najjar

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  1. Seite 1 - Inflation und kein Ende
  2. Seite 2 - Ein besserer Sozialstaat
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Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, bringt im Interview die Probleme der Inflation auf den Punkt. Und bietet Lösungen an.

Österreich ächzt unter der Inflation. Der österreichische Strompreisindex war im Juni 2022 mit einem Plus von 203 Prozent drei Mal so hoch wie im Vorjahr. Der Gaspreisindex um 424 Prozent höher als im Juni 2022. Diese Preisänderungen an den Großhandelsmärkten werden erst mit Verzögerung an die Haushaltskunden weitergegeben. Der Inflationsrate steigt und lag im Juni 2022 bei 9,3 Prozent, jene des Miniwarenkorbs, der den Wocheneinkauf abbildet, bei 19 Prozent. Die Sozialpartner:innen kämpfen lautstark für eine Entlastung. Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, erklärt im Interview mit Arbeit&Wirtschaft, wie diese Maßnahmen aussehen könnten.

Zur Person
Renate Anderl, Jahrgang 1962, ist Präsidentin der Arbeiterkammer. Die Wienerin wuchs im Stadtteil Favoriten auf. Im Jahr 1980 begann sie als Büroassistentin zu arbeiten und engagierte sich sowhl bei der Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie als auch als Betriebsrätin. Nach der Betriebsräte-Akademie wechselte sie im Jahr 2003 in die Funk­ti­on der Frauensekretärin. Nur fünf Jahre später wählten sie die Mitglieder zur Frauenvorsitzenden und zur stellvertretenden Vorsitzenden der PRO-GE. Seit Ende April 2018 ist Renate Anderl Präsidentin der AK Wien und der Bundesarbeitskammer.

Renate Anderl im großen Interview

Portrait Renate Anderl Interview über Sozialstaat und Inflation
Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft geht Renate Anderl auf nachhaltige Lösungen für die Krise ein. | © AK/Sebastian Philipp
Die Inflation hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Regierungsseitig wird auf Maßnahmen im Herbst verwiesen? Ist das nicht zu spät?

Es ist definitiv zu spät. Für die Politik ist es wirklich an der Zeit zu beweisen, dass sie handelt und den Menschen eine Entlastung anbietet. Wird jetzt nicht reagiert, dann besteht die Gefahr, dass sich Armut in unserem Land verfestigt. Aktuell ist es so ähnlich wie mit einem Brand, bei dem man zuschaut wie er entsteht und mit den Löschmaßnahmen wartet, bis er zu einem Flächenbrand geworden ist. Und unter Entlastung verstehen wir aber nicht Einmalzahlungen, denn eine Einmalzahlung wirkt nur einmal und ist nicht nachhaltig.

Wann hätte dieses Beobachten enden sollen?

Gestern. Denn die aktuelle Situation besteht nicht erst seit einer Woche. Spätestens seit dem Frühjahr wissen wir, dass die Teuerung nicht im nächsten Monat vorbei sein wird, ganz im Gegenteil. Alle Experten sagen, dass die Energiepreise nächstes Jahr noch einmal in die Höhe gehen werden. Das bedeutet aber, nächstes Jahr ist es ist zu spät. Denn dann gibt es den Flächenbrand. Es muss jetzt reagiert und Maßnahmen gesetzt werden, um den Funken, den wir haben, der eigentlich eh schon ein kleines Lagerfeuer ist, zu bekämpfen. Arbeiterkammer und ÖGB haben bereits im Frühjahr ihre Vorschläge gemeinsam mit den Sozialpartnern an die Regierung übermittelt. Die liegen noch immer dort und es wird nichts gemacht. Was wir jetzt nicht mehr hören wollen, ist, dass wir über bereits am Tisch liegende Maßnahmenpakete wieder diskutieren und es irgendwann eine Entscheidung gibt. Was wir nicht mehr hören wollen, ist, dass ein neuer Arbeitskreis eingerichtet wird.

Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Ganz einfach, die Bundesregierung muss in die Gänge kommen. Und es geht jetzt nicht darum, welcher Partei ich angehöre und wer die besseren Ideen hat. Es geht darum, dass die besten Ideen zur nachhaltigen Entlastung der Menschen auf den Tisch kommen. Die muss man diskutieren, über den eigenen Schatten springen, egal wo die beste Idee herkommt. Wenn sie die beste Idee ist, dann muss sie umgesetzt werden. Und es soll nicht darüber diskutiert werden, ob wir morgen dann wieder eine Gruppe einsetzen, die wieder darüber diskutiert, die dann beobachtet. Es muss gehandelt werden.

Das wäre beispielsweise?

Nehmen wir etwa die stark gestiegenen Preise für Heizöl, Benzin und Diesel an den Tankstellen in den vergangenen Monaten, wo wir mittlerweile wissen, dass es keine Preisabsprachen gab. Die Preiskommission etwa kann prüfen, ob der hohe Preisanstieg berechtigt ist oder nicht. Diesen Auftrag hat bisher kein Minister gegeben. Daher haben wir diese Woche in einen Brief an Wirtschaftsminister Kocher angekündigt, dass die Arbeiterkammer ein Preisprüfungsverfahren beantragen wird. Es wird spannend, ob der Minister das ernst nimmt, schnell ins Tun kommt oder wieder wartet und es am Schreibtisch liegen lässt.

Unterscheidet sich der Wille zum Handeln zu jenem in der Corona-Pandemie?

Als es in der Pandemie darum ging die Wirtschaft zu unterstützen, da hat man nicht sehr lange nachgedacht und den Betrieben Förderungen gegeben. Wir wussten, dass viel Überförderungen passiert und haben nicht den großen Aufschrei gemacht. Es war uns wichtig die Betriebe zu erhalten und die Arbeitsplätze zu sichern. Jetzt, wo es darum geht den Vielen zu helfen, fehlt uns der schnelle Entschluss. Lange Diskussionen über Ratenzahlungen bei Energiekosten, also die Kosten für Strom und Gas, werden das Problem nicht lösen.

Das durchschnittliche Bruttojahreseinkommen beträgt in manchen Bezirken Wiens rund 22.000 Euro. Wie soll sich das bei der hohen Inflationsrate für viele Haushalte ausgehen?

Das geht sich eben nicht aus, ganz einfach. Und es ist nicht so, dass wir nur zu den untersten Einkommensbezieher:innen hinschauen müssen oder zu jenen die Sozialleistungen beziehen. Mittlerweile sind die Auswirkungen der Teuerung in der sogenannten Mittelschicht angekommen. Es wird auch für jene mit einem Durchschnittseinkommen ein enormer Aufwand. Denn es gibt Grundbedürfnisse wie Wohnen, Heizen und Strom, bei denen man nicht sagen kann ich verzichte, ich brauche keine Wohnung mehr, im Winter heize ich nicht mehr. Das gleiche gilt für Grundnahrungsmittel. Es kann nicht sein, dass die Grundnahrungsmittel immer teurer werden und die Menschen nicht mehr wissen, ob sie sich die sprichwörtliche Butter aufs Brot schmieren können. Daher ist es ganz, ganz wichtig, dass wir jetzt agieren und Maßnahmen, wie den Energiepreisdeckel, gesetzt werden, die nachhaltig sind. Darunter verstehen wir jedoch nicht Einmalzahlungen, denn eine Einmalzahlung wirkt nur einmal und ist nicht nachhaltig.

Sie haben bereits den Energiepreisdeckel, also einen Preisdeckel für Strom und Gas angesprochen. Wie ist dieser umsetzbar?

Unser Modell geht vom Grundbedarf der letzten Monate zu einem günstigen Preis aus. Der darüberliegende Verbrauch wird zum Marktpreis verrechnet.  Das hat auch gleichzeitig den positiven Effekt, dass zum Energiesparen angeregt wird, denn alles war ich mehr brauche wird teurer. Bemühe ich mich aber die gleichen Energiekosten aufzuwenden, wie in den letzten zwölf Monaten, dann ist die Finanzierung leichter. Denn auch wenn jetzt vor allem über die Teuerung gesprochen wird, so haben wir noch immer das Thema des Klimawandels und das wird viel zu wenig angegangen.

Sie meinen, es fehle an umfassenden Maßnahmen?

Ja, denn neben den steigenden Energiepreisen sind gleichzeitig die Auswirkungen der Klimakrise in unserem Alltag angekommen, wie die letzten Wochen gezeigt haben. Das Klimathema muss daher bei jedem Bereich immer mitgedacht werden. Wie können wir den Umstieg auf eine gescheite Energie schaffen? Hat die Bevölkerung überhaupt die Chance etwa von einer Gasheizung auf Erdwärme umzusteigen? Haben wir genug Arbeitskräfte dafür? Denn wir merken etwa gerade, dass wir viel, viel mehr Arbeit hätten als Menschen, die diese ausführen. Es geht also um neue Berufe und Ausbildungen. Das fehlt uns. Und auch das ist ein Paket, bei dem die Bundesregierung sehr säumig ist und schön längst hätte in die Gänge kommen sollen.

Wie sieht es mit der Finanzierung der Maßnahmen aus? Wer zahlt das alles?

Diese Frage ist berechtigt. Meine Antwort: Die, die es haben. Leider diskutieren wir grundsätzlich immer über jene, die kein Geld haben und nicht mehr wissen wie es weitergeht und viel zu wenig über jene, die mehr haben. Denn ich glaube, wir haben in unserem Land viele potenzielle Zahler. Wir haben nicht nur mehr Millionäre als je zuvor, die nicht ärmer, sondern reicher geworden sind. Es gibt auch Konzerne, die plötzlich förmlich von Gewinnen erschlagen werden. Es würde bei ihnen – ich sage es sehr bewusst zu zugespitzt – nicht auffallen, wenn sie ein bisschen etwas abzweigen, um unseren Sozialstaat, der uns gut durch eine Krise geführt hat, weiter auszubauen. Denn es ist gerade jetzt an Zeit zu sagen, wenn wir dafür sorgen wollen, dass in unserem Land Armut kein Flächenbrand wird, dann sollen jene ihren Beitrag leisten, wo das Geld vorhanden ist.

Wer sind die Gewinner der aktuellen Krise?

Die Konzerne. Auch in der Pandemie gab es einige Gewinner. So hat etwa der Lebensmittelhandel nicht zu den Verlierern gezählt. Jetzt wird europaweit von hunderten Milliarden Euro an Übergewinnen gesprochen. Und mit Übergewinnen sind jene Gewinne gemeint, mit denen die Unternehmen nicht gerechnet haben und bei denen auch nicht argumentiert werden kann, dass sie für Investitionen benötigt werden. Denn so viel investieren kann man gar nicht. Andere europäische Länder haben es zwischenzeitlich bereits vorgezeigt, dass es Möglichkeiten gibt, die Übergewinne abzuschöpfen, damit sie tatsächlich den Vielen zugutekommen. Das ist in Österreich ebenfalls nötig, wir werden dazu gemeinsam mit dem ÖGB ein Modell vorlegen.

Es kommt oft die Antwort, das sei eine Neid-Debatte. Was antworten Sie darauf?

Von mir aus kann jeder viel Geld haben. Das ist keine Neid-Debatte, besonders wenn ich in einem Land lebe, wo viele aktuell überlegen müssen, kann ich mir die Grundnahrungsmittel noch leisten, kann ich mir das Heizen noch leisten oder muss ich mit einem dicken Pulli zu Hause sitzen. Wir haben Beschäftigte, die einen 40 Stunden-Job haben und trotzdem nicht wissen, ob sie sich am 20. des Monats noch ein Brot kaufen können. Wer das als Neid-Debatte sieht, da verstehe ich die Welt nicht mehr. Denn gerade jetzt besteht der dringende Bedarf die Menschen zu entlasten und da ist auf der anderen Seite eben mitzudenken, wer es finanziert.

Oft liest man von Expert:innen, dass sich in zwei bis drei Jahren die Preise wieder normalisieren werden und bis dahin hieße es durchzuhalten. Ist das nicht ein sehr elitärer Ansatz?

Ehrlich ich weiß nicht, wie das mit den sich normalisierenden Preisen gemeint ist. Ich habe noch nie erlebt, dass die Preise irgendwann zurückgegangen sind, also Produkte billiger wurden. Daher müssen wir davon ausgehen, dass sie auf dieser Höhe bleiben oder noch höher werden. Die Frage ist dann, steigt das Einkommen der Menschen in gleichem Ausmaß oder bleiben wir weit, weit dahinter. Bleiben wir weit, weit dahinter, dann wird der Wohlstand in unserem Land immer weniger werden und wir sind bei der Frage, ob wir das wollen. Ich möchte das nicht. Wir sind noch immer eines der reichsten Länder, wir haben genug Geld, wir müssen es anders aufteilen.

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Über den/die Autor:in

Eva Winterer

Eva Winterer ist Kommunikationsstrategin und war von 2022 bis 2023 Chefin vom Dienst der Arbeit&Wirtschaft.

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