Arbeit&Wirtschaft: Welche Gefahren gibt es für die österreichische Industrie in Hinblick auf Transformation und Dekarbonisierung?
Reinhold Binder: Die größte Gefahr wäre das Nichtstun, denn die Transformation ist voll im Gange. Wichtig ist, dass wir vor allem die Energieversorgung sicherstellen und die Kosten nicht aus dem Ruder laufen. Denn wenn man sich die Aufwandsstruktur der Unternehmen anschaut, dann ist der Materialaufwand mit den Energiekosten in den letzten zwei, drei Jahren stark gestiegen und verharrt auf einem hohen Niveau. In der Frage der Wettbewerbsfähigkeit gilt die Energie als großer Hebel, und zum Schaden aller blockieren sich die Regierungsparteien gegenseitig, zentrale Gesetze im Energiebereich sind ausständig.
Welche Gesetze zum Beispiel?
Etwa das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz, dessen Novellierung ansteht. Hier geht alles viel zu schleppend. Erst kurz vor der EU-Wahl und nachdem sich die Negativmeldungen aus der österreichischen Photovoltaik-Branche gehäuft hatten, ist die Regierung in die Gänge gekommen. Hätte man auf die Gewerkschaften gehört, die seit Langem einen stärkeren Fokus auf die regionale Wertschöpfung fordern, wäre mit dem „Made in Europe“-Bonus zum Beispiel der Abbau der Mitarbeiter:innen bei Fronius vermeidbar gewesen.
Alles so negativ?
Nein, gar nicht. Gerade hatten wir eine Betriebsrätekonferenz mit 1.000 Teilnehmer:innen in der Saline Ebensee. Da war eine unglaublich positive Stimmung. Ich sage immer, es gibt zwei Möglichkeiten, auf die sozial-ökologische Transformation und die Digitalisierung zu reagieren: entweder mit Angst oder mit Anpacken. Wir müssen die jungen Leute richtig ausbilden und die Arbeitnehmer:innen, die jetzt schon im Bestand sind, fortlaufend qualifizieren. Und wir müssen die Möglichkeiten nützen, die die Transformation etwa für Leute bietet, die nach 40 Jahren Schichtarbeit weniger belastende Arbeiten verrichten wollen. Die Konferenz in der Saline war auch ob des Ortes so beeindruckend: In der Region findet seit 8.000 Jahren Salzabbau statt, also gemeinschaftlich verrichtete, fast hochproduktive Arbeit. Was für eine Produktionsgeschichte, aber auch Innovationsgeschichte!
Also nicht nur nach den Gefahren der Transformation fragen, sondern nach den Chancen?
Mir geht es um die Zukunftssicherung für die Arbeitnehmer:innen. Dazu braucht es Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in Aus- und Weiterbildung. Der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft ist eine enorme Herausforderung, aber er wird sich bezahlt machen. Investments der öffentlichen Hand in klimafreundliche Infrastruktur wie zum Beispiel den Schienenverkehr werden Zigtausende Arbeitsplätze in der Industrie und im Bau entstehen lassen.
Was bedeutet Industriepolitik in diesem Zusammenhang?
Österreich hat derzeit keine Industriestrategie. Das ist politisch höchst verantwortungslos, denn bis zu 1,5 Millionen Arbeitnehmer:innen sind in Österreich direkt in der Industrie beschäftigt, oder ihre Arbeitsplätze hängen an der Industrie. Mir geht es um eine vorausschauende Industrie- und Standortpolitik, die den Fokus darauf richtet, die Wertschöpfung in Europa zu generieren. Es geht darum, Zukunftssektoren aufzubauen und den Umbau der bestehenden Industrien sozial verträglich zu gestalten.
Also eine Strategie mit Weitblick?
Im Grunde braucht es eine Standortpolitik für 2040.
Ist es denn wirklich denkbar und möglich, Industrien hierher zurückzuholen, etwa die Produktion von Solaranlagen, Windrädern usw.? Diese Güter werden ja längst woanders wettbewerbsfähiger produziert. Kann man da überhaupt mithalten?
Gerade im Photovoltaikbereich haben wir bisher lenkungspolitisch dumm agiert. 90 Prozent der Anlagen kommen mittlerweile aus China, und diese werden doppelt subventioniert: einmal vom chinesischen Staat und einmal von Österreich. Mit dem Geld der heimischen Steuerzahler:innen fördern wir also Arbeitsplätze im Ausland. Das muss nicht sein, denn wenn wir Förderungen und öffentliche Vergaben an die regionale Wertschöpfung knüpfen oder bei Produkten einen Mindestanteil an Komponenten aus Europa festschreiben, dann ist das Teil einer aktiven Standortpolitik.
Würde das die Produkte nicht verteuern?
Österreich soll sich nicht zu einem Billigstlohnland entwickeln. Mir geht es darum, dass die Arbeitnehmer:innen in Österreich genug verdienen, um sich ein anständiges Leben leisten zu können.
Aber die Globalisierung werden wir nicht zurückdrehen …
Unsere Stärke liegt darin, produktiver, qualifizierter, effizienter zu produzieren. Dazu kommen der soziale Friede, das funktionierende Gesundheitssystem, eine hervorragende Infrastruktur. Das sind die Qualitätsschlüssel unseres Industriestandorts. Es gibt diesen Leitspruch: „Ängste nehmen und Chancen nützen.“ Genau darum geht es, etwa auch in der Autoindustrie. Es ist völlig klar, dass in den kommenden Jahrzehnten die Verbrennungsmotoren stark zurückgehen werden. Deshalb braucht die Industrie bei der Transformation Planungssicherheit, stattdessen macht der Kanzler schlagzeilenträchtige „Verbrennergipfel“. Das verunsichert alle: die Beschäftigten, die Konsument:innen, die Investor:innen.
Welche Beispiele gibt es dafür, wie man vorausschauend Industriepolitik in dieser Hinsicht machen kann?
Konzerne wie Infineon investieren nicht aus Nächstenliebe in Österreich oder weil die Seen und Berge so schön sind. Ein wichtiger Standortvorteil Österreichs sind die gut ausgebildeten Fachkräfte. Das ist der Schatz der Unternehmen. Allerdings ist etwa die Anzahl der Ausbildungsbetriebe im Bereich der Elektrotechnik weiterhin zu niedrig.
Viele Beschäftigte haben Angst, dass sie durch die Transformation ihre Arbeit verlieren, aber auch, dass sie ihre Konsumgewohnheiten umstellen müssen und ihre Autos teurer werden, dass man sie zum Einbau neuer Heizungen zwingt oder ihre Häuser an Wert verlieren, wenn diese strengeren Energieeffizienz-Vorgaben nicht mehr entsprechen.
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Darum macht mich die ständige Angstmacherei vor allem vonseiten der Wirtschaftsvertreter:innen auch so wütend. Es braucht einen Schulterschluss der Politik mit den Sozialpartner:innen, um die Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Wir brauchen Perspektiven, etwa die Vereinfachung von Fördermaßnahmen, damit eine Heizungsumstellung für mehr Haushalte zu stemmen ist.
Oft ist von Klimapolitik „mit dem erhobenen Zeigefinger“ die Rede: Was wäre eine Klimapolitik ohne erhobenen Zeigefinger?
Eine solche Klimapolitik müsste glaubhaft vermitteln: Ja, wir müssen unseren Lebensraum schützen und erhalten. Ja, dazu gehört Klimaschutz. Aber dazu gehören auch gute Arbeitsbedingungen und gut bezahlte Arbeitsplätze.
Erneuerbare Energien bieten die Chance auf günstigen Strom, günstiges Heizen. Gerade in Zeiten der Kostenkrise, in denen steigende Rechnungen den Menschen Angst machen, wäre das ja ein gutes Argument. Man hört es aber sehr selten.
Und unabhängig machen wir uns noch dazu! Wir haben in Österreich alleine 170 Unternehmen nur im Bereich der Windenergie. Natürlich kosten Investitionen in die Transformation Milliarden. Aber Öl, Benzin und Gas sind, wie wir heute wissen, ja tendenziell sehr teure Energien, und wir sind Spielball der Märkte und von Autokratien.
Der Soziologe Steffen Mau behauptet: Klimakampf ist Klassenkampf. Die Arbeiter:innenklasse zieht nicht den Umbau in Zweifel, sondern fürchtet die wirtschaftlichen Risiken. Ist das eine richtige Diagnose?
Ich muss Klimapolitik mit arbeitsmarktpolitischen und sozialen Fragen verbinden. Ich muss wie bei der Digitalisierung den Menschen in den Mittelpunkt stellen, sonst wird die Transformation nicht gelingen. Tue ich das nicht, dann ist die Diagnose richtig, und die Zukunftsangst vieler wird in eine Abwehrhaltung münden.
Kann der Umbau sogar ein „Jobmotor“ sein, wie es im jüngsten „Umbauplan“ der Arbeiterkammer zu lesen ist?
Ja, die Chancen dafür sind gegeben. Bedingung dafür ist, dass dieser Transformationsprozess gut durch die öffentliche Hand begleitet wird und Investitionen in eine klimafreundliche Infrastruktur erfolgen.
Wie schafft man da Vertrauen?
Dazu muss die Politik das Heft in die Hand nehmen, den Unternehmen Leitplanken und den Arbeitnehmer:innen Perspektiven geben. Wenn ich Arbeitnehmer:innen aber nur als teuren Kostenfaktor sehe und ständig gegen die sozialen Sicherungssysteme wettere, dann wird es nichts mit dem Vertrauen. Daher weg vom Prinzip Angst, hin zum Prinzip Hoffnung.
Wie ist das Verhältnis von öffentlichen Investitionen und individueller Konsumanpassung? Müssen wir nicht auch Verzicht üben?
Öffentliche Investitionen sind das Um und Auf. Denken wir an den notwendigen Ausbau des öffentlichen Verkehrs oder des Stromnetzes. Das wird ohne eine gemeinsame Anstrengung nicht funktionieren, ist aber Voraussetzung dafür, dass Haushalte, Pendler:innen oder auch Urlaubsreisende konkrete Alternativen haben.
Vor Wahlen passiert es immer wieder: Debatten über den Wirtschaftsstandort Österreich kochen hoch. Doch was ist dran am Lamentieren? Wie steht es wirklich um den #Standort?
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Die 1970er-Jahre, als wir einmal pro Jahr Urlaub in Caorle oder in Kroatien machten, waren herrlich – aber man hat sich an die Fernreisen eben auch gewöhnt.
Die Gesellschaft verändert sich: Was früher war oder heute ist, kann in zehn Jahren anders sein. Verstehen Sie mich nicht falsch, alle sollen sich ihren Urlaub leisten. Wenn aber das Ticket im Billigflieger nach Mallorca weniger kostet als das Zugticket von Linz nach Innsbruck, dann stimmt was nicht. Es ist also weniger eine Frage der Gewohnheit, sondern eine Folge des Preiskampfes im Tourismus und im Luftverkehr. Dieser Kampf um Marktanteile ist weder kostendeckend, noch hilft er den Mitarbeiter:innen der Airlines, noch ist er für das Klima sinnvoll. Da braucht es mehr Bewusstsein.
Welche Rolle spielt es, dass Klima – so wie Gendern, Vegetarismus oder anderes – zu einem „Kulturkampf“-Thema aufgebauscht wird, das die Leute aufregt?
Es geht um Klimapolitik, die gemeinsam mit den Menschen und nicht gegen die Menschen gemacht wird. Was soll sich denn ein Schichtarbeiter denken, der sein Auto braucht, um täglich 40 Kilometer oder mehr zur Firma zu fahren? Welche Alternativen hat er? Man muss die Diskussionen so führen und Veränderungen so gestalten, dass die Lebensrealitäten der Menschen berücksichtigt werden.
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