Aus Sicht der Arbeitnehmer:innen in Deutschland war vor allem interessant, wie weit sich die Freien Demokraten (FDP) durchsetzen können. Die neoliberale Partei gilt als extrem wirtschaftsfreundlich und erhielt 11,5 Prozent der Stimmen. Dafür gab es das Finanz-, Wirtschafts-, Bildungs- und Verkehrsministerium. Vor allem Letzteres wurde als Niederlage der Grünen (14,8 Prozent) gedeutet.
Die Postenvergabe mag populär sein, wichtiger sind allerdings die Inhalte. Die Sozialdemokratische Partei (SPD, 25,7 Prozent) und die Grünen standen hier gleich dreifach in der Pflicht. Erstens ist die aktuelle Regierung die letzte, die noch Maßnahmen umsetzen kann, mit denen die Klimaziele für das Jahr 2030 erreicht werden können, was für die Grünen ein zentrales Wahlkampfthema war. Zweitens muss ein sozialverträglicher Strukturwandel in die Wege geleitet werden. Und drittens haben sich beide Parteien in den vergangenen Jahren unterschiedlich deutlich von den Hartz-4-Reformen distanziert und mussten deswegen entsprechende Gegenmaßnahmen präsentieren. Im Jahr 2002 hatte eine Rot-Grüne-Regierung diese durchgesetzt und damit den Niedriglohnsektor massiv ausgebaut.
Deutsche Ampel-Koalition will Hartz 4 beenden
Und tatsächlich steht im Koalitionsvertrag, dass die bisherige Grundsicherung (Hartz IV) durch ein Bürgergeld ersetzt werden soll. Es soll „die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“ Um das zu erreichen wird die Leistung gewährt, ohne in den ersten beiden Jahren das Vermögen anzurechnen. Gleichzeitig soll das Schonvermögen erhöht und dessen Überprüfung weniger bürokratisch funktionieren. Immerhin. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) reagiert allerdings zurückhaltend. Der Schritt sei zu begrüßen, wenn er denn richtig gemacht werden würde.
Völlig verfehlt ist hingegen die Anhebung der Hinzuverdienstgrenze von Minijobs. Minijobs sind für viele Menschen – vor allem für Frauen – eine Falle und verdrängen sozial abgesicherte Arbeitsplätze. Der DGB fordert stattdessen seit langem eine Minijobreform, mit der die kleinen Teilzeitarbeitsverhältnisse von Anfang an in die Sozialversicherung einbezogen werden.
DGB in einer Analyse
Deutlicher wird der DGB bei einem anderen Thema im Zusammenhang mit Hartz 4: „Völlig verfehlt ist hingegen die Anhebung der Hinzuverdienstgrenze von Minijobs.“ Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass die Einkommensgrenze von 450 Euro auf 520 Euro erhöht wird. „Minijobs sind für viele Menschen – vor allem für Frauen – eine Falle und verdrängen sozial abgesicherte Arbeitsplätze. Der DGB fordert stattdessen seit langem eine Minijobreform, mit der die kleinen Teilzeitarbeitsverhältnisse von Anfang an in die Sozialversicherung einbezogen werden.“
Mindestlohn, Tariftreue und Strukturwandel
Auch beim Mindestlohn ist der DGB noch gespalten. Den erhöht die neue Bundesregierung zwar auf 12 Euro pro Stunde und möchte zusätzlich, dass eine unabhängige Mindestlohnkommission über weitere Erhöhungsschritte berät, doch aus Sicht des DGB bleibt ein zentrales Problem bestehen: Auszubildende, Pflichtpraktikanten, Freiberufler, Selbstständige, Langzeitarbeitslose und Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung haben weiterhin keinen Anspruch auf den Mindestlohn.
Den Arbeitnehmer:innen-Vertretungen stärkt der aktuelle Koalitionsvertrag den Rücken. Die Einhaltung eines Tarifvertrages ist zukünftig Voraussetzung dafür, öffentliche Aufträge zu bekommen. Die Debatte zum sogenannten „Tariftreuegesetz“ wird seit Jahrzehnten in Deutschland geführt und hat zu diversen Regelungen und Verwaltungsvorschriften in den einzelnen Bundesländern geführt. Erschwert wird die Situation durch ein steiles Gehaltsgefälle zwischen Ost- und Westdeutschland. Die neue Koalition möchte das Bundestariftreuegesetz jetzt stärken, was „für Millionen Beschäftigte höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen bedeuten wird“, kommentiert der DGB.
Die sozial-ökologische Transformation und die Digitalisierung kann nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirksam gestaltet werden.
DGB in einer Analyse
Auch in Sachen Strukturwandel lässt die neue Koalition in Deutschland mit einem klaren Bekenntnis aufhorchen. So heißt es im Koalitionsvertrag: „Die sozial-ökologische Transformation und die Digitalisierung kann nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirksam gestaltet werden.“ Zu diesem Zweck soll ein „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ beschlossen werden. Der DGB reagiert auf diese Einladung zur Zusammenarbeit aber eher zurückhaltend. Dieses Bekenntnis sei zwar richtig, müsse aber rasch in konkrete Politik umgesetzt werden. Auch das ist natürlich richtig, aber eben doch äußerst distanziert gemessen an der artikulierten Bereitschaft der Bundesregierung.
Betriebsratsgründungen verhindern wird strafbar
Zumal die neue Koalition den Gewerkschaften auch noch in zwei weiteren Punkten zur Seite springt. Ein großes Problem ist es beispielsweise, dass in Deutschland Mitbestimmungsrechte umgangen werden, indem Unternehmen zu sogenannten Europäischen Aktiengesellschaften (SE) gemacht werden. Bislang nutzen Konzerne hierbei nämlich den „Einfriereffekt“. Wird ein deutsches Unternehmen zu einer SE, gilt weiterhin der Mitbestimmungsstatus, der zum Zeitpunkt der Firmenumwandlung galt. Ganz egal, wie sehr die Firma wächst und welche Unternehmen noch zugekauft werden.
Der Koalitionsvertrag dazu: „Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt).“ Wie groß der Einfluss der Bundesregierung darauf tatsächlich ist und wieviel davon Europapolitik ist – wo Beschlüsse innerhalb der Mitgliedsstaaten einstimmig gefällt werden müssen – bleibt allerdings abzuwarten.
Die zweite wichtige Ankündigung richtet sich gegen die Behinderung der Gründung von Betriebsräten. Das ist ab sofort ein „Offizialdelikt“. Hinter diesem Amtsdeutsch verbirgt sich, dass es sich zukünftig um eine Straftat handelt, die von der Staatsanwaltschaft verfolgt wird, sollte ein Firma aktiv die demokratische Mitbestimmung im Unternehmen verhindern.
Schuldenbremse statt Investitionsoffensive
Was der DGB im neuen Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung hingegen vermisst, ist eine klare Bezifferung der Investitionen in den Strukturwandel. „Die wesentlichen Felder dafür sind im Vertrag skizziert und seit langem bekannt: massiver Ausbau erneuerbarer Energien, Energieeffizienz und digitale Infrastruktur, Verkehrsinfrastruktur und andere Bereiche“, analysiert der DGB. Statt jedoch Summen zu nennen – deren Größenordnung klar sein sollte – hat die Koalition beschlossen, im Jahr 2023 zur Schuldenbremse zurückzukehren. Damit „nimmt sich die neue Bundesregierung den finanziellen Spielraum, den sie dringend braucht, um massiv zu investieren, die Wirtschaft zu dekarbonisieren und unser Land zukunftsfest zu machen.“
Mit der Rückkehr zur Schuldenbremse nimmt sich die neue Bundesregierung den finanziellen Spielraum, den sie dringend braucht, um massiv zu investieren, die Wirtschaft zu dekarbonisieren und unser Land zukunftsfest zu machen.
DGB in einer Analyse
Immerhin hält die Regierung allerdings fest, alle „nötigen Zukunftsinvestitionen zu gewährleisten, insbesondere in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie die Infrastruktur, auch um die deutsche Wirtschaft zukunftsfest und nachhaltig aufzustellen und Arbeitsplätze zu sichern.“ Wie schon bei der Regierungsbildung selbst wird sie sich auch hier an den Taten messen lassen müssen. Immerhin: Die erste Amtshandlung von Christian Lindner (FDP, Finanzminister) war ein Nachtragshaushalt. Darin enthalten sind 60 Milliarden Euro neue Schulden, die der Bund nicht braucht und die direkt in die Aufstockung der Transformations- und Klimafonds fließen.