„Wir müssen aus vergangenen Krisen lernen und auf innovative, progressive und nachhaltige Lösungen setzen. Nur so schaffen wir langfristig Stabilität und Sicherheit“, antwortet Europa-Abgeordnete Evelyn Regner auf die Frage nach der Zukunft der EU. Ganz ähnlich klingt auch Oliver Röpke: „Arbeitnehmer:innen erwarten von der EU vor allem Sicherheit: nämlich sichere und hochwertige Arbeitsplätze mit fairen Löhnen anstelle eines Wettbewerbs um die niedrigsten Standards.“ Dabei gelte es, ökonomische Leistungsfähigkeit, Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie niedrige Gehälter schrittweise anzuheben, unterstreicht der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA). „Europa muss sich für seine Bürgerinnen und Bürger rechnen – sonst wird es scheitern“, bringt es WIFO-Chef Gabriel Felbermayr auf den Punkt.
Gewerkschaften müssen in die Offensive gehen
Es scheint, als ob sich Regner und Röpke an Robert Schuman orientieren, dem Pionier der europäischen Integration, der in seiner Erklärung vom 9. Mai 1950 Folgendes formulierte: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Taten schaffen.“
An der Weiterentwicklung und Verbesserung der „konkreten Tatsachen“, an dem realistisch-pragmatischen Weg der Zukunftsbewältigung, halten Gesprächspartner:innen auch heute noch fest. Handfestes und keine Versprechen aus der Fantasiewelt: Das ist es, worum es den Praktiker:innen in der europäischen Politik geht. Unbeirrt verfolgt EWSA-Präsident Röpke das Ziel, Europa sozialer zu machen. Denn: „Vor dem Hintergrund neuer politischer Mehrheitsverhältnisse und des Erstarkens populistischer und rechtsextremer Kräfte ist es wichtiger denn je, dass Gewerkschaften europaweit in die Offensive gehen“, sagt er. Das Soziale dürfe nicht von der politischen Agenda der EU rutschen, weil es integraler Teil der europäischen Wettbewerbsfähigkeit sei. „Nur so können wir auf dem globalen Markt mithalten.“
Klare Prioritäten für die Zukunft der EU
Evelyn Regner will künftig besonders darauf achten, dass EU-Richtlinien für Frauen und Beschäftigung von den nationalen Regierungen vollständig umgesetzt werden: die Schließung des noch immer bestehenden geschlechtsspezifischen Lohngefälles, die Frauenquote in Aufsichtsräten oder die Einhaltung aller Regeln des Lieferkettengesetzes. Ganz oben auf ihrer Prioritätenliste steht der Zugang zu leistbarem und sozialem Wohnraum für alle. Dafür gibt es künftig einen EU-Kommissar, der sich auch um die Kosten für erschwingliches Wohnen kümmern soll. Und da sich die Schere zwischen Arm und Reich Jahr für Jahr weiter öffnet, verlangt Regner eine Entlastung von Frauen und Familien. Mindestens 20 Milliarden Euro aus dem Europäischen Sozialfonds brauche es in den nächsten Jahren für den Ausbau der sogenannten Kindergarantie im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Ein kleines Privileg solle, wenn es nach der EU-Abgeordneten geht, auch für Unternehmen geschaffen werden, die gute und nachhaltige Arbeitsplätze schaffen: Sie sollten bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugt werden.
Höheres Budget nötig
Die EU ist kein Staat mit Steuereinnahmen, der EU-Haushalt macht nur rund ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts aller 27 Mitgliedsländer aus. Für 2024 einigten sich Rat und EU-Parlament auf ein Budget von 189,4 Milliarden Euro. EWSA-Präsident Röpke fragt, wie die EU fit für die Zukunft werden soll, wenn die Devise „Sparen“ lautet und Schuldenabbau das Gebot der Stunde vieler Regierungen ist. „Nur mit Schuldenbremsen in den einzelnen Mitgliedsländern werden wir die Anpassungen an zukünftige Herausforderungen sicherlich nicht schaffen“, erklärt er. Die Automatisierung und der Einsatz künstlicher Intelligenz würden den Arbeitsmarkt verändern. Der Preis dafür sei hoch, er könne nur bezahlt werden, wenn es „eine funktionierende Sozialpartnerschaft und eine hohe Kollektivvertragsdichte gibt“.
Mehr finanzielle Mittel für den EU-Haushalt brauche es auch laut aktuellem Bericht des ehemaligen EZB-Chefs und italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi. Darin ist die Rede von zusätzlich notwendigen Investitionen in Höhe von 800 Milliarden Euro – und das jährlich. Diese Summe bräuchte die EU, um ihre Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen. Für Draghi geht es jetzt um nichts weniger als um „Europas Existenz“. Ein Teil dieser Summe könnte aus der Privatwirtschaft kommen, ein anderer müsste durch öffentliche Investitionen gesichert werden. Vorstellbar seien für ihn auch gemeinsame EU-Schulden. Seit dem Corona-Wiederaufbaufonds, der den Mitgliedstaaten Zuschüsse und Darlehen auf Basis von gemeinsam getragenen Schulden bietet, sind neue Schuldtitel für viele EU-Regierungen allerdings ein No-Go.
Einigkeit über Europas Zukunft gibt es in einem Punkt: Der Weg aus der Krisenzeit kann nur ein gemeinsamer sein. Und er wird – wieder einmal – im Wettstreit zwischen europäischem Denken, nationalen Interessen und ideologischen Standpunkten entschieden. Vielleicht schafft man es, in Zeiten fehlender gemeinsamer Visionen zumindest Schumans „Solidarität der Taten“ umzusetzen – die bräuchte es jetzt dringend.
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