Sämtliche Lebensumstände
Doch ist das wirklich neu? „Schwarze Listen“ gibt es immerhin schon seit den 1960er-Jahren. Sich auf die Selbstauskünfte der KonsumentInnen, die Erfahrungen von BankmitarbeiterInnen und Warnlisten über säumige SchuldnerInnen und gemeldete Insolvenzen zu verlassen: Das war gestern.
Heute geht man über simple Negativdatensammlungen weit hinaus. Nicht mehr die bisherige Zahlungsmoral steht im Fokus, sondern sämtliche Lebensumstände einer Person. Es wird nicht nur zurückgeblickt, sondern auch vorausgeschaut. Ist in der Praxis schon die Rückschau fehleranfällig, so gilt das für Prognosen umso mehr.
Ganze Bevölkerungsgruppen werden statistisch klassifiziert und (aus-)sortiert. Hinzu kommt der internationale Trend, Scorings mit sensiblen Informationen anzureichern, die nicht für Bonitätsbewertungen gedacht sind, wie etwa Facebook-Einträge. Es ist besorgniserregend, dass heute grundsätzlich alle Verhaltensmerkmale einer Person von Interesse sind, unendlich viele statistische Annahmen in die Bewertungen einfließen können, Bewertungen hochgradig automatisiert vorgenommen werden, von Menschen nur schwer beeinflussbar sind und sich die verfügbaren Datenmengen dramatisch vergrößert haben. So kann von Handy-Standortdaten auf den Lebenswandel geschlossen werden (Mobilität, Beziehungsverhalten, Nachtruhe).
Der Lebensstil ermöglicht statistische Aussagen darüber, ob Sie in drei Jahren noch einen Arbeitsplatz und einen gemeinsamen Ehehaushalt haben werden. Dies wiederum beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, ob eine Schuld zurückgezahlt werden kann, so die Annahme.
Soziale Folgen
Vor dem Hintergrund einer globalisierten Marktwirtschaft, prekären Arbeitsverhältnissen und einer starken Individualisierung verändert sich die Beziehung zwischen Anbietern und KonsumentInnen. Nun wird versucht, die daraus entstehenden Unsicherheiten nach Versicherungslogik zu umgehen. Soziale Interaktion tritt in den Hintergrund und macht kühlem Risikomanagement Platz.
Anstelle von Anstrengungen, gesellschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen, wird ihre finanzmathematische Kalkulation verfeinert. Es lässt sich ein Trend zur übertriebenen Absicherungsgesellschaft beobachten, wenn Onlinehändler bei „Allerwelts“-Bestellungen zu Bonitätschecks greifen.
Rechtliche Probleme
Dabei führen statistische Klassifizierungen realer Menschen unvermeidbar zu ethischen und rechtlichen Problemen: Die vielen Facetten der Wirklichkeit lassen sich nicht in Zahlenwerten ausdrücken. Mit Scorings ist die Gefahr stereotyper Diskriminierung verbunden. Dies illustriert etwa der Fall eines gut situierten Angestellten, dem eine Kreditkarte verweigert wurde, weil er am falschen Ort (in der Nähe einer Wohnhausanlage mit sozial schwachen MieterInnen) wohnt.
Den VerbraucherInnen ist in der Regel nicht bekannt, wo Scoring eingesetzt wird, geschweige denn, welches Verfahren angewendet wird, welcher praktische Ablauf dahintersteckt, welche Variablen verwendet und wie diese gewichtet werden. Meist erfahren Betroffene nicht einmal ihren tatsächlichen Score.
Die komplexen Modelle haben den Anschein wissenschaftlicher Exaktheit. Aber selbst unternehmensintern gibt es immer nur wenige Personen, die die Berechnungen nachvollziehen oder in sie eingreifen können. Die Verschiebung der Entscheidungsgewalt vom KundInnenbetreuungspersonal zur Technik wird mit der Objektivierung der Entscheidung (schein-)legitimiert. Im Regierungsübereinkommen wurden Regeln fürs Scoring vereinbart. Denn die Tätigkeit von Wirtschaftsauskunfteien ist nur dürftig geregelt. Aufgrund der hohen Intransparenz der Branche wird das Ausmaß des Regulierungsbedarfs nur in Ausnahmefällen sichtbar.
Eine präzise Regulierung und Aufsicht über Scoring wäre aber aus Sicht der KonsumentInnen wichtig: Betroffene sollten über die Faktoren, die in ihre Bonitätsbewertung einfließen, informiert werden. Berechnungsmethoden sollten durch unabhängige Aufsichtsstellen auf ihre wissenschaftliche Haltbarkeit geprüft werden.
Einschränkungen
Die Datensammlung muss sich auf unmittelbar bonitätsrelevante Daten beschränken. Daten, die zweckfremd erhoben wurden (z. B. Facebook-Informationen), dürfen nicht in Scoring-Modellen verarbeitet werden. Dienste, die zum grundlegenden Lebensstandard von Menschen in Österreich gehören, sind von umfassenden Bonitätsbewertungen auszunehmen.
Linktipps:
Studie „Credit Scoring in Österreich“
ARGE DATEN: „Wege aus der Scoringfalle“
Daniela Zimmer
Abteilung Konsumentenpolitik der AK Wien
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/17.
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