Wie prekäre Arbeitsplätze entstehen
Das blitzsaubere Büro hat zu einem Preis und ist der Startpunkt einer Lieferkette des Prekariats. „Es gibt Dienste, die fangen um sechs Uhr in der Früh an“, erzählt Maria K. (Name der Redaktion bekannt), Betriebsrätin in der Reinigungsbranche, „Private Firmen im Bereich Objektreinigung verlangen, dass zwei Stunden in der Früh geputzt wird, die Beschäftigten dann Freizeit haben und dann wieder zwei Stunden woanders gereinigt wird.“ Bei kleineren Firmen, so die Betriebsrätin, „wird nach Strich und Faden beschissen. Kein Fahrkostenersatz, keine zusammenhängenden Dienste, stets den mindest-möglichen Lohn.“ Die Frage sei auch, was das erwartete Leistungsspektrum ist. Gemäß der Vorgaben hätte man nur wenige Minuten, ein Büro zu reinigen. Das erhöhe den Druck.
Ein Blick etwa auf Plattformen, die Reinigungskräfte vermitteln wird auf den ersten Blick deutlich, was für die gesamte Branche zutrifft: der Beruf ist weiblich und migrantisch. Betriebsrätin K. geht es daher um den Zugang zur Reinigung als Beruf. Zwar ist Reinigungstechnik ein Lehrberuf, aber hoch angesehen ist man nicht. „Du tust nur reinigen? Das fragen viele. Man muss, gerade in Bereichen wie im Krankenhaus oder in Laboren, viel Wissen darüber haben, welche Mittel verwendet werden können und welche nicht“, führt sie aus.
In medizinischen Einrichtungen, so die Betriebsrätin, sei es aber generell besser als außerhalb. Zwar gebe es auch dort nicht so viele Vollzeitstellen, aber die Dienste sind durchgehend und dank Dienstplänen planbar, das gilt ebenso für Nachtschichten oder Bereitschaftsdienste. Im privaten Bereich wiederum werde oft schwarz gezahlt. K. betont: „Leider ist es auch so, dass in der Gesellschaft davon ausgegangen wird, dass man sowieso „nur“ eine Putzfrau. Man sieht es ja nicht, wenn in der Nacht gereinigt wird. Man ist ja immer alleine. Wir müssten mal zum Stillstand kommen, dann würden viele in ihrem eigenen Dreck ersticken.“
Mahlzeit mit fahlem Beigeschmack
Ein Mittagessen selber besorgen, das geht sich zwischen Calls, Meetings und Deadlines nicht aus. Also muss bestellt werden, das Smartphone reicht und schon kommt alles, was man will. Pizza, Burger, Chinesisch oder Thai haben aber einen fahlen Beigeschmack. Bei einem bekannten Essenszusteller sind laut der Betriebsrätin Adele Siegl, Betriebsrätin bei mjam, 90 Prozent der Zusteller:innen freie Dienstnehmer:innen. „Sie bekommen pro Bestellung bzw. Kilometer bezahlt, müssen Honorarnoten stellen“, sagt sie. Hinzu kommen noch Logistikpartner und meist undurchsichtig ausgestaltet, über ein Netz an Subunternehmen aufgebaute Firmenkonstrukute die den Druck auf die Zusteller:innen erhöhen. Das ist nicht allerorts so. Aber: „Es ist ein Ausnutzen rechtlicher Grauzonen, die Freiheit führt zur Selbstausbeutung.“, so die Betriebsrätin.
Prekäre Arbeitsplätze am Limit
Die Kund:innen selbst bekommen davon wenig mit. Natürlich gibt es noch große Zusteller:innen, die angestellte Rider:innen hätten, aber das Essen kommt eben auch per Auto oder Moped. Die Arbeitsmittel würden sich jene, die nicht fest angestellt sind, selber zahlen. Der Job hätte zwar gute Seiten – man arbeitet an der frischen Luft, hat unter Umständen eine freie Zeiteinteilung – aber die Probleme liegen tiefer. „Es gibt eine große Ausfallquote. Man könnte auch weniger Leute beschäftigen, die in geordneten Schichten arbeiten lassen. Man bräuchte weniger Equipment wie Rucksäcke. Es gebe Einsparungsmöglichkeiten, es würde sich lohnen, man müsste nicht ständig neue Leute einstellen.
Monatlich fangen viele neue an, viele gehen.“ Warum sich diese Selbstausbeutung mit bei freien Dienstnehmer:innen bis zu 60 Arbeitsstunden und mehr in der Woche ausgeht? „Es ist schlicht billiger, manche sagen, es wäre der Tod der Branche, wenn alle angestellt wären und das Arbeitsrecht inklusive Entgeltfortzahlung, Kündigungsfristen und Co. eingehalten würde“, meint sie. Am Ende verdienen die großen Plattformen, aber sie müssen noch aufgrund von viel Investorengeld keinen Gewinn machen. Das zerstöre zudem den lokalen Markt. Seidl weiß aber auch: „Die Kund:innen wollen die Flexibilität.“
Wenn aus Care-Arbeit prekäre Arbeitsplätze werden
Gleichzeitig erfüllen untertags nicht so gut entlohnte Pädagog:innen – die etwa im Hortbereich kaum Vollzeitstellen erhalten – Bildungsarbeit für die etwaigen Kinder. Oder es betreuen Pfleger:innen am Limit ihrer Kräfte ältere nahe Verwandte – oftmals nur in Teilzeit. Der Blick in die Zukunft ist – bei Fortschreiben des Status quo – nicht rosig. Warum es keinen Rechtsanspruch auf Nachmittagsbetreuung gibt? Das weiß man mittlerweile: Ex-Kanzler Kurz verhinderte es aus Machtgier. Doch nicht nur die Jungen sollten im Fokus stehen, sondern auch die Älteren. Denn wenn in vielen Familien die Kinder immer weniger Betreuung brauchen, ist diese bei den Eltern oder anderen Verwandten vonnöten.
Letzteres zu betreuen, das ist in unserer Gesellschaft überhaupt beinahe komplett ‚ausgelagert‘ – mit Folgen. „Wir haben eine massive Pensionswelle, es braucht viel Personal, man wirbt in Indien oder den Philippinen an“, erklärt Michaela Guglberger vom Fachbereich Soziale Dienste in der Gewerkschaft vida. Mobile Pflegedienste arbeiten unter schwierigen Bedingungen, müssen auch oft Splidienste absolvieren, es gibt kaum Kolleg:innen, die über 30 Stunden arbeiten, 70 Prozent sind Frauen: „Man muss froh sein, dass es überhaupt Personal gibt.“
Rechtliche Rahmenbedingungen
Immerhin sind die rechtlichen Rahmenbedingungen in den Sozialen Diensten so eng, dass man sich die Pflege nicht per App nachhause holen kann. Das garantiert den Beschäftigten Rechtssicherheit. „Die Situation für Gewinnorientierte ist viel enger als in anderen Ländern. Das Land ist immer Aufsichtsbehörde. Es kann rechtlich kein Dumping geben.“ Allerdings gibt es auch hier Probleme. Etwa, dass laut Guglberger die Hälfte der Pflegekräfte gerne länger am Stück arbeiten wollen würde. Sie erinnert auch daran, dass man es mit Menschen zu tun habe: „Pflege ist nicht nur ein Job, das muss man auch können und mögen. Es ist auch anstrengend. Viele gehen auch nach zwei Jahren.“
Wichtig sei auch, die Menschen während der Aus- bzw. Umbildung, die die Politik derzeit forcieren will, finanziell nicht im Regen stehenzulassen. „Wir müssen uns als Menschen an der Nase nehmen: Wenn man immer das Billigste will, dann sind wir auch selber dran schuld. Die Geiz-ist-geil-Mentalität ist schon ein Thema, ich hoffe, dass das in der Pflege nie eintritt.“
Prekäre Arbeitsplätze sind im Tourismus nicht unüblich
Am Ende des Arbeitstages, wenn es auf einen trendigen After Work-Drink geht, sind wir alle, ohne es zu sehen, mit dem Prekariat konfrontiert. „Prekär sind vor allem die Hilfskräfte“, weiß Berend Tusch, Vorsitzender des Fachbereichs Tourismus in der Gewerkschaft vida. Küchenabwäscher:innen verdienen für 40 Stunden 1.321 Euro netto, damit sind sie knapp an der Armutsschwelle. Besonders bitter wirkt zudem folgender Satz: „Dort, wo es am meisten glitzert und funkelt, da verdienen die Fachkräfte nur Kollektivvertrag.“ Es wäre Potenzial da, das weiterzugeben. In allen erwähnten und noch mehr Bereichen profitieren nicht die Mitarbeiter:innen, sondern die Chefs. Gerade in der Hotellerie könnten zumindest Dinge wie Dienstpläne, Ruhezeiten und Co. besser eingehalten werden.
Es ist eben ein Problem vor allem in den Köpfen der Chefs. „Komischerweise funktioniert es mit beispielsweise McDonald’s mit den Einsteigern gut. Es gelingt, Menschen, die neu in Österreich sind, einen Lebensplan zu geben“, weiß Tusch. Anders ist es eben in der Gastronomie. „Vielleicht haben es 20 Prozent erkannt, dass man nicht nur den Gast, sondern auch die Mitarbeitenden besser behandeln muss. Der Rest hält am alten System fest.“ In den KV-Verhandlungen werde zwar betont, dass man eh mehr zahlen würde, aber den Mindest-KV will dann doch wieder niemand anheben. Immerhin: „Jetzt haben wir einen Mitarbeiter:innenmarkt – die Arbeitgeber müssen sich um sie bewerben.“ Manche ‚kreative Arbeitszeitsmodelle‘, wie in der Gastronomie oder Reinigung, sind leider altbekannt. Andere kamen erst nach und nach dazu. Aber wie geht das eigentlich?
Digitalisierung überholt das Arbeitsrecht
„Die fortschreitende Digitalisierung stellt das Arbeitsrecht regelmäßig vor große Herausforderungen, sodass die bisherige Definition eines ‚Arbeitsverhältnisses‘ durchaus immer wieder an ihre Grenzen stößt“, erklärt dazu Philipp Brokes, Abteilungsleiter-Stv. in der Abteilung Sozialpolitik der Arbeiterkammer Wien. Stark digitalisierte Tätigkeiten wie die Plattformarbeit – Lieferdienste, Online-Nachhilfe und Co. – führen so unter Umständen zur „absurden Situation“, dass Menschen klar von einem Arbeitgeber abhängig sind, vom Unternehmen aber als Selbstständige eingestuft werden, gerne mit dem Hinweis, dass die Tätigkeit ja besonders „flexibel“ sei. Gerade Zusteller:innen würden oftmals als „freie Dienstverhältnisse“ ausgestaltet und damit aus dem Anwendungsbereich etwa des Urlaubsgesetzes oder der kollektivvertraglichen Mindestlöhne ausgenommen, was sich letztlich gravierend auf die Arbeitsbedingungen auswirke.
Die Plattformen überholen die Rechtssicherheit oftmals, so Brokes. Weil „Plattformarbeit etwa mit „Clickworkern“ oder „Crowdworkern“ schon bisher in der arbeitsrechtlichen Praxis eine Rolle spielten, in der politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmung aufgrund ihrer „Unsichtbarkeit“ aber tendenziell untergingen.“ Das betreffe auch andere Branchen, die „disloziert arbeiten, also an keinem fixen Ort.“ Diese Personen sind laut dem Experten dem Risiko derartiger Umgehungskonstruktionen ausgeliefert. Bei behördlichen Betriebsstättenkontrollen sind sie kaum anzutreffen. Die Prüforgane haben daher auch „faktisch keine Möglichkeit, den wahren wirtschaftlichen Gehalt – und der ist nicht selten ein auf persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit und damit auf ein klassisches Arbeitsverhältnis ausgelegt – festzustellen.“
Aus Flexibilität wird Abhängigkeit
Die als „Selbstständige“ oder „freie DienstnehmerInnen“ kaschierten (echten) Arbeitsverhältnisse können so von den Behörden schwieriger in echte Arbeitsverhältnisse umqualifiziert werden. Es sind oft Niedriglohnbranchen, wie auch die Hilfskräfte in der Gastronomie oder Reinigungsbranche, die das österreichische Rechtssystem kaum kennen und damit besonders gefährdet sind, von Lohndumping und Ausbeutung betroffen zu sein. Leider sind das gleichzeitig Menschen, die mit prekären (und oftmals rechtswidrigen) Beschäftigungsformen jedoch ein weitaus höheres Einkommen erzielen, als sie das in ihren Heimatländern könnten und sie an ihrem Rechtsstatus nichts ändern möchten. Womit Philipp Brokes noch ein weitaus größeres systemisches Problem anspricht. „Diese prekäre Lage macht die Betroffenen daher zusätzlich erpressbar.“
Gerade das Modell der Freien Dienstnehmer:innen zeigt, wie eine zwischenzeitliche Notwendigkeit letztlich zur Ausbeutung und ins Prekariat führen kann. Dieses Modell galt in den 90er-Jahren, so Brokes, „als Antwort auf die Zunahme von Tätigkeiten, die weder eindeutig dem klassischen ArbeitnehmerInnenbegriff zugeordnet werden konnten, noch ein klassisches Unternehmer:innentum darstellten.“ Kurzfristige, besonders kreativ, oftmals flexibel ausgestaltete Tätigkeiten waren nur schwer in die Kategorien Unternehmen oder Arbeitnehmer:in einordenbar.
Was als gute Idee begann – etwa für Studierende in Eventagenturen oder Call Centern – wurde mit der Zeit nicht selten zu einem lukrativen Geschäftsmodell und auf andere Branchen angewandt. „Aufgrund der sehr starken Abhängigkeit vom eigenen Arbeit- bzw. Auftraggeber liegen im Ergebnis oftmals (versteckte) Arbeitsverhältnisse zweiter Klasse vor, ArbeitnehmerInnen ohne Arbeitsrechte quasi.Eine Tendenz, die nicht selten unterdurchschnittliche Entlohnung fördert damit das Entstehen von ‚Working Poor‘.“
Schlechte Bezahlung, kaum Mitsprache und eine künstliche Intelligenz als Manager. Plattformen wie Uber, Bolt und Mjam schaffen Arbeitsplätze am Rande der Arbeit. @punktamende über die #Fairwork-Studie im @aundwmagazin: https://t.co/B55TZOSvgH
— A&W Blog (@AundW) July 16, 2022
Prekäre Arbeitsplätze: Arbeitsrecht und Beschäftigte unter Druck
Auch in der vermeintlichen Rechtssicherheit von Kollektivverträgen finden Arbeitgeber Möglichkeiten, Druck auszuüben und gleichzeitig Menschen möglichst schlecht zu entlohnen. Wer ausnutzen will, findet offenbar Wege, dies zu tun. Doch hier gibt es wenigstens noch eine gewisse Handhabe durch Gewerkschaften oder Arbeiterkammer. Die neuen Modelle wären in wirtschaftlich guten Zeiten ja verlockend, aber ein Umlegen sollte auf jeden Fall verhindert werden. „Die vielfach kolportierte „Flexibilität“ hat letztlich einen hohen Preis, der vor allem dort spürbar wird, wo die wirtschaftliche Abhängigkeit zu einer existenziellen Abhängigkeit wird“, resümiert Philipp Broke.
„Gerade die aktuelle Teuerungswelle und die damit verbundene Energiekrise zeigen auf besonders anschauliche Art und Weise, wie schmal der Grad der gerne angepriesenen „Unabhängigkeit und Selbstständigkeit“ eigentlich ist. Wenn die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der bezahlte Urlaubsanspruch oder aber der Anspruch auf Mittel aus der Arbeitslosenversicherung nicht greifen, die Löhne selbst nicht selten unter der Armutsgefährdungsschwelle liegen, wird die wirtschaftliche Abhängigkeit der Beschäftigten von ihren Arbeitgebern erst so richtig deutlich.“
Was zuerst also wie ein Glücksfall und eine Erleichterung für die Gesellschaft aussieht, entpuppt sich letztlich vor allem als finanzieller Vorteil für die Unternehmer. Hier gilt es dann auch für die eingangs erwähnten hippen Arbeitskräfte aufzupassen. Der rasche technologische Fortschritt geht schließlich da und dort kurzfristig zulasten der Rechtssicherheit. Und das kann dann schnell ungemütlich werden. Nicht nur, aber auch bei jenen, die glauben, dass sie ganz anders arbeiten als Reinigungskräfte, Rider:innen oder Küchenhilfen – die sie ja in der Lieferkette des Prekariats ohnehin schon in Anspruch nehmen.