Famira-Mühlberger ist stellvertretende Direktorin des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO). Unter dem ehemaligen Sozialminister Rudolf Anschober (Die Grünen) war sie Mitglied der sogenannten Pflege-Taskforce. Sie glaubt nicht, dass es eine große Pflegereform geben wird. Die sei aber auch gar nicht zielführend. Vielmehr bräuchte es einen stetigen Prozess an Änderungen und Verbesserung. Eine der größten Herausforderungen dabei ist der demografische Wandel.
Dr. Famira-Mühlberger über die Pflegereform
Sehr geehrte Fr. Famira-Mühlberger, Sie waren in der Pflege-Taskforce unter Minister Rudolf Anschober. Können Sie uns kurz erklären, warum sie gegründet wurde?
Rudolf Anschober, der ehemalige Sozialminister, hatte sich bei seinem Amtsantritt vorgenommen, Fortschritte in der Pflegepolitik zu erzielen. Deswegen hat er die Pflege-Taskforce ins Leben gerufen. Es war eine Gruppe, die dafür zuständig war, von allen relevanten Stakeholdern in der Pflege Inputs zu erhalten. Einerseits schriftlich und andererseits in Workshops und Konferenzen.
Was war Ihre spezielle Rolle?
Die Pflege-Taskforce war in fünf thematische Gruppen unterteilt. Jede Gruppe hatte eine Leitung. Ich leitete gemeinsam mit Professor Christoph Badelt eine der Gruppen und hatte die Aufgabe, alle Inputs zu sammeln und zu ordnen. Aus dem Ergebnis hat die Gesundheit Österreich (GÖG) einen Bericht erstellt.
Die Taskforce hat also nicht direkt etwas umgesetzt?
Die Kommunikation war etwas unglücklich, weil der Begriff Taskforce nicht richtig gewählt wurde. Darunter stellt man sich etwas wesentlich Aktiveres vor. Es ging nur um die Sammlung aller Inputs in einem breiten Beteiligungsprozess.
Eine Ist-Analyse.
Die einzelnen Gruppen haben Kritikpunkte und Ideen für die künftige Gestaltung gesammelt. Die Gruppen hießen „Verlässlichkeit in der Pflege und Betreuung und Sicherheit des Systems“, „Einsamkeit mindern und das Miteinander fördern“, „Die Leistung der Pflegenden durch angemessene Rahmenbedingungen anerkennen“ und „Entlastung für pflegende Angehörige schaffen und Demenz begegnen“. Die Gruppe, die ich geleitet habe, war „Vorausschauend planen und gestalten“. Darin ging es vor allem um die Finanzierung.
Können Sie uns erklären, was der Pflegenotstand ist? Was kommt auf uns zu?
Vor zehn Jahren haben wir hauptsächlich das Finanzierungsproblem diskutiert. Mittlerweile wissen wir, dass das Finanzierungsproblem nicht das größte ist, sondern dass es der Personalmangel ist. Der Begriff Pflegenotstand zielt darauf ab, dass es schwierig ist, genug Personal für Pflegeberufe zu rekrutieren. Auch und vor allem in der Zukunft, angesichts des demografischen Wandels. Aber auch jetzt schon. Es ist ein täglicher Kraftakt von vielen Pflegedienstleistern, genug Personal für die nötigen Aufgaben zu haben. Haben Mitarbeiter:innen Urlaub oder sind sie krank, wird es noch schwieriger. Das bedeutet, dass der Druck auf das bestehende Personal noch weiter wächst.
Die private Pflege wird unter Druck geraten
Welchen Einfluss hat der demografische Wandel auf die Pflege?
Österreich hat ein Pflegemodell, das auf der informellen Pflege basiert. Diese Form wird aber immer stärker unter Druck geraten. Alte Personen, die heute gepflegt werden, haben im Schnitt mehr als zwei Kinder. Im Jahr 2050 wird das wesentlich weniger sein. Allein dadurch wird es an Betreuungsmöglichkeiten fehlen. Dazu kommt der wachsende Altersunterschied. Kinder der Personen, die heute über 80 Jahre alt sind, sind oft selbst schon im pensionsfähigen Alter. Im Jahr 2050 stehen diese Menschen aber noch mitten im Berufsleben. Dazu kommt die steigende Beschäftigungsquote von Frauen. Die ist wichtig, bedeutet aber auch, dass das Pflegepotenzial dieser Frauen zurückgeht. Das bedeutet, dass alle Formen der Pflege ausgebaut werden müssen. Auch die stationäre Pflege. Das ist zwar die teuerste Pflegeform, sie wird aber einen enormen Nachfrageanstieg erfahren. Das alles ist noch nicht ganz angekommen bei den Entscheidungsträgern.
Wie viel Personal fehlt aktuell?
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viel Personal fehlt. Ich bin mir nicht sicher, ob es da eine belastbare Erhebung gibt. Wir wissen aber, dass in Pflegeheimen Betten leer stehen. Nicht weil es keine Nachfrage gibt, sondern weil das Personal zur Betreuung fehlt. In Salzburg musste ein ganzes Heim geschlossen werden aufgrund des knappen Personals. Das sind keine Ausnahmen, das ist der Stand der Dinge.
Und welcher Personalmangel kommt auf uns zu?
Wir haben Berechnungen gemacht, für die wir uns angesehen haben, wie viele Personen jetzt in der Pflege arbeiten und wie sich die Nachfrage durch den demografischen Wandel und die Entwicklung der Gesundheit sowie durch den Rückgang des Pflegepotenzials in der Familie verschieben wird. Wir kommen auf einen zusätzlichen Bedarf von 24.000 Pflegekräften oder 18.000 Vollzeitäquivalenten bis 2030 – auf Basis von Daten aus 2016. Und 79.000 Stellen oder 58.000 Vollzeitäquivalente bis 2050. Die GÖG hat eine Berechnung gemacht, in der sie auch die Pensionierungen in der Pflege berücksichtigt hat, und die kommt für das Jahr 2030 auf 76.000 benötigte Pflegekräfte.
Können wir uns diesen Mehrbedarf leisten?
Wir geben jetzt rund 0,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Pflegedienstleistungen aus. Nach unseren Berechnungen wird das bis 2030 auf 0,8 Prozent steigen und bis 2050 auf 1,4 Prozent. Andere Länder geben das bereits heute aus. Es wird kein Finanzierungsproblem im eigentlichen Sinne geben – eher eine Verteilungsdiskussion. Es muss eine gesellschaftliche Diskussion geben, wie viel man bereit ist, für die Pflege auszugeben. Dass es in einer alternden Gesellschaft zu einer Verschiebung der Ausgabenstruktur kommt, ist klar.
Dabei scheint es doch sehr einfach zu sein. Nach Berechnungen des WIFO lohnen sich Investitionen in den Pflegebereich besonders. Für jeden Euro fließen 70 Cent in Form von Steuern zurück.
Das ist richtig und nicht überraschend, weil der Pflegesektor sehr personalintensiv ist. Deswegen ist der Multiplikator sehr hoch. Aber bei diesen Studien und Erkenntnissen ist Vorsicht geboten. Wir haben nicht verglichen, wie es wäre, einen Euro in die Bildung, einen in die Pflege und einen in die Bauwirtschaft zu investieren. Wir haben nur den Pflegebereich betrachtet. Der hohe Multiplikator ist ein wichtiges Argument für Investitionen in die Pflege, er sagt aber nicht aus, ob dieser staatlich finanzierte Euro am effektivsten eingesetzt wird.
Finanzierung der Pflegedienste ist zu kompliziert
Die Bundesregierung versucht sich an Lösungen, scheitert aber am großen Wurf. Warum?
Man hat die Erwartungen zu hoch gesetzt. Es wird oft von einer Pflegereform gesprochen, die dieses Thema langfristig löst. Aus meiner Sicht ist die Reform der Pflege ist ein permanenter Prozess. Es muss kontinuierlich daran gearbeitet werden. Das größte Problem, an dem umfassendere Lösungen scheitern, ist die Komplexität des Systems. Die Pflegedienstleistungen werden von den Ländern finanziert. Für das Pflegegeld ist der Bund zuständig.
Welche Probleme in der Pflege wären am leichtesten zu beenden? Was sind die Low Hanging Fruits?
Die sehe ich in der Ausbildungsoffensive. Die wird zwar vorangetrieben, aber noch zu wenig. Man muss auf mehreren Ebenen ansetzen. Die klassische Ausbildung von jungen Menschen muss stärker gefördert werde. Es braucht aber auch mehr Angebote beim Arbeitsmarktservice für Menschen, die den Beruf wechseln wollen. Jeder Mensch, egal in welcher Phase seines Lebens er oder sie ist, sollte die Möglichkeit haben, diesen Beruf zu ergreifen. Das Zweite ist die Koordinierung der Bundesländer. Es haben sich regionale Bedingungen entwickelt – von Bundesland zu Bundesland. Die sind ökonomisch aber nicht argumentierbar, weil alle die gleichen Steuern zahlen. Daher plädieren wir für eine Vereinheitlichung von Standards. Aber das ist definitiv keine Low Hanging Fruit.
Reicht die Ausbildung allein, um den enormen Bedarf zu decken?
Ab 2023 sind wir damit konfrontiert, dass die Zahl der erwerbstätigen Bevölkerung erstmals zurückgeht. In Deutschland ist das schon eingetreten. Das heißt, dass die Pflege nicht der einzige Bereich ist, in dem es einen Run auf Fachkräfte gibt bzw. künftig verstärkt geben wird. Darum glaube ich, dass es in der Pflege ohne Migration nicht gehen wird. Man muss sich fragen, wie man es im Pflegebereich schafft, ausländische Arbeitskräfte zu gewinnen.
In der #Pflege ist eine strukturierte Erfassung des Pflegebedarfs nötig. Nur so können wir evidenzbasiert die Pflege der Zukunft planen. https://t.co/RbiMklzE5c
— Ulrike Famira-Mühlberger (@UFM2045) November 17, 2020
Und welche Probleme sind die, die am dringlichsten gelöst werden müssen?
Wir wissen in Österreich zu wenig über den effektiven Pflegebedarf. Über regionale Arbeitsmärkte wissen wir zum Beispiel gut Bescheid, da haben wir Daten, und es gibt regionale Arbeitsmarktservicestellen. Wir wissen aber kaum etwas über die regionalen Pflegemärkte. Im Jahr 2020 haben wir unter den Gemeinden eine Umfrage gemacht. Dabei haben wir gesehen, dass die meisten Gemeinden keine systematische Erhebung des Pflegebedarfs in ihrem Gebiet durchführen. Sie reagieren vielfach auf Zuruf. Das ist ein Problem. Ein zweites Problem ist die Finanzierungsstruktur, weil sie über zu viele Töpfe läuft. Der Rechnungshof zeigte in einem Bericht, dass hinter einem Pflegeheimplatz 19 Finanzströme stecken. Da bräuchte es dringend eine Entflechtung und eine Finanzierung aus einer Hand. Wir haben ja schon den Pflegefonds. Der könnte hier ein gutes Vehikel sein.