Warum fehlen so viele Pflegekräfte in Österreich?
„Es ist so, dass wir bis 2030 mit einer Steigerung von rund 80 Prozent der Nachfrage nach Pflegedienstleistungen rechnen. Bis 2050 rechnet das WIFO mit über 300 Prozent“, analysiert Ulrike Famira-Mühlberger die Situation. Sie ist Ökonomin und stellvertretende Direktorin des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO). Der Pflegenotstand in Österreich hat eine ganze Reihe von Ursachen. Warum so viele Pflegekräfte in Österreich fehlen hat eine Vielzahl von Gründen. Dazu gehören die Arbeitsbedingungen, die Bezahlung, die Altersstruktur der Beschäftigten und die demografische Entwicklung in Österreich.
- Altersstruktur der Pflege- und Betreuungspersonen: Rund ein Drittel des Pflegepersonals ist über 50 Jahre alt und wird in den kommenden zehn Jahren in Pension gehen.
- Demografische Entwicklung: Der Bedarf an Pflegepersonal wächst. Bis zum Jahr 2030 wird die Zahl der Menschen über 85 Jahre auf 327.000 Personen anwachsen. Am stärksten wird die Gruppe der 85- bis 89-Jährigen wachsen. Der Anteil der erwerbsfähigen Menschen an der Bevölkerung wird gleichzeitig von 62 Prozent auf 57 Prozent sinken,
- Arbeitsbedingungen: Aufgrund des ohnehin schon fehlenden Pflegepersonals ist die Arbeitsbelastung enorm hoch. Sowohl physisch als auch psychisch. Und das in einem Beruf, in dem ohnehin in Schichtdiensten gearbeitet werden muss. Die Arbeitsbelastung ist so hoch, dass 73 Prozent der Angestellten (in der Pflege sind das zu 85 Prozent Frauen) glauben, nicht bis zum Regelpensionsantritt arbeiten zu können, rechnet das WIFO vor.
- Bezahlung: Die Bezahlung in den Pflegeberufen ist meist nicht gut. Neben der geringen Wertschätzung (trotz hoher Nachfrage) hat auch damit zu tun, dass in der Branche mittlerweile sehr viele Beschäftigten aus einem Niedriglohnland angeworben werden. Das führt zu Lohndumping.
Praxisbeispiel für den Pflegenotstand
Lara (Name von der Redaktion geändert) ist Kroatin und arbeitet in Österreich als 24-Stunden-Betreuungskraft. Eine Firma holt sie in ihrer Heimat ab, bringt sie zur Familie, bei der sie arbeitet, und zwei Wochen später wieder zurück. Bis sie eines Tages einen Unfall hat und mit gebrochener Hüfte und Rippenverletzungen ins Krankenhaus gebracht wird. Die Ärzte teilen ihr mit, dass sie – entgegen den Beteuerungen ihrer Vermittlungsagentur – keine Sozialversicherung hat. Weil sie nicht mehr arbeiten kann, bekommt sie kein Gehalt. Geld für Reha-Maßnahmen gibt es auch nicht. Stattdessen schickt ihre Agentur zwei Tafeln Schokolade ins Krankenhaus.
Die Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida nahm sich im Rahmen der gewerkschaftlichen Initiative vidaflex des Falls an und vertrat Lara vor Gericht. „Wir wollten, dass diese Frau zu ihrem Recht kommt. Aber der Fall ist keine Ausnahme, auch wenn jeder Fall einzeln zu prüfen ist. Deswegen haben wir mit dieser Klage auch einen Standard geschaffen. Die Frage ist, warum das vorher niemand gemacht hat“, erklärt Olivia Janisch, Mitglied des Vorstandes von vidaflex und stellvertretende vida-Vorsitzende, gegenüber Arbeit&Wirtschaft.
Und Lara hat Erfolg. Die Firma muss über 8.000 Euro zahlen. Warum vorher niemand Klage eingereicht hat, ist schwer zu beantworten. Zum einen wissen viele der Betreuungskräfte nichts von ihren Rechten. Meist unterschreiben sie einen Vertrag, der auf Deutsch verfasst ist. Die offizielle Vertretung selbstständiger Pflege- und Betreuungskräfte wäre die Wirtschaftskammer. Sie vertritt aber auch die 980 (!) Vermittlungsagenturen, die es in Österreich gibt und gegen die sich eine mögliche Klage im Fall der Fälle wenden würde.
Pflegenotstand wird sich verschärfen
Das ist die Situation für einzelne Arbeitnehmer:innen im Pflege- und Betreuungssektor. Hochskaliert auf ganz Österreich, fasst Janisch es so zusammen: „Wir haben einen Pflegenotstand. Es gibt eine Vielzahl von Pflege- und Betreuungsberufen, und seit Jahren wird es verabsäumt, hier Verbesserungen zu erarbeiten. Es wird nicht hingeschaut und nicht angepackt, was angepackt werden müsste.“ All das ist nur ein Vorbote für schlimmere Zeiten, wenn die Politik nicht gegensteuert. Denn die Bevölkerung in Österreich wächst und wird älter. Die Zahl der Personen über 80 Jahren wird sich bis zum Jahr 2040 auf 876.000 verdoppelt haben, im Vergleich zu 2017. Allein bis zum Jahr 2030 werden 76.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt. Auf der anderen Seite steht der österreichischen Wirtschaft – und damit auch dem Pflege- und Betreuungssektor – eine massive Pensionierungswelle bevor, da ab dem Jahr 2025 die Generation der Babyboomer in den Ruhestand geht.
Angesichts dieser Entwicklung ist es zynisch, dass ausgerechnet Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) bei seinem Amtsantritt davon sprach, dass der Arbeitsmarkt durch Angebot und Nachfrage bestimmt werde. Doch ausgerechnet beim Geschäft mit der kritischen sozialen Infrastruktur der Pflege scheint der Markt zu versagen. Denn die Bezahlung ist gering und die Arbeitsbelastung hoch. Trotz enormer Nachfrage und überschaubarem Arbeitskräfteangebot.
Private Investor:innen in der Pflege
Kochers unsichtbare Hand des Marktes hat dieses Ungleichgewicht längst erkannt. „Der Pflege- und Betreuungsnotstand ist ein zentraler Faktor, der von einigen privaten Investoren und Akteuren gesehen wird. Dadurch, dass sich die Situation strukturell nicht entspannt, gewinnt er immer mehr an Bedeutung. Auch die alternde Bevölkerung ist aus Investorensicht ein zentrales Vermarktungsargument“, erklärt Leonhard Plank, Senior Scientist im Forschungsbereich Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik an der TU Wien.
Investoren sehen im Pflegesektor eine lukrative Möglichkeit, Gewinne einzufahren. Doch Privatisierungen in diesem Bereich könnten zu spürbaren Nachteilen für die zu pflegenden Personen und deren Angehörige führen. Plank verweist auf Investoren in Großbritannien, die mit einer aggressiven und schuldenbasierten Expansionspolitik einen großen Pflegeheimbetreiber in die Pleite trieben. Es ist eine extreme Folge davon, wenn kritische soziale Infrastruktur plötzlich zu zweistelligen Renditen gezwungen wird.
Plank: „Es ist ein Wachstumsmarkt, auf dem es kaum Risiken gibt. Aus Sicht der Aktionäre und Eigentümer ist das gut. Es gibt aber mehr als berechtigte Zweifel daran, ob es gesamtgesellschaftlich, aus Sicht der zu pflegenden Personen, der Angehörigen und Beschäftigten, zu begrüßen ist.“ Dazu kommt, dass eine Privatisierung nicht einmal die erwähnten Probleme lösen würde. „Ich sehe nicht, welchen systemrelevanten Beitrag private Akteure leisten könnten. Sie könnten sich höchstens bereit erklären, freiwillig mehr Personal auszubilden. Aber sie können auch nur mit Blick auf die Perspektiven des Sektors agieren. Und wenn die öffentliche Hand nicht mehr Geld in den Sektor investiert, können auch private Anbieter keine Wunder wirken.“
Lösungen für den Pflegenotstand
Die Lösung für den Pflegenotstand – neben naheliegenden und dringlichen Maßnahmen wie Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhungen – kann nur ein ganzheitlicher Ansatz sein. Zu vielfältig sind die Ursachen für das Problem. Mögliche Ansätze zur Bewältigung der Krise sind:
Ausbildungsoffensive
Eines der dringlichsten Probleme ist die Personalknappheit. Die naheliegende Lösung wäre eine Ausbildungsoffensive. Hier tut sich Österreich aber schwer, wie Janisch erklärt. „Die Polizeiausbildung wird gefördert. Hier wird die Ausbildung bezahlt. In der Pflege und Betreuung hat man sich dazu immer noch nicht durchgerungen. Hier versagt die Politik, weil sie ihre Verantwortung nicht wahrnimmt.“ Stattdessen werden Arbeitskräfte importiert. Private Anbieter wie Sekura rekrutieren Pflege- und Betreuungskräfte schon aus Kolumbien. In Österreich ist der Anteil der eingewanderten Krankenpflege- und Geburtshilfefachkräfte mit 20 Prozent der drittgrößte in der EU (hinter Luxemburg mit 30 Prozent und Irland mit rund 26 Prozent). Janisch dazu: „Das Lohn- und Sozialdumping ist ein europäisches Problem. In vielen Bereichen hat man begonnen, Arbeitskräfte aus dem europäischen Ausland zu importieren. Wir können nicht unsere eigenen Arbeitsplätze lohndumpen, um Leute aus dem Ausland schlechter zu bezahlen. Das ist sozialpolitisch und volkswirtschaftlich ein Wahnsinn.“
Investitionen
Der Pflegesektor ist – zumindest auf den ersten Blick – ein dankbarer Bereich für staatliche Investitionen. „In der Pflege ist der Multiplikator besonders hoch, weil das ein sehr dienstleistungsintensiver Bereich ist. Da geht viel in Löhne und regionale Wertschöpfung. Von diesem Geld kommt in Form von Steuern und Sozialversicherung viel zum Fiskus zurück“, erläutert Famira-Mühlberger. Pro investiertem Euro seien das stolze 70 Cent. Einfach Geld zu verteilen, funktioniert aber nicht, weil es zwei Probleme gibt. Zum einen ist nicht klar, welche Leistungen überhaupt benötigt werden und zum anderen gibt es Rangeleien um die Zuständigkeit.
Pflegereform
Diese beiden Fragen (Welche Leistungen und welche Zuständigkeiten) kann nur eine Pflegereform beantworten. Die kommt aber kaum aus den Startlöchern. „Länder und Gemeinden sind verfassungsmäßig für die Bereitstellung der Leistungen zuständig. Die Steuereinnahmen erfolgen aber überwiegend auf Bundesebene. Die Frage der Langzeitpflege lässt sich daher nur gemeinsam beantworten“, fasst Kurt Schalek die Situation zusammen. Er ist Referent in der Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik der Arbeiterkammer Wien. Famira-Mühlberger war selbst in der Pflege-Taskforce, die Vorschläge für eine Reform unterbreitet hat, und fasst es so zusammen: „Die Pflege ist kein politisches Minenfeld, aber sozialpolitischer Spielball. Das Problem ist, dass der Bund das Pflegegeld ausbezahlt, aber Pflegedienstleistungen Länderkompetenz sind, die Umsetzung aber bei den Gemeinden liegt. Das ist ein schwieriger Cocktail.“
Die wichtigsten Fragen zum Pflegenotstand in Österreich:
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