Eineinhalb Jahrzehnte später liegt nach wie vor vieles im Argen: Die Personenbetreuer*innen arbeiten als (Schein-)Selbstständige in Österreich, haben kaum Rechte, werden oft finanziell ausgebeutet und auch sexuell missbraucht. Wer daran mitverdient, sind die Wirtschaftskammern – die Betreuer*innen müssen Mitglied werden, sobald sie das Gewerbe der Personenbetreuung ausüben – sowie die mittlerweile fast 1.000 österreichischen Vermittlungsagenturen. Letztere vertreten personell den Fachverband Personenberatung und Personenbetreuung der WKO.
Jede*r braucht sie – aber der Betreuung und Pflege fehlt eine Strukturreform. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat offengelegt, wie wichtig diese Säule im Sozialstaat ist: Trotz geschlossener Grenzen ließ Österreich die Betreuer*innen einfliegen. Dass ihnen die Vermittlungsagenturen die Reisepässe abknöpften, konnte erst die Arbeiterkammer abstellen. Erkranken die (Schein-)Selbstständigen selbst, fahren sie im schlimmsten Fall ohne Bezahlung wieder nach Hause – Krankengeld gibt es für sie ab dem 43. Tag der Krankheit.
Von den aktuell rund 60.000 offiziell selbstständig tätigen Personenbetreuer*innen in den österreichischen Haushalten stammt etwa die Hälfte aus Rumänien, ein Drittel aus der Slowakei. Viele kommen zudem aus Kroatien, Ungarn, Bulgarien, Polen, Tschechien oder Slowenien – nur zwei Prozent sind aus Österreich. Zahlen von unselbstständig Beschäftigten in der Personenbetreuung sind laut AK nicht bekannt.
Die Pflege im angestellten Bereich der Krankenanstalten kann ebenfalls nur dank eines hohen Migrationsanteils sichergestellt werden. Viele pendeln aus den Nachbarländern nach Österreich. Mit Beginn der COVID-19-Pandemie haben viele Pflegekräfte ihren Job aufgegeben. Auch aus den Krankenpflegeschulen ist von einer auffallend hohen Drop-out-Rate zu hören. Zu allem Überfluss wurde aus dem von den Arbeitnehmervertreter*innen geforderten „Corona-Tausender“ nur ein „Corona-500er“ – und das nicht einmal für alle im Gesundheits- und Pflegebereich. Was also tun in einer schon bisher eng besetzten Branche, damit sie nicht gänzlich zusammenbricht?
Geht es nach den Plänen der türkis-grünen Bundesregierung, soll das sogenannte Fachkräftestipendium (FKS) für Bereiche, in denen Fachkräfte fehlen, auf die Gesundheits- und Krankenpflege ausgeweitet werden – was auch einer lang gehegten Forderung der Arbeiterkammer entspricht. Das gilt allerdings nur für jene mit niedrigerer Qualifikation als Pflegeassistent*in oder Pflegefachassistent*in (zwei bzw. drei Jahre Ausbildung). Jenen, die sich in der gehobenen Pflege mit Studium ausbilden lassen (Diplomkrankenpfleger*innen), bleibt diese Ausbildungsförderung durch das Arbeitsmarktservice (AMS) verwehrt – sehr zum Missfallen der Arbeitnehmer*innenvertretungen.
Das Problem
„Die Gesundheits- und Krankenpflegeschulen laufen mit Ende 2023 aus“, erklärt Silvia Rosoli, Pflegeexpertin der AK Wien. „Dann wird nur noch auf Fachhochschulniveau ausgebildet“ – weshalb sie „vehement“ fordert, dass das Fachkräftestipendium für Pflegeausbildungen im tertiären Bereich, also auf Fachhochschulen oder Universitäten, geöffnet wird. „Je besser die Ausbildung, desto höher das Qualitätsniveau in der Pflege, und das brauchen wir“, so Rosoli.
Pflegekräfte gebraucht
Das Fachkräftestipendium greife zu kurz, müsste auf tertiäre Ausbildungen für Gesundheits- und Pflegeberufe ausgeweitet und finanziell attraktiver gemacht werden, fordert ebenso Alexander Prischl, Leiter des Referats für Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik beim ÖGB: „Aufgrund der Lebenserwartung und Pensionierungen bis 2030 werden bis zu 76.000 Personen in der Pflegebranche benötigt.“ Andere Berechnungen sehen aufgrund der Bevölkerungsentwicklung sogar einen Bedarf von bis zu 100.000 Pflegekräften.
„Die Zeit ist längst reif für eine echte Joboffensive“, so formuliert es Ingrid Reischl, Leitende Sekretärin im ÖGB. „Anforderungen und Personalbedarf in dieser Branche steigen stetig. Wir müssen daher rasch für bessere Arbeitsbedingungen, bessere Einkommen und Entlastung des aktuellen Personals sorgen. Mit einer Pflegestiftung könnte ein großer Teil des benötigten Bedarfs an Pflegepersonal ausgebildet und anschließend direkt auf einen sicheren Arbeitsplatz vermittelt werden.“
Über eine derartige bundesweite Stiftung könnten 30 Prozent des Bedarfes der nächsten vier Jahre – das wären rund 10.000 Personen – ausgebildet und gedeckt werden. Da Pflege Ländersache ist, bräuchte es zunächst bundesweite gesetzliche und finanzielle Regeln. „Zusätzlich muss sichergestellt werden, dass die Länder die eigenen Ausbildungsangebote nicht zurückfahren, um sich die Ausbildungskosten finanzieren zu lassen – denn dann würde kein einziger zusätzlicher Ausbildungsplatz entstehen“, warnt Reischl.
Stiftungsmodelle als Lösung?
Der ÖGB wirft seine Erfahrung mit Stiftungen in die Waagschale. Diese intakten Strukturen der Sozialpartner könnte man nutzen – auch für eine bundesweite Implacement-Stiftung im Pflegebereich. Üblicherweise zahlt der künftige Arbeitgeber einen Beitrag in diese Stiftung, damit die oder der Auszubildende nicht mehrere Jahre mit der 55-Prozent-Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes leben muss. Pflegedienste wie Caritas, Diakonie, Volkshilfe etc. können sich das aber nicht leisten. „Deshalb sollte der Bund einspringen und sich mit den Ländern abstimmen. Macht man das nicht, hat man eine große Chance vertan, Menschen in wichtige Jobs umzuqualifizieren, und das Pflegethema bleibt auch ungelöst“, gibt Reischl zu bedenken.
Die AUFLEB, wie sich die 1995 gegründete Arbeitsstiftung von Gewerkschaftsbund und Wirtschaftskammer nennt, wäre in der Lage, ein bundesweites Stiftungskonzept zu erarbeiten. „Die Stabilisierung des Arbeitsmarkts muss beschleunigt werden, dafür braucht es mehr konkrete Maßnahmen“, meint ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian. Die Stiftungsmodelle hätten sich bewährt. „Arbeitnehmer*innen bekommen Unterstützung bei ihrer beruflichen Neuorientierung, und der Fachkräftemangel könnte abgefedert werden.“ Sowohl eine Pflegestiftung als auch eine Umwelt- und eine Verkehrsstiftung, die Betroffenen maßgeschneiderte Qualifizierung für die momentanen Herausforderungen bieten, könnten ein erster wichtiger Schritt zu ihrer Unterstützung sein „Stiftungen sind ein Win-win-Modell.“
Als Rohrkrepierer erweist sich hingegen möglicherweise die von der Bundesregierung angedachte Pflegelehre, die ursprünglich diesen Herbst starten sollte. Eindeutig abgelehnt von den Arbeitnehmer*innenvertretungen, lässt derzeit die Telekom-Expertin und zuständige Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, Margarete Schramböck, die genaue Ausgestaltung der Ausbildung ausarbeiten. Dem Vernehmen nach seien noch gesetzliche Änderungen bzw. rechtliche Anpassungen vorzunehmen.
Einige Bundesländer haben inzwischen begonnen, pflegende Angehörige anzustellen und ihnen ein Gehalt von 1.700 Euro monatlich zu zahlen. Das Modell ist nicht unumstritten hinsichtlich Qualität, familiärer Konflikte und Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt. Die Kanzlerpartei lehnt es rundherum ab. Stattdessen schlägt sie als „Wertschätzung“ eine Einmalzahlung von 1.500 Euro vor – jährlich.