Pflege als Industrie – keine Zeit für Menschlichkeit?

Illustration Pflege
Illustration (C) Natalia Nowakoswka

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  1. Seite 1 - Viel Luft nach oben
  2. Seite 2 - Der Mensch muss ins Zentrum rücken
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Pflege ist mehr als eine strikte Abfolge mechanischer Arbeitsschritte. Im Zentrum sollte das Wohlergehen pflegebedürftiger Menschen stehen. Doch Personalmangel, Überbelastung und eine falsche Ausrichtung werfen vor allem die Frage auf: Bleibt der menschliche Aspekt der Pflege immer mehr auf der Strecke?
Ein sozialer Beruf ohne Menschlichkeit – wie soll das funktionieren? Bauen Pflegetätigkeiten nicht genau darauf auf?  Sich Zeit für die Betroffenen zu nehmen – ist es nicht das, was angestrebt werden sollte, um die Lebensqualität der betreuten Personen zu maximieren? Die kurze Antwort auf alle diese Fragen lautet: Ja, so sollte es sein. Die Realität sieht jedoch oft anders aus.

Durchgetaktete Arbeitsschritte stehen an der Tagesordnung. Dazu jede Menge Dokumentation, mittels derer alle Schritte schriftlich festgehalten werden müssen, die viel Zeit in Anspruch nimmt und jene Zeitfenster, die zur eigentlichen Pflege und Betreuung zur Verfügung stehen, rapide verkürzen. Laut Jürgen Glaser, Professor für angewandte Psychologie und Leiter des Instituts für Psychologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, bleiben bei diplomierten Gesundheits- und KrankenpflegerInnen genau 5% ihrer täglichen Arbeitszeit für die Betreuung übrig. Ein wenig mehr ist es bei PflegeassistentInnen, wo der Prozentsatz bei 9% liegt, in der Fachsozialbetreuung Altenarbeit bzw. Diplomsozialbetreuung Altenarbeit sind es 13%, bei HeimhelferInnen 20%. Wie kann das sein?

Anteil der Arbeitszeit, der für Betreuung aufgewendet wird

diplomierte Gesundheits- und KrankenpflegerInnen
5 %

PflegeassistentInnen

9 %

Fachsozialbetreuung / Diplomsozialbetreuung Altenarbeit
13 %

HeimhelferInnen

20 %

Fehlende Anerkennung

Ein Grund dafür ist die fehlende Anerkennung der Pflegeberufe. Zwar nicht von den pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen direkt, denn diese schätzen die Leistungen, die das Pflegepersonal tagtäglich erbringt. Vielmehr geht es dabei um die fehlende gesellschaftliche Wertschätzung. „Der professionelle Stellenwert der Arbeit in der Langzeitpflege wird nach wie vor gesellschaftlich nicht anerkannt“, betont Gudrun Bauer, Sozioökonomin und Pflegewissenschafterin. Ihr zufolge liegt das vor allem daran, „dass die Pflege von älteren Menschen nach wie vor von vielen als familiäre Aufgabe verstanden wird“.

Der professionelle Stellenwert der Arbeit in der Langzeitpflege wird nach wie vor gesellschaftlich nicht anerkannt.

Gudrun Bauer, Sozioökonomin und Pflegewissenschafterin

Wenn man sich jedoch vor Augen führt, dass Familienmitgliedern für die Pflege von Angehörigen oft die zeitlichen Ressourcen fehlen und Pflege zu Hause größtenteils auf unbezahlter Arbeit basiert, ergibt sich der Handlungsbedarf fast automatisch. „Es sind bewusstseinsbildende Maßnahmen notwendig, die den Mehrwert und die Leistung qualifizierter Pflege- und Betreuungsarbeit sichtbar machen“, so Heidemarie Staflinger, Referentin der Abteilung Arbeitsbedingungen der AK Oberösterreich.

Auswirkungen des Personalmangels

Wenn es nicht mehr möglich ist, den Kranken und Angehörigen in belastenden Situationen beizustehen, sie zu beraten und ihnen zuzuhören, dann nimmt der Personalmangel Dimensionen an, die nicht mehr vertretbar sind. Das liegt nicht nur daran, dass der Pflegebedarf aufgrund des demografischen Wandels steigt, sondern auch daran, dass der Beruf für viele unattraktiv geworden ist und dass die Pflegenden selbst immer älter werden, in Pension gehen und zu wenige neue Kräfte nachrücken. Zudem wird die Pflege laut Claudia Fida, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, „mit hohen Arbeitsbelastungen, geringen Verdienstmöglichkeiten und unattraktiven Arbeitsbedingungen verbunden“. Daher wird es ihr zufolge immer schwieriger, PflegerInnen für den Beruf zu gewinnen und dort auch zu halten. Spitzen sich solche Probleme zu kommt es zu Pflegeskandalen wie jüngst bei der SeneCura-Gruppe.

Sinnstiftende Arbeit

Der tägliche Arbeitsalltag in der Pflege: ein Spagat zwischen Sinnstiftung und Überbelastung.
Staflinger weist darauf hin, dass aktuelle Studien wie der Arbeitsklima-Index belegen, dass „mehr als 90 Prozent der Beschäftigten ihre tägliche Arbeit in der Langzeitpflege als interessant und sinnstiftend beurteilen“. Das ist neben dem Bedürfnis, helfen zu wollen und für das Wohl der Menschen mit Pflegebedarf zu sorgen, auch der häufigste Grund, sich für diesen Beruf zu entscheiden. Zumindest theoretisch. Denn in der Praxis erleben viele einen „täglichen Spagat zwischen Sinnstiftung und Überbelastung“, so Christian Seubert, Arbeits- und Organisationspsychologe. Dabei sollte eigentlich der menschliche Aspekt im Vordergrund stehen.

Der menschliche Aspekt kommt oft zu kurz

Einen Menschen zu pflegen setzt viel Vertrauen voraus. Jemanden bei seinen krankheitsbedingten Einschränkungen und der Therapie zu unterstützen erfordert Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis. „Unterstützung geben heißt nicht, wie am Fließband Handgriffe zu erledigen“, betont Claudia Fida. „Allerdings haben Zuwendung, Wertschätzung und Empathie gegenwärtig kaum Platz im Pflegeprozess“, ergänzt sie.

Zuwendung, Wertschätzung und Empathie haben gegenwärtig kaum Platz im Pflegeprozess.

Claudia Fida, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Unterstützung bei der Körperpflege angewiesen, und dann kommt ein Unbekannter, der Ihnen beim Duschen hilft. Eine solche Tätigkeit kann nicht einfach funktional erbracht werden, ohne Rücksicht auf Vertrauen und Beziehung zwischen den Beteiligten. „Die Kunst der Pflege besteht in der behutsamen Berührung, in der Sensibilität für die Persönlichkeit und die aktuelle Stimmung des Gegenübers und im dadurch entstehenden Vertrauen, mit dem die unterstützten Menschen Pflege zulassen und annehmen können. Nur mit Kommunikation und Beziehung kann Pflege so durchgeführt werden, dass sie auch von den PflegeempfängerInnen akzeptiert wird“, merkt Kurt Schalek an, Referent in der Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik der AK Wien. Ist diese nicht gegeben, führt das verständlicherweise häufig zu Widerstand und Gegenwehr. Und das hat gravierende Folgen: „Aggressives Verhalten von Menschen mit Pflegebedarf ist vielfach eine Folge des Zeitdrucks, den die Pflegenden im Arbeitsalltag erleben und an die unterstützungsbedürftigen Menschen weitergeben“, so Schalek.

Fehlende Ressourcen

Die Konsequenz der Unterausstattung mit personellen Ressourcen: Minutenpflege
Das Problem liegt vor allem darin, dass „in den bestehenden Vorgaben für die personellen und finanziellen Rahmenbedingungen der Langzeitpflege Beziehung, Vertrauen und Kommunikation nicht als Leistungsbestandteile anerkannt werden, was zu einer systematischen Unterausstattung mit personellen Ressourcen führt“, erklärt Schalek. Das Resultat ist ihm zufolge eine sogenannte „Minutenpflege“, bei der das gesamte Leistungsspektrum der Pflege aufgrund von Ressourcenknappheit nicht umgesetzt werden kann. Und das führt zu Frustration, vor allem beim Pflegepersonal, aber auch bei den Menschen mit Pflegebedarf.

Wenig verwunderlich, dass es immer schwieriger wird, qualifizierte Pflegekräfte zu lukrieren, wenn die intrinsische Motivation, die viele antreibt, wenn sie sich für diesen Beruf entscheiden, nicht gegeben ist: dass „Menschen mit Pflegebedarf jene professionelle und menschliche Zuwendung erhalten, die sie brauchen“, so Staflinger. Im Pflegealltag sieht das folgendermaßen aus: „Der Zeitmangel macht den Pflegenden Stress, denn sie haben das Gefühl, den BewohnerInnen nicht das geben zu können, was diese dringend brauchen: Zeit und Zuwendung“, bemängelt Glaser.

Die Qualität von Beziehungen stellt einen entscheidenden Faktor für die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen dar.

Claudia Fida, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin

Claudia Fida merkt zudem an, dass „die Qualität von Beziehungen einen entscheidenden Faktor für die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen darstellt“. Das einzige Problem ist, dass Beziehungsarbeit nicht messbar ist. Aber das macht sie nicht weniger wichtig. Was es für die Pflege braucht? Fida plädiert dafür, „Vertrauen und Beziehungen aufzubauen und ein pflegerisch fachliches Leadership zu übernehmen anstelle von Fließbandarbeit und der Aneinanderreihung von Tätigkeiten“. Denn genau das ist das Kerngeschäft der Pflege.

Pflege neu denken

Die Pflege ist eine sinn- und gesundheitsfördernde, ganzheitliche Tätigkeit, wird aber nicht als solche gesehen. Deshalb muss ein Umdenken stattfinden: Die offiziell definierten Aufgaben der Langzeitpflege müssen neu bestimmt werden. „,Warm, satt, sauber‘ ist weder eine sinnvolle sozialpolitische Zielsetzung, noch schafft dieser Ansatz Anreize für die Arbeit in Pflegeberufen“, kritisiert Kurt Schalek. Er resümiert, was es stattdessen braucht: „Ein zeitgemäßer Auftrag an die Langzeitpflege umfasst eben auch Beziehungsaufbau, Vertrauensbildung und Kommunikation ebenso wie personenorientiertes Vorgehen für die individuelle Betreuung jedes Menschen.“ Konkret bedeutet das, dass der Personalbedarf künftig realistisch und bedarfsorientiert berechnet werden muss. Dafür müssen auch „Gesprächszeiten, Aus-, Fort- und Weiterbildungen, pflegerische und interdisziplinäre Fallbesprechungen, Supervision, der erhöhte Betreuungsaufwand bei Menschen mit Demenz und geplante sowie ungeplante Fehlzeiten“ berücksichtigt werden.

,Warm, satt, sauber‘ ist weder eine sinnvolle sozialpolitische Zielsetzung, noch schafft dieser Ansatz Anreize für die Arbeit in Pflegeberufen.

Kurt Schalek, AK Wien

Es geht auch anders

Dass das möglich ist, zeigen die Niederlande mit dem sogenannten Buurtzorg-Modell. 2006 starteten dort einige Gemeindeschwestern und -krankenpfleger ein Projekt der ganzheitlichen, wohnortnahen Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Im Zentrum der Zielsetzung stand „die Aufwertung der beruflichen Kompetenzen des Pflegepersonals und die Ermöglichung ganzheitlicher Pflege, entsprechend den Bedürfnissen der KlientInnen“, fasst Kai Leichsenring, Direktor am European Centre for Social Welfare Policy and Research, das Bestreben zusammen. Seit den ersten Anfängen entstanden in den Niederlanden bereits über 900 solcher Teams, und die Zufriedenheitswerte bei MitarbeiterInnen und KlientInnen sind überragend.

Und im Endeffekt geht es ja genau darum: dass jene Menschen, die pflegebedürftig sind, die bestmögliche Unterstützung und Zuwendung erhalten und auch das Pflegepersonal die nötige Kapazität bereitgestellt bekommt, um genau das auch zu leisten.

Weiterführende Artikel auf dem A&W-Blog

Langzeitpflege zwischen Imagepolitur und zeitgemäßen Rahmenbedingungen Mehr Zeit für Betreuung – ein Auftrag für die Entwicklung zeitgemäßer Personalberechnungen in der Langzeitpflege Die „unsichtbare“ Qualität der Langzeitpflege Pflege als Industrie? Das Buurtzorg-Modell: Ein neues Paradigma für die Organisation von Arbeit

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Über den/die Autor:in

Beatrix Ferriman

Beatrix Ferriman hat internationale Betriebswirtschaft an der WU Wien, in Thailand, Montenegro und Frankreich studiert. Sie ist Autorin, Schreibcoach sowie freie Redakteurin für diverse Magazine und Blogs.

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