Der menschliche Aspekt kommt oft zu kurz
Einen Menschen zu pflegen setzt viel Vertrauen voraus. Jemanden bei seinen krankheitsbedingten Einschränkungen und der Therapie zu unterstützen erfordert Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis. „Unterstützung geben heißt nicht, wie am Fließband Handgriffe zu erledigen“, betont Claudia Fida. „Allerdings haben Zuwendung, Wertschätzung und Empathie gegenwärtig kaum Platz im Pflegeprozess“, ergänzt sie.
Zuwendung, Wertschätzung und Empathie haben gegenwärtig kaum Platz im Pflegeprozess.
Claudia Fida, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Unterstützung bei der Körperpflege angewiesen, und dann kommt ein Unbekannter, der Ihnen beim Duschen hilft. Eine solche Tätigkeit kann nicht einfach funktional erbracht werden, ohne Rücksicht auf Vertrauen und Beziehung zwischen den Beteiligten. „Die Kunst der Pflege besteht in der behutsamen Berührung, in der Sensibilität für die Persönlichkeit und die aktuelle Stimmung des Gegenübers und im dadurch entstehenden Vertrauen, mit dem die unterstützten Menschen Pflege zulassen und annehmen können. Nur mit Kommunikation und Beziehung kann Pflege so durchgeführt werden, dass sie auch von den PflegeempfängerInnen akzeptiert wird“, merkt Kurt Schalek an, Referent in der Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik der AK Wien. Ist diese nicht gegeben, führt das verständlicherweise häufig zu Widerstand und Gegenwehr. Und das hat gravierende Folgen: „Aggressives Verhalten von Menschen mit Pflegebedarf ist vielfach eine Folge des Zeitdrucks, den die Pflegenden im Arbeitsalltag erleben und an die unterstützungsbedürftigen Menschen weitergeben“, so Schalek.
Fehlende Ressourcen
Wenig verwunderlich, dass es immer schwieriger wird, qualifizierte Pflegekräfte zu lukrieren, wenn die intrinsische Motivation, die viele antreibt, wenn sie sich für diesen Beruf entscheiden, nicht gegeben ist: dass „Menschen mit Pflegebedarf jene professionelle und menschliche Zuwendung erhalten, die sie brauchen“, so Staflinger. Im Pflegealltag sieht das folgendermaßen aus: „Der Zeitmangel macht den Pflegenden Stress, denn sie haben das Gefühl, den BewohnerInnen nicht das geben zu können, was diese dringend brauchen: Zeit und Zuwendung“, bemängelt Glaser.
Die Qualität von Beziehungen stellt einen entscheidenden Faktor für die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen dar.
Claudia Fida, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin
Claudia Fida merkt zudem an, dass „die Qualität von Beziehungen einen entscheidenden Faktor für die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen darstellt“. Das einzige Problem ist, dass Beziehungsarbeit nicht messbar ist. Aber das macht sie nicht weniger wichtig. Was es für die Pflege braucht? Fida plädiert dafür, „Vertrauen und Beziehungen aufzubauen und ein pflegerisch fachliches Leadership zu übernehmen anstelle von Fließbandarbeit und der Aneinanderreihung von Tätigkeiten“. Denn genau das ist das Kerngeschäft der Pflege.
Pflege neu denken
Die Pflege ist eine sinn- und gesundheitsfördernde, ganzheitliche Tätigkeit, wird aber nicht als solche gesehen. Deshalb muss ein Umdenken stattfinden: Die offiziell definierten Aufgaben der Langzeitpflege müssen neu bestimmt werden. „,Warm, satt, sauber‘ ist weder eine sinnvolle sozialpolitische Zielsetzung, noch schafft dieser Ansatz Anreize für die Arbeit in Pflegeberufen“, kritisiert Kurt Schalek. Er resümiert, was es stattdessen braucht: „Ein zeitgemäßer Auftrag an die Langzeitpflege umfasst eben auch Beziehungsaufbau, Vertrauensbildung und Kommunikation ebenso wie personenorientiertes Vorgehen für die individuelle Betreuung jedes Menschen.“ Konkret bedeutet das, dass der Personalbedarf künftig realistisch und bedarfsorientiert berechnet werden muss. Dafür müssen auch „Gesprächszeiten, Aus-, Fort- und Weiterbildungen, pflegerische und interdisziplinäre Fallbesprechungen, Supervision, der erhöhte Betreuungsaufwand bei Menschen mit Demenz und geplante sowie ungeplante Fehlzeiten“ berücksichtigt werden.
,Warm, satt, sauber‘ ist weder eine sinnvolle sozialpolitische Zielsetzung, noch schafft dieser Ansatz Anreize für die Arbeit in Pflegeberufen.
Kurt Schalek, AK Wien
Es geht auch anders
Dass das möglich ist, zeigen die Niederlande mit dem sogenannten Buurtzorg-Modell. 2006 starteten dort einige Gemeindeschwestern und -krankenpfleger ein Projekt der ganzheitlichen, wohnortnahen Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Im Zentrum der Zielsetzung stand „die Aufwertung der beruflichen Kompetenzen des Pflegepersonals und die Ermöglichung ganzheitlicher Pflege, entsprechend den Bedürfnissen der KlientInnen“, fasst Kai Leichsenring, Direktor am European Centre for Social Welfare Policy and Research, das Bestreben zusammen. Seit den ersten Anfängen entstanden in den Niederlanden bereits über 900 solcher Teams, und die Zufriedenheitswerte bei MitarbeiterInnen und KlientInnen sind überragend.
Und im Endeffekt geht es ja genau darum: dass jene Menschen, die pflegebedürftig sind, die bestmögliche Unterstützung und Zuwendung erhalten und auch das Pflegepersonal die nötige Kapazität bereitgestellt bekommt, um genau das auch zu leisten.