Arbeit&Wirtschaft: Braucht es eigentlich ein soziales Europa?
Wolfgang Petritsch: Ich vertrete hier eine sehr klare These: Ohne soziales Europa wird diese Europäische Union nicht wirklich erfolgreich sein und damit als Projekt scheitern. Warum? Weil die europäische und vor allem die westeuropäische Erfahrung nach 1945 der europäische Wohlfahrtsstaat ist.
Ich glaube, dass kollektive historische Erinnerungen gerade für das europäische Einigungsprojekt eine ganz entscheidende Rolle spielen. Wir reden immer wieder von der kulturellen und von der historischen Einheit dieses Kontinents und von der Demokratie in Athen. Aber meiner Meinung nach ist die wirklich entscheidende Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass es ein absolutes Kontrastprogramm zu dem gibt, was in der ersten Hälfte stattgefunden hat, und das ist der Sozialstaat. Das ist einfach ein Faktum.
Dass dieser in der Form, wie er ab 1945 aufgebaut worden ist, wahrscheinlich nicht mehr zeitgemäß ist, sondern sich den veränderten Gegebenheiten anpassen muss, das ist ja eh klar. Das liegt in der Natur der Sache. Aber der Kern ist, dass der Mensch soziale Sicherheit neben anderen Aspekten von Sicherheit als zentral betrachtet – das muss einfach jedem Politiker klar sein.
Sicherheit und soziale Sicherheit
Wobei momentan die Sicherheit ohne die soziale Sicherheit eine viel wesentlichere Rolle spielt. Das Soziale scheint in den Hintergrund gerückt zu sein.
Das ist dem amerikanischen, globalen Krieg gegen den Terror geschuldet, wo man sagt, dass dieser die größte Gefahr ist. Das ist empirisch völlig daneben, denn wenn man die Zahlen vergleicht, wer wodurch stirbt, dann kennt man die wirklichen Gefahren, und da sind gerade die sozialen Bedingungen in einer Gesellschaft ganz entscheidend.
Das soziale Europa hat es auch vor „9/11“ nicht gerade leicht gehabt.
Absolut. Wir leben eben immer noch unter den neoliberalen Vorzeichen, die zwar in einzelnen Staaten, wie zum Beispiel Österreich, abgeschwächt worden sind. Letzten Endes glaube ich, dass die Ursache für den Populismus, der jetzt so überhandnimmt, darin liegt, dass der Mensch sich nicht sicher fühlt. Der Populismus macht die militärische Sicherheit, die Abwehr nach außen hin zum Hauptthema.
Aber dahinter steckt tatsächlich viel mehr: eben die Erfahrung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das heißt, dass es so etwas wie eine umfassende Sicherheit geben kann und diese Sicherheit durch die bekannten Maßnahmen hergestellt wird: Angefangen damit, dass man ein halbwegs gutes Leben führen kann über die Arbeitsplatzsicherheit bis hin zur Pension. All das spielt eine viel entscheidendere Rolle, der Mensch ist ja ein soziales und nicht so sehr ein militärisches Wesen.
Wie kommt es, dass konservative Parteien dem Sozialen nur noch so wenig Wert beimessen?
Zuerst hat der Populismus die Parteien links der Mitte getroffen, jetzt auch jene rechts der Mitte. Diese wirren Reaktionen wie in Bayern sind hilflose Versuche, sich tagespolitisch noch über die nächste Wahl zu retten. Völlig defensiv natürlich, weil man die Inhalte aufgegeben hat, wofür eine christlich-soziale Partei stehen soll.
Vorher hat die Sozialdemokratie mit dem Dritten Weg eine Richtung eingeschlagen, die in eine sozialdemokratische Sackgasse geführt hat. Dies geschah eher aus der Ratlosigkeit heraus, wie man der Globalisierung und dem Neoliberalismus beikommt. Das musste natürlich scheitern, und da müssen wir wieder raus.
Das Interessante ist ja, dass der Neoliberalismus die Krise von 2007 in einer wirklich befremdlichen Art und Weise überlebt hat. In Wirklichkeit ist die Rolle des Staates bei der amerikanischen und europäischen Bankenrettung ganz entscheidend gewesen. Wenn man das damit vergleicht, was als Konsequenz dieser Krise für den Sozialbereich gemacht worden ist, etwa bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit oder der Arbeitslosigkeit im Allgemeinen: Das ist ja lächerlich! Die Europäische Union hat mehrere hundert Milliarden für die Bankenrettung ausgegeben und nur ein Zehntel davon für die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit budgetiert.
Das merken die Menschen. Nur laufen sie den Rattenfängern der Rechtspopulisten nach, die diese Schlacht gewinnen – im Augenblick. Aber ich bin überzeugt, dass das nicht einfach gegeben ist, sondern ich sehe da durchaus Alternativen, und die liegen zum Beispiel in einem sozialen Europa. Wenn ich zum Beispiel an einen Herrn Kurz denke, der sagt, es wird nie ein soziales Europa geben: Da merkt man eben, dass er keine Ahnung hat, was einen Wohlfahrtsstaat eigentlich ausmacht, und wie wichtig die Unterstützung derer ist, die sich schwertun – für die Menschen und für eine Gesellschaft des Ausgleichs.
Die Idee eines vereinten Europas
Zählt Kurz zu einer Generation, die jene Bedeutung bereits vergessen hat, die Sie anfangs betont haben?
Der Erfolg dieser ersten wichtigen Phase der Europäischen Integration ist ja, dass es seit 70 Jahren keinen Krieg im integrierten Europa gab – außer natürlich in Jugoslawien. Das wollte man fortschreiben, wegen des großen Erfolgs prolongieren sozusagen. Das geht aber nicht. Man muss sich der neuen Fragestellungen annehmen. Heute stellt sich natürlich die soziale Frage ein bisschen anders. Die junge Generation arbeitet im Prekariat und fühlt sich nicht nur vom Staat in dieser Form nicht vertreten. Außerdem herrscht auch ein größeres Selbstbewusstsein, dass man die Welt selbst erobern kann. Daraus spricht natürlich der Neoliberalismus, der sagt: Du bist derjenige, der für dein Schicksal verantwortlich ist.
Das ist aber eine sehr kurzfristige Sicht, denn es gibt Menschen, die aus diesem Schema rausfallen, und das sind sehr viele – und um die muss man sich kümmern. Man muss darauf schauen, wie man beim Sozialstaat Freiheit und soziale Unterstützung auf einen Nenner bringen kann.
Macht eine nochmalige Erweiterung der EU denn noch Sinn oder überdehnt sie sich damit?
Ich glaube, es ist wichtig zu fragen: Was sind die Kosten für die Sicherheit eines Europas, das noch nicht voll integriert ist, das noch nicht alle Regionen inkorporiert hat? Für den Balkan zum Beispiel stellt sich heraus: Egal, ob weitere Länder in absehbarer Zeit beitreten oder nicht – die politischen oder finanziellen Kosten für die Entwicklung tragen wir. Insofern stimmt die Rechnung nicht, dass man sich etwas erspart, wenn man diese Länder draußen lässt.
Ich bin kein unkritischer Befürworter der Erweiterung, denn gerade, wenn es um die Staaten Ex-Jugoslawiens geht, sehe ich die neue Gefahr, dass in diesem gespaltenen Europa die Orbans und Kaczynskis noch zusätzlich gestärkt werden. Denn sie haben eine ähnliche Geschichte, eine der Nicht-Demokratie. Das muss schon seriöser Weise gesagt werden.
Ich stehe deshalb dem Mantra, auch der österreichischen Außenpolitik, kritisch gegenüber, das besagt: Wir wollen den Balkan drinnen haben. Ihn will ich natürlich auch drinnen haben, aber die Frage ist: Unter welchen Bedingungen und in welcher Form stärkt es das Einigungsprojekt und wann schwächt es dieses sogar? Dass sie nie beitreten können, glaube ich aber auch nicht – im Gegenteil.
Die größte Herausforderung ist wahrscheinlich nicht so sehr eine wirtschaftliche oder politische. Es ist diese fast ideologische, ideengeschichtliche Herausforderung, dass es dort eben wenig Traditionen der Demokratie oder einer liberalen Gesellschaft gibt. In diese Richtung muss man arbeiten. Dafür muss man viel stärker auch mit der Zivilgesellschaft kooperieren, die in Ex-Jugoslawien sehr lebendig ist, oder mit den Gewerkschaften, den Interessenvertretungen und so weiter. Das halte ich für enorm wichtig, und das geschieht meiner Meinung nach zu wenig.
Lobbys, Druck und Gegendruck
Apropos Gewerkschaften: Wie nehmen Sie deren Rolle innerhalb der EU wahr? Es wird bisweilen der Eindruck vermittelt, sie hätten gar keine mehr.
Ja, das ist der Eindruck. Das hängt auch damit zusammen, dass die EU-Kommission immer noch so etwas wie ein neoliberales Projekt verfolgt. Früher gab es die Sozialistische Internationale, und zwar noch bevor es die EU gab. Jetzt gibt es eine Internationale der Industrie und nicht von den VertreterInnen eines sozialen Europas. Das halte ich für ein riesengroßes Problem. Ich glaube, dass sich die Gewerkschaften stärker europäisieren müssen.
AK und Gewerkschaften halten dem Druck der Lobbys mit ihren zwei Brüsseler Büros sehr tapfer entgegen.
Ja, das stimmt, die machen sehr viel. Aber allein schon die finanzielle Ausstattung der Industrielobby ist um einiges größer. Auch das ist wiederum Folge einer Neoliberalisierung der europäischen Politik. Und da müsste man nicht nur dagegenhalten, sondern noch stärker alternative Ideen und Projekte entwickeln.
Exit und Beitrittskandidaten
Momentan scheinen „-exits“ fast schon in Mode zu sein. Besteht die Gefahr, dass die EU zerfällt?
Ich habe die längste Zeit geglaubt, die EU ist sozusagen fix. Die EU ist auch nicht durch externe Kräfte oder durch den Beitritt von neuen Staaten per se gefährdet, sondern von innen heraus. Ich halte diese Tendenz wirklich für brandgefährlich – weniger in Osteuropa, weil dort ist es historisch teilweise noch nachvollziehbar, sondern mehr in Westeuropa.
Österreich hat da gewissermaßen eine Art Brückenfunktion im negativen Sinn. Wenn sogar die demokratischen Bastionen in Westeuropa so sehr infrage gestellt werden – in Großbritannien, aber auch in den Niederlanden oder in Deutschland mit der AfD – dann ist, glaube ich, die österreichische Seele relativ rasch dabei zu sagen: Na ja, schauen wir uns das einmal an. In dem vorauseilenden Gehorsam oder Opportunismus ist der Österreicher ja wirklich ein Champion. Das hat im Grunde mit der eigenen historischen Erfahrung mit Demokratie zu tun – die ist ja auch nicht so brillant.
Wir sind also sicher keine Verteidiger, sondern eher Follower von Trends. Das eigentliche Problem für mich ist, dass jetzt EU-Staaten, die so toll dastehen wie Österreich – wirtschaftlich, gesellschaftlich, wo also viel von dem abgewendet wurde, was der Neoliberalismus brachte –, ihre Stärken nicht nützen, sondern opportunistisch abgleiten. Und zwar in eine Richtung, die letzten Endes für uns nicht gut sein wird. Wir sind zu Besserem fähig, das ist das Stichwort.
Sich in Richtung Visegrád zu orientieren: Was soll das? Wir haben uns sogar zu Zeiten des Kalten Krieges ganz eindeutig in Richtung Westen orientiert, am westlichen Wohlfahrtsstaat, ohne dass wir die Beziehungen zur Sowjetunion oder zu Osteuropa abgebaut hätten. Das war immer da und das ist auch wichtig.
Noch einmal zurück zum Balkan: Wie groß sind denn die Erwartungen an die EU oder ist da eine gewisse EU-Müdigkeit zu spüren?
Wenn ich dort unterwegs bin, werde ich immer wieder gefragt: Wie lange wollt ihr uns noch warten lassen? Meine Antwort ist dann immer: Macht selbst, was ihr könnt. Macht keine Reformen für die EU, sondern für euch selbst. Und orientiert euch an dem, was in Westeuropa passiert, aber seid nicht sklavisch von dem Ruf abhängig: Ok, jetzt dürft ihr rein. So funktioniert das nicht.
Egal, wie lange das dauert, es wird notwendig sein, dass man basierend auf den eigenen Erfahrungen eine Gesellschaft aufbaut, auf den positiven wie negativen natürlich – und basierend darauf, was von der eigenen Bevölkerung dann auch wirklich mitgetragen wird. Das halte ich für entscheidender, als dann zu sagen: Wir warten jetzt bis 2025 und dann wird alles besser.
Welche Folgen das hat, sieht man zum Beispiel in Kroatien sehr gut. Es ist das erste Beitrittsland, dem die Phase nach dem Beitritt nicht wirklich etwas gebracht hat. Ich führe das darauf zurück, dass man sozusagen einfach gewartet hat, nach dem Motto: Wenn wir drinnen sind, dann passiert irgendwie alles automatisch und wie durch ein Wunder. Dafür verantwortlich sind viele soziokulturelle Unterschiede, die fehlende Erfahrung mit der Demokratie und das autoritäre Gesellschaftsmodell, das nun wieder so en vogue ist.
Das sieht man auch in Polen. Unlängst habe ich mit dem früheren polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski gesprochen, der gesagt hat: Wir haben immer nur Wachstum gehabt und trotzdem sind wir abgewählt worden. Ja, offensichtlich lebt der Mensch nicht nur vom Brot allein. Ich glaube, die EU muss erst entdecken, dass es jenseits des Technokratischen und der reinen Wirtschaft mehr gibt – ein Lebensgefühl, eine Identifizierung mit dem, was dieses Europa ausmacht.
Man muss außerdem den Übergang vom Friedensprojekt zu etwas anderem schaffen. Wobei man natürlich den Aspekt des Friedens nicht aus den Augen verlieren darf, aber eben nicht oberlehrerhaft immer sagen sollte: Schaut’s, wir haben jetzt so gut im Frieden gelebt. Das allein wird nicht genügen.
Die Zukunft der aktiven Zivilgesellschaft
Letztlich liegen für Gewerkschaften sehr viele Themen auf der Hand: die Verteilungsfrage oder die fehlenden Konsequenzen aus der Krise. Warum fällt es so schwer, hierfür erfolgreich einzutreten?
Es gibt ja dieses Buch von Colin Crouch: „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ – und so ist es eben. Diese totale Diskreditierung des Neoliberalismus ist nicht eingetreten. Und zwar in Wirklichkeit dank des Einschreitens des Staates, den der Neoliberalismus ablehnt. Das ist ja das Paradoxe daran. Wenn alles privat ist und eine Bank vor die Hunde geht: Warum lassen wir das dann nicht zu?
Natürlich wissen wir, dass das so nicht geht. Allein schon deshalb, weil da dann wieder die Ärmsten drinnen hängen oder die, die ein bisschen was auf die Seite gelegt haben. Das war ja auch die Erklärung dafür, warum wir da noch einmal mehr Steuern hineinpulvern müssen – und dass der Staat dafür Schulden gemacht hat. Ich glaube, es ist wichtig, dass man wieder zu einer nüchternen Betrachtung hinfindet: Was ist die Rolle des Staates und was kann anders gemacht werden? Und in diesem Zusammenhang glaube ich wirklich, dass man versuchen sollte, die Zivilgesellschaft – was auch immer das im Einzelnen ist, etwa der aktive Bürger oder der Citoyen – stärker einzubeziehen. Es braucht eine Selbstermächtigung von den Menschen und von den Gewerkschaften. Natürlich muss man das auch vor dem Hintergrund sehen, dass sich die Arbeitsgesellschaft dem Ende zuneigt. Aber, und das ist das Entscheidende: Egal wie, die sogenannte soziale Frage wird es immer geben. Sie stellt sich anders, aber sie ist da.
Danke für das Gespräch.
Sonja Fercher
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/18.
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