Österreich verfügt über ein beneidenswert gutes Gesundheitssystem, Ärzt:innen gelingen medizinische Sensationen. Das ist, rein oberflächlich betrachtet, einfach großartig! Auch im Akutfall stehen so die Chancen auf bestmögliche Versorgung sehr gut. Ein Beispiel: Um 22.45 Uhr kommt eine 80-jährige Frau mit Untertemperatur, Blutdruckabfall und Verdacht auf Schlaganfall mit der Rettung in die Stroke-Unit eines Krankenhauses. Drei Stunden später bringt sie eine Rettung wieder nach Hause, die Laborbefunde und das MRT sehen gut aus, kein Schlaganfall. Doch Österreichs Gesundheitswesen hat seine Tücken. Anders dagegen die alltägliche medizinische Versorgung abseits des Notfalles, etwa in der Steiermark. Dieses Jahr testete die „Kleine Zeitung“ steirische Facharztpraxen. Zwar funktionierte die Terminvergabe in Notfällen, andere Fälle wurden jedoch gleich abgewiegelt, oder Patient:innen erhielten Termine mit extremen Wartezeiten. Im Schnitt warteten Patient:innen 145 Tage auf einen Urolog:innen-Termin. Bei Gynäkolog:innen waren es 99 Tage und 87 Tage bei Hautärzt:innen. Keine Werte zum Jubeln.
Österreichs Gesundheitswesen: Abwarten oder zahlen!
Gemessen an der Bevölkerung hat Österreich international die zweithöchste Anzahl an Ärzt:innen. Das zeigen Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). „Und trotzdem spüren alle eine Knappheit im niedergelassenen Bereich oder in den Spitälern“, sagt Julia Stroj, ÖGB-Referentin für Gesundheitspolitik. Vor allem bei bestimmten Fachärzt:innen und Hausärzt:innen stauen sich die Patient:innen, in Spitalsambulanzen ebenso. Um einen zeitnahen Termin zu ergattern, konsultieren viele deshalb einen Wahlarzt bzw. eine Wahlärztin. Dort müssen Patient:innen die ärztlichen Leistungen sofort bezahlen, ein Teil der Kosten wird von der Krankenkasse rückerstattet. Für Menschen mit wenig Einkommen ist das keine billige Option.
Mit dem bis zu 100.000 Euro hohen Bonus pro Arzt bzw. Ärztin wollte die Bundesregierung noch heuer 100 zusätzliche Kassenstellen in den Mangelfächern Allgemeinmedizin, Kinder- und Jugendheilkunde sowie Gynäkologie schaffen. Dass der geplante Startbonus als Lockmittel ausreicht, glaubt Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und Bau-Holz-Gewerkschafter, allerdings nicht. Anschubfinanzierungen wurden bereits in den letzten Jahren getestet, die „Ergebnisse waren überschaubar“, erinnert er sich. Wenn Ärzt:innen etwa nicht im nördlichen Weinviertel arbeiten wollen, nutze auch der Bonus nichts. „Ich möchte vor großer Euphorie warnen, dass jetzt schlagartig 100 zusätzliche Kassenordinationen aufsperren, aber wir werden die Stellen ausschreiben und hoffen auf erste Praxen im April 2024.“
Darüber hinaus wurde die Aufnahme psychologischer Leistungen in das ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) angekündigt. Damit kann die ÖGK endlich auch Verträge mit niedergelassenen Psycholog:innen abschließen – eine entscheidende Verbesserung der psychosozialen Versorgung für 7,5 Millionen Versicherte. Der Wille der Regierung ist zwar da, mit den finanziellen Ausgaben hapert es jedoch: 50 Millionen Euro sind fürs erste Jahr vorgesehen, im zweiten Jahr die Hälfte, und dann ist Schluss. „Uns einfach neue Leistungen umzuhängen, aber kein Geld dafür auszugeben, das geht einfach nicht“, ärgert sich ÖGK-Obmann Andreas Huss.
Woran es krankt
Besorgnis erregen auch andere Probleme. An allen Ecken und Enden fehlt es an Personal. Stationen sind gesperrt, Operationen werden verschoben, Ambulanzen sind überlastet. Selbst gängige Kontrolltermine kosten chronisch kranke Patient:innen rund drei Stunden Wartezeit. Manch Mediziner:in sieht die Notversorgung der Bevölkerung bereits in Gefahr.
Zwar unterstützt die Bundesregierung den Ausbau von Ambulanzen mit 600 Millionen Euro, doch die rar gesäten Primärversorgungszentren (PVZ) bleiben in der Minderheit. Unverständlich, denn gerade sie können Spitalsambulanzen entlasten. Zukunftsweisend binden die PVZ auch Pflegefachkräfte und Sozialarbeiter:innen in die Betreuung der Patient:innen mit ein – schließlich ist unser Gesundheitssystem nach wie vor allzu sehr auf Ärzt:innen fokussiert, obwohl die anderen Gesundheitsberufe viel der anfallenden Tätigkeiten abdecken könnten. „Ärzt:innen können Menschen, die aus sozialen Gründen belastet sind, noch und nöcher Medikamente verschreiben, aber die Patient:innen werden nicht gesund, solange das soziale Problem nicht gelöst wird“, schildert es ÖGK-Obmann Huss.
Sozialarbeiter:innen begleiten Patient:innen und sorgen dafür, dass sie an die richtige Stelle weitervermittelt werden. Sie kümmern sich darum, dass etwaige private Probleme angesprochen und vielleicht auch gelöst werden. Wie hilfreich ein Primärversorgungszentrum sein kann, zeigt sich in Böheimkirchen im Bezirk St. Pölten: Dort wirkt das PVZ stark in die Gemeinde hinein. „Sozialarbeiter:innen gehen mit Ernährungsberater:innen in die Kindergärten und reden mit den Kleinen übers Essen, oder sie gehen mit Sportmediziner:innen in die Schulen“, erzählt Huss. „Das wirkt wie ein Gesundheits-Netzwerk für die ganze Gemeinde.“
Österreichs Gesundheitswesen: Hoch motiviert trotz prekärer Bedingungen
„Nicht nur in den Krankenhäusern, sondern im gesamten Pflege-, Betreuungs- und Sozialbereich gibt es einen eklatanten Personalmangel. Wir bekommen immer mehr Aufgaben und Verantwortung“, sagt Beatrix Eiletz, Betriebsratsvorsitzende der Volkshilfe Steiermark. „Die Mitarbeiter:innen, überwiegend Frauen, haben das bis dato alles kompensiert. Jetzt geht es einfach nicht mehr.“ Eiletz vertritt rund 3.300 Kolleg:innen, sie betreut unter anderem Pflege– und Heimhelfer:innen, deren Arbeit körperlich und psychisch extrem anstrengend ist, drei Viertel der Beschäftigten sind bereits in Teilzeit. „Oft würden Kolleg:innen aber gerne eine höhere Stundenverpflichtung haben, bekommen diese jedoch nicht von ihrem Dienstgeber.“
Daneben wirken sich Inflation und die hohen Energiekosten auf die Arbeitnehmer:innen aus. Immer öfter hört die Betriebsratsvorsitzende auch von drohenden Delogierungen. Prekäre Situationen und frustrierende Erfahrungen zwingen Kolleg:innen des Öfteren zu einem Branchenwechsel – und das, obwohl ein Großteil der Mitarbeiter:innen hoch motiviert ist. „Die vielen Vorgaben und die eingeforderte Dokumentation der Fälle machen es mühsam“, weiß Eiletz. Das tägliche Gespräch, auf das sich beide Seiten freuen, findet kaum noch statt, es fühlt sich nach unpersönlicher Akkordarbeit an. Doch die Arbeitnehmer:innen wollen ihre Tätigkeit nicht wie Roboter erfüllen. „Wir brauchen Zeit, um Menschen betreuen zu können. Satt, warm und sauber alleine reicht nicht.“ In den Krankenhäusern kämpfen die Pfleger:innen mit ähnlichen Problemen. Der Personalstand ist so niedrig, dass Pflegefachkräfte kaum noch Freizeit planen können. „Es herrscht der Zwang der ständigen Verfügbarkeit – wer gerade daheim ist, muss jederzeit mit einem Anruf rechnen, um für eine Kolleg:in einzuspringen“, erklärt Andreas Huss.
Teure Gesundheit aus dem eigenen Börserl
Wer als Patient:in flächendeckend in Österreich die gleiche Kassenleistung erwartet, wird enttäuscht. Rund 70 Prozent aller Kassenleistungen werden in ganz Österreich angeboten, 30 Prozent allerdings nur in einzelnen Bundesländern. Derzeit gibt es eben neun Verträge, die mit den jeweiligen Landesärztekammern verhandelt werden. „Die Leistungen sollen in ganz Österreich vereinheitlicht und erweitert werden“, erklärt ÖGK-Obmann Huss. „Ärzt:innen sollten nach einem einheitlichen Leistungskatalog, der auch regionale Unterschiede bei den Honoraren berücksichtigt, bezahlt werden.“ Dafür ist allerdings viel Geld notwendig: Nur 300 Millionen Euro steuert die Regierung für alle Notwendigkeiten beim Ausbau der niedergelassenen Versorgung bei. „Ich weiß nicht, wie sich das ausgehen soll, denn insgesamt bräuchten wir 800 Millionen“, empört sich Huss.
Ein gerechtes System sollte den Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung unabhängig vom Einkommen garantieren. Doch 23 Prozent aller Gesundheitsausgaben finanzieren Österreicher:innen privat, etwa Selbstbehalte, private Krankenversicherungen, Wahlärzt:innen oder Hilfsmittel wie Brillen und Hörgeräte. Europaweit liegt der Durchschnittswert bei 12 bis 15 Prozent. Andreas Huss: „Wenn sich nur mehr Wohlhabende einen bestimmten Teil der Gesundheitsleistungen finanzieren können, dann ist das System nicht mehr solidarisch.“