Notstandshilfe – Vergleich mit Deutschland

Ein Bezug des Arbeitslosengelds II (Hartz IV) in Deutschland ist nur möglich, wenn kein Vermögen mehr vorhanden ist.
Foto (C) Heike / Adobe Stock

Inhalt

  1. Seite 1 - Hintergründe zur Hartz-IV-Reform
  2. Seite 2 - VerliererInnen der Hartz-IV-Reform
  3. Seite 3 - Auswirkungen der Hartz-IV-Reform
  4. Seite 4 - Profiteure der Hartz-IV-Reform
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Wenn die Regierung die Notstandshilfe abschafft, wird Österreich mit einem neuen Arbeitsmarktmodell konfrontiert, das stark an die Hartz-IV-Reformen Deutschlands erinnert. Wir werfen einen Blick zu unserem Nachbarn und sehen uns an, was das bedeutet.
Das Arbeitslosengeld II – besser bekannt unter Hartz IV – hat den Arbeitsmarkt Deutschlands stark verändert. Was ist Hartz 4? Dieses Modell, auf das auch die österreichische Regierung durch die geplante Abschaffung der Notstandshilfe zusteuert?

Hintergründe zur Hartz-IV-Reform

Vor der Einführung von Hartz IV gab es in Deutschland zwei Leistungen, die den Lebensunterhalt der Betroffenen gesichert haben: die Arbeitslosenhilfe, die vom Bund finanziert wurde, und die Sozialhilfe, die von den Kommunen finanziert wurde. Diese wurden zu einer Grundsicherung für Arbeitssuchende zusammengeführt: „Mit Hartz IV wurde in Deutschland bereits 2005 die mit der österreichischen Notstandshilfe vergleichbare Arbeitslosenhilfe abgeschafft“, erinnert sich Wilhelm Adamy, ehemaliger Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Fakten zur Hartz-IV-Reform

Vor der Reform gab es in Deutschland die vom Bund finanzierte Arbeitslosenhilfe und die von den Kommunen finanzierte Sozialhilfe. Diese wurden zu einer Grundsicherung für Arbeitssuchende zusammengeführt.

„Arbeitslose Personen erhalten zwar nach wie vor das Arbeitslosengeld I, das sich wie in Österreich am früheren Einkommen orientiert, […] längerfristig arbeitslose und erwerbsfähige Menschen sind jedoch auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende angewiesen, das Arbeitslosengeld II“, fasst Christine Stelzer-Orthofer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik der Johannes Kepler Universität Linz, zusammen. Und das bedeutet, dass „ein Bezug nur dann möglich ist, wenn (fast) kein Vermögen vorhanden ist“.

Bei den durchgeführten Arbeitsmarktreformen kann man von einer Abschaffung des mittleren Sicherungssystems sprechen. „Dies hat die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt erheblich verändert und massive Folgen nicht nur für Arbeitslose, sondern für das Beschäftigungssystem und die Gesellschaft insgesamt“, so Wilhelm Adamy. Peer Rosenthal, Referent der Geschäftsführung bei der Arbeitnehmerkammer Bremen, argumentiert, dass sich dieser Paradigmenwechsel auch „durch die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien bei Bezug von Arbeitslosengeld zeigt und der quasi grenzenlosen Zumutbarkeit im Hartz-IV-System“.

Wer einen Ein-Euro-Job ablehnt, wird sanktioniert: mit einer Kürzung des Arbeitslosengeldes um mindestens 30 %.

Dies zeigt auch die Tatsache, dass Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung eingeführt wurden, wie die besser als „Ein-Euro-Jobs“ bekannte Maßnahme offiziell genannt wird. Was von der Regierung als Unterstützung zur Eingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt gedacht war, bringt jedoch einen verheerenden Nachteil: Denn wer einmal einen Ein-Euro-Job im Lebenslauf hat, kämpft im Anschluss mit stark verringerten Chancen am Arbeitsmarkt. Ablehnen ist jedoch auch keine Alternative, denn wer einen ihm zugewiesenen Zusatzjob ohne wichtigen Grund nicht annimmt, wird sanktioniert: mit einer Kürzung des Arbeitslosengeldes um mindestens 30 %.

Wer sind die VerliererInnen der Hartz-IV-Reform?

Wilhelm Adamy fasst zusammen, wie sich die Arbeitsmarktreform auf die Betroffenen ausgewirkt hat: „Mit Hartz IV ging rund ein Fünftel der vormaligen BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe finanziell leer aus. Sie mussten den Einkommensausfall durch Arbeitslosigkeit ganz allein tragen.“ Und das hatte weitreichende Folgen.

Mit Hartz IV ging rund ein Fünftel der vormaligen BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe finanziell leer aus. Sie mussten den Einkommensausfall durch Arbeitslosigkeit ganz allein tragen.

Wilhelm Adamy, ehemaliger Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes

„Die VerliererInnen waren arbeitslose Menschen, die entweder keine Ansprüche oder verminderte Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung hatten. Arbeitslose waren aber auch die VerliererInnen, weil ihre Rechte eingeschränkt und Sanktionen verschärft wurden sowie der Zwang zur Annahme schlecht bezahlter Jobs (Ein-Euro-Jobs) erhöht wurde“, so Dennis Tamesberger, Referent für Arbeitsmarktpolitik in der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik der Arbeiterkammer Oberösterreich. Vor allem Frauen und Jugendliche sind davon überdurchschnittlich betroffen.

Die Reform hat sich vor allem durch die Mittelschicht gezogen. Als ehemaliger Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes weiß Wilhelm Adamy, wer vor allem zu den Betroffenen zählt: „Zu den VerliererInnen zählten insbesondere jene, die zuvor relativ gut verdient hatten oder in Haushalten lebten, wo der/die PartnerIn erwerbstätig war oder Rente bezog. Bestraft wurden vorrangig jene, die selbst gearbeitet hatten bzw. die Lohnersatzleistungen der Sozialversicherung erhielten bzw. deren PartnerInnen, auf die das zutraf.“

Die Auswirkungen der Hartz-IV-Reform

Gestiegenes Armutsrisiko von Arbeitslosen

Die wohl verheerendste Auswirkung der Hartz-IV-Reform ist die Verschärfung des Armutsrisikos von Arbeitslosen. Wie die folgende Grafik zeigt, ist das Armutsrisiko in Deutschland größer als in allen EU-Ländern. „Hier waren 70,8 % der Arbeitslosen in 2016 armutsgefährdet und mussten mit weniger als 60 % des mittleren Einkommens (inkl. Sozialleistungen) über die Runden kommen. Österreich lag hingegen knapp unter dem EU-Durchschnitt (48,7 %)“, so Adamy.

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Die Zahlen zeigen: „In Deutschland werden inzwischen mehr als zwei Drittel der Arbeitslosen vom Hartz-IV-System betreut, während die Arbeitslosenversicherung mehr und mehr an den Rand gedrängt wird“, gibt Adamy zu bedenken.  Zudem zieht er Bilanz: „Dies zeigt, wie löchrig das Netz der sozialen Sicherung für Arbeitslose in Deutschland geworden ist und Arbeitslose mehrheitlich auf das letzte soziale Netz angewiesen sind.“

Verschlechterte Arbeitsbedingungen

Die Reform traf nicht nur die primär Betroffenen, also die Arbeitslosen. Auch der gesamte Arbeitsmarkt hat die Auswirkungen gespürt. „Prekäre und schlecht bezahlte Arbeit breitete sich aus, Kernbelegschaften wurden eingeschüchtert und das soziale Klima wurde kälter“, führt der Arbeitsmarktpolitik-Experte Adamy aus. „Dies hat zweifelsohne die Zugeständnisse von Arbeitslosen erhöht, schlecht bezahlte Jobs und ungünstigere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Auch nach Einführung des Mindestlohns können Langzeitarbeitslose immer noch in Jobs gedrückt werden, wo die Löhne ein Drittel unter Tarif bzw. dem ortsüblichen Lohn liegen. Die Annahme von Ein-Euro-Jobs ist ebenso Pflicht.“

Für Beschäftigte wird es zur Bedrohung, bei Verlust des Arbeitsplatzes schnell von staatlicher Fürsorge leben, eigene Rücklagen aufbrauchen und jeden Job annehmen zu müssen

Wilhelm Adamy, ehemaliger Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Auch jene Personen, die sich in einem aufrechten Arbeitsverhältnis befinden, spüren den Druck. „Eine Abschaffung der Notstandshilfe entfaltet ihre abschreckende Wirkung auch in der Mitte der Arbeitswelt. Denn für Beschäftigte wird es zur Bedrohung, bei Verlust des Arbeitsplatzes schnell von staatlicher Fürsorge leben, eigene Rücklagen aufbrauchen und jeden Job annehmen zu müssen“, so Adamy.

Haben früher noch mehr Beschäftigte freiwillig ihren Arbeitsplatz gewechselt, ist diese Tendenz seit der Einführung von Hartz IV rückläufig. Wilhelm Adamy hat festgestellt: „Bei Beschäftigten wie der Bevölkerung insgesamt ist die Angst weit verbreitet, auf Hartz IV angewiesen zu sein.“

Mehr soziale Ausgrenzung und Polarisierung

Wer einmal im Umfeld prekärer Beschäftigung gelandet ist, hat es auch in Zukunft am regulären Arbeitsmarkt schwer. „Die Menschen verlieren ihren sozialen Status“, argumentiert Peer Rosenthal. „Das sieht man vor allem an der Veränderung des Anteils der Arbeitslosen, die eine auf das vorherige Einkommen bezogene Leistung beziehen: Waren dies vor den Reformen noch knapp 70 %, so ist ihr Anteil im ersten Jahr nach der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe auf 25 % eingebrochen und lag im letzten Jahr nur noch bei 15 %“.

Anteil der ArbeitslosengeldbezieherInnen in Deutschland, deren Unterstützungsleistung sich am vorherigen Einkommen orientiert

2004
68 %

2017
15 %

Hinzu kommt das Problem, dass sich Betroffene als abgeschrieben und überflüssig empfinden: „Arbeitslosigkeit und Armut bedeuten nicht allein, zu wenig Geld zu haben, sondern gehen oft auch mit den Gefühlen von Ohnmacht und Ausgeschlossenheit einher“, gibt Wilhelm Adamy zu bedenken.

 Wer hat eigentlich von der Hartz-IV-Reform profitiert?

Wenn man sich ansieht, was die Reform in Deutschland bewirkt hat, wird sehr schnell klar, wer die NutznießerInnen sind: „Es sind die Unternehmen, die niedrigere Löhne durchsetzen und höhere Gewinne abschöpfen wollen“, so Tammesberger. Er gibt außerdem zu bedenken: „Die Abschaffung der Notstandshilfe würde somit zu einer Einkommens-, Vermögens- und Machtverschiebung weg von den ArbeitnehmerInnen hin zu den Unternehmen führen.“

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Und was hat es gebracht? Ein ernüchterndes Resümee

In Deutschland ist die wirtschaftliche Entwicklung auf Grund des Konjunkturaufschwungs zwar gut, „Langzeitarbeitslose profitieren jedoch nur unterdurchschnittlich davon“, informiert Wilhelm Adamy. Auch auf die Zahlen der Langzeitarbeitslosen hatte die Reform keine Auswirkung. Es konnte kein Rückgang verzeichnet werden: „In 1993 zählten z. B. 27,8 % aller Arbeitslosen zu den Langzeitarbeitslosen und 2002 waren es 37,4 %. Mit den Hartz-Gesetzen erhöhte sich der Anteil zunächst auf über 40 %, sank dann wieder auf 33,3 % in 2009 und stieg bis 2017 wieder auf 35,6 %“, so Adamy.

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Zusammenfassend hält Wilhelm Adamy fest: „Die Integrationschancen von Langzeitarbeitslosen haben sich entgegen der Ankündigungen der Hartz-BefürworterInnen im längeren Zeitablauf nicht verbessert.“ All diese Erfahrungen zeigen, dass ein ähnliches Modell in Österreich ein Schritt in die falsche Richtung wäre und dass die Bundesregierung die Notstandshilfe erhalten sollte.

Weiterführende Artikel auf dem A&W-Blog

Warum will die Regierung die Notstandshilfe abschaffen? Warum Österreich die Notstandshilfe unbedingt erhalten sollte – Teil I Warum Österreich die Notstandshilfe unbedingt erhalten sollte – Teil II Hartz IV für Österreich: Finger weg von der Notstandshilfe, Herr Finanzminister! Hartz-Reformen: kein Vorbild, sondern aus der Zeit gefallen

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  1. Seite 1 - Hintergründe zur Hartz-IV-Reform
  2. Seite 2 - VerliererInnen der Hartz-IV-Reform
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Über den/die Autor:in

Beatrix Ferriman

Beatrix Ferriman hat internationale Betriebswirtschaft an der WU Wien, in Thailand, Montenegro und Frankreich studiert. Sie ist Autorin, Schreibcoach sowie freie Redakteurin für diverse Magazine und Blogs.

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