Mit Arbeit gegen Marktversagen – Judith Pühringer von arbeit plus im Interview

Interviewfoto Judith Pühringer
„Seit 2008 hat sich die Zahl der langzeitarbeitslosen Menschen verdreifacht. Diese Zahl wird in der Debatte um das Thema Arbeitsmarktpolitik vergessen. Es gibt aber in Summe immer weniger Jobs für Menschen mit geringer Qualifizierung oder Menschen mit Einschränkungen“, so Pühringer.
Fotos (C) Michael Mazohl

Inhalt

  1. Seite 1 - Langzeitarbeitslosigkeit und ihre Ursachen
  2. Seite 2 - Der Fachkräftemangel und die hohe Zahl älterer Arbeitsloser
  3. Seite 3 - Langzeitarbeitslosigkeit und ihre Folgen
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Langzeitarbeitslosigkeit macht krank und arm. 121.000 Menschen sind in Österreich davon betroffen. Ihnen nimmt die Regierung finanzielle Mittel und Beschäftigungsangebote weg. Ein Gespräch mit Judith Pühringer von arbeit plus – Soziale Unternehmen Österreich über den Arbeitsmarkt – seine Möglichkeiten, Risiken und Zukunft.
Judith Pühringer ist Geschäftsführerin von arbeit plus. Eine koordinierende Schnittstelle für 200 gemeinnützige Soziale Unternehmen, tätig in verschiedenen Branchen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, langzeitarbeitslose Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Netzwerk entstand vor über 30 Jahren unter Sozialminister Alfred Dallinger im Rahmen der „Aktion 8.000“. arbeit plus ist ein Sprachrohr für die Sozialen Unternehmen und für die Anliegen von langzeitarbeitslosen Menschen.

Frau Pühringer, was sind die häufigsten Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit?

Insgesamt sind die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit struktureller Art. Es gibt für bestimmte Gruppen von Menschen keine passenden Arbeitsplätze.

Insgesamt sind die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit struktureller Art. Es gibt für bestimmte Gruppen von Menschen keine passenden Arbeitsplätze. Von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind überdurchschnittlich oft Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen – physische und psychische. Dazu gehören auch Schicksalsschläge wie Unfälle. Eine weitere Ursache ist das Alter. Wir wissen, dass wir älter werden als die Generation vor uns. Und wir wissen, dass wir länger arbeiten müssen und das in Wahrheit auch wollen. Gleichzeitig haben es Menschen, die 45 oder 50 Jahre alt sind, schwer, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. Der dritte Punkt ist das Thema geringe Qualifizierung und auch das Thema Wiedereinstieg aufgrund von zum Beispiel Karenzzeiten.

Die Summe der Ursachen: eine Verdreifachung der Langzeitarbeitslosen in den letzten Jahren.

Das war die Wirtschaftskrise. Seit 2008 hat sich die Zahl der langzeitarbeitslosen Menschen verdreifacht. Diese Zahl wird in der Debatte um das Thema Arbeitsmarktpolitik vergessen. Es gibt aber in Summe immer weniger Jobs für Menschen mit geringer Qualifizierung oder Menschen mit Einschränkungen. Es gibt jetzt einen Wirtschaftsaufschwung, und man sagt zum Beispiel, man brauche Maßnahmen wie die „Aktion 20.000“ nicht mehr. Der Wirtschaftsaufschwung wird aber sicher nicht dafür sorgen, dass langzeitarbeitslose Menschen automatisch wieder einen Job finden.

Der fehlende Rückgang wundert mich, eine Krise kann ich mit den Wirtschaftsdaten nicht mehr belegen.

Wir sehen in Wirklichkeit ein totales Marktversagen. Immer mehr Menschen profitieren von einem Aufschwung nicht mehr. Es geht um Menschen, die eine Behinderung haben, mit einer Suchterkrankung kämpfen oder mit Schuldenproblematik.

Wir sehen in Wirklichkeit ein totales Marktversagen. Immer mehr Menschen profitieren von einem Aufschwung nicht mehr. Es geht um Menschen, die eine Behinderung haben, mit einer Suchterkrankung kämpfen oder mit Schuldenproblematik. Zu diesen Menschen sagen Firmen: „Ich nehme niemanden mit einer komplexen Problematik, ich nehme auch keinen mehr über 50 Jahre.“ Auch in sehr aufgeklärten Unternehmen, die ein Diversitymanagement haben, erleben wir dieses Phänomen. In so einer Situation wird nicht daran gedacht, Menschen mit großer Erfahrung zu nehmen oder zu halten. Es werden junge MitarbeiterInnen genommen. Menschen, die mehr Erfahrung haben, bleiben auf der Strecke. Gleichzeit verlangt man aber von ihnen, länger zu arbeiten, um die Pensionen überhaupt finanzieren zu können. Das passt nicht mehr zusammen.

Österreich steht im europäischen Vergleich sehr gut da, was die Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser betrifft. Was kann Österreich trotzdem besser machen?

Österreich hat eine lange Tradition auf diesem Gebiet – arbeit plus und seine 200 Sozialen Unternehmen gibt es seit 30 Jahren. Aber wir befinden uns leider auf dem Weg, diese Errungenschaften und Strukturen wieder zu zerstören. Die Strukturen, die wir haben, sind deswegen stark, weil die Sozialen Unternehmen regional verankert sind. Diesen Unternehmen stehen aber Kürzungen von bis zu 20 Prozent ins Haus. Viele überstehen vielleicht eine Kürzungswelle, aber keine zweite. Dann sind die Strukturen unwiederbringlich verloren. Die brauchen wir aber, um weiterhin Beschäftigung anbieten zu können und um Neues am Arbeitsmarkt auszuprobieren.

Was passiert stattdessen?

Die arbeitsmarktpolitischen Mittel werden aktuell gekürzt, was die Sozialen Unternehmen besonders hart trifft. Gleichzeitig wird eine Segmentierungsstrategie beim AMS eingeführt.

Die arbeitsmarktpolitischen Mittel werden aktuell gekürzt, was die Sozialen Unternehmen besonders hart trifft. Gleichzeitig wird eine Segmentierungsstrategie beim AMS eingeführt. Arbeitslose Menschen werden in drei Gruppen eingeteilt und die Gruppe mit den niedrigsten Arbeitsmarktchancen bekommt viel weniger Angebote. Außerdem gibt es aktuelle Pläne, die Notstandshilfe abzuschaffen. In Summe ergibt das ein explosives Gesamtpaket – das bedeutet „Hartz IV auf Österreichisch“.

Eine aktuelle Debatte.

Eine perfide Diskussion. Weil wir sie führen, ohne dass es einen aktuellen Grund gibt, das bestehende System in Frage zu stellen. Das Netz der Notstandshilfe aus dem System zu reißen bedeutet, mit einem Schlag 121.000 Menschen in die Mindestsicherung zu treiben. Also dorthin, wo sie keine Pensionsansprüche haben, wo es Vermögenszugriff geben wird, wo sie nichts hinzuverdienen können und wo es einen brutalen Statusverlust gibt. Es ist Kalkül, diese Gruppe ins Abseits zu drängen.

Was ist ihr Wunsch an die Politik?

Es geht darum, zukunftsorientiert zu denken und Experimente zu wagen. Die Lust am Experimentellen zu entdecken. Die Politik muss sagen, dass wir eine gute Konjunktur haben und genau deswegen in die Zukunftsfragen des Arbeitsmarktes investiert wird. Dabei geht es nicht nur um Erwerbsarbeit. Es gibt auch Sorgearbeit, Freiwilligenarbeit, Arbeit an sich selbst und wir wissen, dass Arbeit in allen Facetten extrem ungleich verteilt ist. Da gibt es viel zu verhandeln und zu diskutieren. Weil die Arbeitswelt im Umbruch ist, muss man auch über die sozialen Sicherungssysteme der Zukunft diskutieren.

„Das Wording ist sehr entlarvend. Und das Wording ist zentral: Am „zweiten Arbeitsmarkt“ und an „Scheinjobs“ will sich kein Unternehmer beteiligen. Dabei wäre es eine gute Möglichkeit, Facharbeiter auszubilden.“ Pühringer übt Kritik an sprachlicher Abwertung durch Kanzleramtsminister Gernot Blümel.

Wie erklären ArbeitgeberInnen den Fachkräftemangel auf der einen Seite und die hohe Zahl älterer Arbeitsloser auf der anderen Seite?

Das ist in der Tat widersprüchlich. Österreich hat spät begonnen sich zu fragen, wie mit dem Wissen und Erfahrungsschatz älterer Facharbeiter umgegangen werden muss. Es gab ein paar oberflächliche Initiativen, aber im Vergleich zu den skandinavischen Ländern, die sich viel länger damit beschäftigen, wie man mit einer älterwerdenden Gesellschaft umgeht, finde ich, dass Österreich weit zurückliegt und es auch jetzt nicht schafft, diesen Widerspruch aufzulösen. Weil wir vom Fachkräftemangel reden, aber eben zehntausende arbeitslose ältere Menschen haben. Statt innovative Modelle zu entwickeln, wird eine Kürzungspolitik gefahren.

Ein Lösungsansatz der Politik ist es, Fachkräfte aus dem Ausland zu holen und so auch den Lohndruck zu erhöhen.

Wir werden Facharbeiter aus dem Ausland brauchen. Wir müssen uns überlegen, wen wir wollen, wen wir brauchen und wie wir diese Prozesse organisieren. Aber es braucht ebenso einen Fokus auf arbeitslose Menschen, die es bei uns gibt.

Mein Zugang ist, nichts auszuschließen, und nicht beide Gruppen gegeneinander auszuspielen. Wir werden Facharbeiter aus dem Ausland brauchen. Wir müssen uns überlegen, wen wir wollen, wen wir brauchen und wie wir diese Prozesse organisieren. Aber es braucht ebenso einen Fokus auf arbeitslose Menschen, die es bei uns gibt. Für diese Formen der Fachkräfteausbildung braucht es entsprechende budgetäre Mittel.

Ein Problem ist auch die Sprache. Gernot Blümel nannte ihre Art der Arbeitsvermittlung den „sekundären Arbeitsmarkt“, Sebastian Kurz degradierte sie zu „Scheinjobs“.

Das Wording ist sehr entlarvend. Und das Wording ist zentral: Am „zweiten Arbeitsmarkt“ und an „Scheinjobs“ will sich kein Unternehmer beteiligen. Dabei wäre es eine gute Möglichkeit, Facharbeiter auszubilden. Wenn Sebastian Kurz von Scheinjobs redet, polarisiert das. Der zweite Arbeitsmarkt und staatlich geförderte Jobs werden gegen den ersten Arbeitsmarkt ausgespielt. Dabei müssten sie viel stärker kooperieren, damit beide Seiten erfolgreich sein können. Die Wirtschaft könnte enorm vom Know-how und Wissen der Sozialen Unternehmen profitieren, was die Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt und das Thema Arbeiten und Lernen betrifft.

Was würden Sie sich von der Politik im Umgang mit Langzeitarbeitslosen erwarten?

Langzeitarbeitslose Menschen gehen nicht mehr wählen. Das belegen quantitative Studien. Es gibt aber auch qualitative Studien, die untersuchen, warum sie nicht mehr wählen gehen. Und das spannende ist, dass sie nicht deshalb nicht wählen gehen, weil sie kein Interesse haben, wie das oft unterstellt wird, sondern weil das Nicht-Wählen-Gehen in Wirklichkeit ein politisches Statement ist. Sie fühlen sich nicht mehr angesprochen, es gibt keine Partei, die ihnen Angebote macht. Insofern ist das Thema Langzeitarbeitslosigkeit im letzten ein demokratiepolitisches Thema. Es geht um Menschen, die sich nicht mehr gebraucht fühlen und sich auch nicht gehört fühlen. Mein Wunsch an die Politik wäre, sich mit langzeitarbeitslosen Menschen zu beschäftigen, ihnen zu begegnen, das Gespräch mit ihnen zu suchen. Angebote zu machen. Im Moment erleben viele, dass sie abgestempelt, stigmatisiert und beschämt werden.

Hat sich die Wahrnehmung von Arbeitslosigkeit in den letzten 50 Jahren geändert?

Meine Generation ist eine der letzten, die davon ausgegangen ist, dass man mit einer guten Ausbildung kein Problem hat, einen Job zu finden und ihn auch zu behalten. Aber in der darauffolgenden Generation sind die Erwerbsbiografien brüchiger geworden.

Das wird sehr unterschiedlich empfunden. Meine Generation ist eine der letzten, die davon ausgegangen ist, dass man mit einer guten Ausbildung kein Problem hat, einen Job zu finden und ihn auch zu behalten. Aber in der darauffolgenden Generation sind die Erwerbsbiografien brüchiger geworden. Lineare Arbeitsverläufe sind seltener geworden, womit Arbeitslosigkeit in die Mitte der Gesellschaft rückt. Wir können alle jederzeit davon betroffen sein. Diese kollektive Wahrnehmung, dass Arbeitslosigkeit uns alle irgendwann mal betrifft, die wird stärker. Allgemeinwissen ist das aber noch nicht.

Ein nicht-linearer Verlauf muss nichts Negatives sein.

Das stimmt. Aber es gibt einen massiven Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Ausbildung. Fast jede/r zweite Arbeitssuchende beim AMS hat nur einen Pflichtschulabschluss. Daher ist die Verknüpfung zwischen Arbeitsmarktpolitik und Bildungspolitik so wichtig. Wir verhandeln zwei Systeme nebeneinander statt miteinander, was zu falschen Schlüssen führt.

Was wäre so ein falscher Schluss?

Sehr viele Studien belegen, dass Österreich viel zu früh beginnt, im Bildungssystem zu segregieren. Dass also bei Kindern früh entschieden wird, welche weitere Schulbildung sie haben werden. Das ist verheerend unter anderem auch deshalb, weil es das Thema Chancengleichheit am Arbeitsmarkt betrifft.

Wenn ich mit einem Pflichtschulabschluss mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent arbeitslos werde, ist meine Berufserfahrung dann überhaupt etwas wert?

Die Frage wird eher sein, ob es die passenden Jobs noch gibt. Wir sind ja aktuell in sehr großen Transformationsprozessen, gerade auch durch die Digitalisierung.

Die Frage wird eher sein, ob es die passenden Jobs noch gibt. Wir sind ja aktuell in sehr großen Transformationsprozessen, gerade auch durch die Digitalisierung. Gerade Jobs mit geringer Qualifikationsanforderung werden mit Sicherheit weniger. Dass viele Jobs wegrationalisiert oder automatisiert werden, merken wir nicht in zehn Jahren, sondern schon jetzt.

„Frauen sind strukturell benachteiligt am Arbeitsmarkt. Durchgängig. Das beginnt beim Gender Pay Gap – der Gehaltsunterschied trotz gleicher Qualifikation und Tätigkeit im gleichen Job. Dann gibt es das große Thema Kinderbetreuung und Wiedereinstieg.“

Gibt es glückliche Arbeitslose? Studien belegen, dass prekäre Arbeitsplätze Menschen psychisch genauso belasten wie Arbeitslosigkeit.

Ich bin überzeugt, dass Langzeitarbeitslosigkeit nicht glücklich macht. Im Gegenteil. Langzeitarbeitslosigkeit macht krank und verzweifelt.

Wenn man diesen Vergleich zieht, dann mag das stimmen. Es ist aber kein hilfreicher Vergleich. Weil Menschen natürlich vor allem Arbeit brauchen, die ihnen Sinn gibt und auch in gewissem Sinn Freude macht. Ich bin überzeugt, dass Langzeitarbeitslosigkeit nicht glücklich macht. Im Gegenteil. Langzeitarbeitslosigkeit macht krank und verzweifelt. Deswegen dürfen wir Langzeitarbeitslosigkeit auch nicht zulassen. Deswegen braucht es gute Angebote, um Menschen aus Langzeitarbeitslosigkeit zu befreien.

Was sind diese Angebote?

Verschiedene Pilotmodelle mit freiwilligem Zugang (Anmerkung: sogenannte „BBEN“) werden gerade erfolgreich angeboten. Langzeitarbeitslose Menschen können dort verschiedene Freizeitangebote in Anspruch nehmen, ohne Druck zusammenkommen und Perspektive finden. Ich finde das gut, weil das bestärkend ist und es Menschen Druck nimmt. Ich finde, das solche Angebote ein sehr guter Einstieg sein können, es darf nur nicht das einzige Angebot bleiben. Im Moment ist das aber vorgesehen. Einige Menschen können so von alleine wieder einen Job finden. Aber das wird nicht für alle dauerhaft zutreffen.

Wie sieht die Lösung aus?

Wenn es am Arbeitsmarkt ein Marktversagen gibt, wenn also die private Wirtschaft nicht bereit ist, älteren Menschen und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen Jobs zur Verfügung zu stellen, dann muss der Staat diese Jobs schaffen.

Wenn es am Arbeitsmarkt ein Marktversagen gibt, wenn also die private Wirtschaft nicht bereit ist, älteren Menschen und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen Jobs zur Verfügung zu stellen, dann muss der Staat diese Jobs schaffen. Diese müssen qualitätvoll sein, eine Perspektive für die Menschen eröffnen und durchlässig sein für den ersten Arbeitsmarkt. Dafür braucht es aber vor allem sehr gute Kooperationen mit privaten Unternehmen. Auf allen Ebenen.

Welchen Folgen hat Langzeitarbeitslosigkeit?

Langzeitarbeitslosigkeit hat Folgen auf vielen Ebenen. Eine ist, dass sie sehr schnell in die Armut führt. Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit sind zu 80 Prozent von Armut betroffen. Menschen verlieren sehr schnell ihre Existenzgrundlage. Die zweite Ebene ist, dass Langzeitarbeitslosigkeit krank macht. Das betrifft die physische wie auch die psychische Gesundheit, also das Wohlbefinden insgesamt. Die dritte Ebene ist, dass Arbeitslosigkeit in soziale Ausgrenzung führt. Menschen ziehen sich zurück, verlieren ihren Freundeskreis und ihre Tagestruktur. Das führt zu Depressionen.

Welche Hilfe brauchen Langzeitarbeitslose konkret?

Sie brauchen auf keinen Fall mehr Druck. Den haben sie ohnehin, weil Langzeitarbeitslosigkeit und der damit verbundene Existenzdruck und Statusverlust Druck macht und Stress auslöst.

Sie brauchen auf keinen Fall mehr Druck. Den haben sie ohnehin, weil Langzeitarbeitslosigkeit und der damit verbundene Existenzdruck und Statusverlust Druck macht und Stress auslöst. Was es braucht sind passende Unterstützungsangebote.

Was kann man darunter verstehen?

Haben langzeitarbeitslose Menschen eine gesundheitliche Einschränkung, können sie beispielsweise nicht gleich in Vollzeit arbeiten. Sie können am Anfang vielleicht nur fünf Stunden pro Woche arbeiten. Es gibt Pilotprojekte, die diese niederschwelligen Einstiege anbieten. Hier können Menschen zu Beginn stundenweise arbeiten, dann stufenweise mehr. Soziale Unternehmen sind hier sehr gute Wegbegleiter bei einem schrittweisen Einstieg in den Arbeitsmarkt.

Gibt es Unterschiede, ob jemanden aus der Unter-, Mittel oder Oberschicht arbeitslos wird?

Grundsätzlich macht es keinen Unterschied dahingehend, wie man das Thema Langzeitarbeitslosigkeit erlebt. Wir sprechen von sehr menschlichen Reaktionen, die für uns alle ähnlich sind. Das sind Emotionen, die mich in meinem tiefsten Menschsein berühren; nämlich welchen Freundeskreis ich habe, ob ich wertgeschätzt werde und ob mein Potenzial und meine Erfahrung und mein Wissen erkannt werden.

Macht es einen Unterschied, ob ich kündige oder gekündigt werde?

Nur im ersten Moment. Wenn ich von mir aus kündige, habe ich das Gefühl, einen autonomen Schritt gesetzt zu haben. Wenn ich erkenne, dass ich keine Anschlussperspektive habe, dann macht es keinen Unterschied mehr.

Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Frauen sind strukturell benachteiligt am Arbeitsmarkt. Durchgängig. Das beginnt beim Gender Pay Gap – der Gehaltsunterschied trotz gleicher Qualifikation und Tätigkeit im gleichen Job. Dann gibt es das große Thema Kinderbetreuung und Wiedereinstieg. Frauen, die vorher Vollzeit gearbeitet haben, kehren danach nicht wieder Vollzeit in den Job zurück, sondern reduzieren die Stunden und sind dann die, die weniger Karrieremöglichkeiten haben. Das unterbricht die Erwerbsbiografie und zieht sich hin bis zur Gefahr der Altersarmut, da erwartet Frauen dann der Gender Pension Gap.

Gibt es Branchen, die von Langzeitarbeitslosigkeit besonders betroffen sind?

Es zieht sich durch alle Branchen, Arbeitslosigkeit betrifft wie schon erwähnt Menschen mit geringer Qualifikation, mit gesundheitlichen Einschränkungen und Ältere – das betrifft fast jede Branche.

Was sind die häufigsten Fehler im Umgang mit langzeitarbeitslosen Menschen?

Einer der wichtigsten Punkte ist, keine Schuldfrage zu stellen. Weil Langzeitarbeitslosigkeit keine Frage von individuellem Verschulden ist, sondern eine Frage der Beschaffenheit und der Möglichkeiten des Arbeitsmarktes ist.

Einer der wichtigsten Punkte ist, keine Schuldfrage zu stellen. Weil Langzeitarbeitslosigkeit keine Frage von individuellem Verschulden ist, sondern eine Frage der Beschaffenheit und der Möglichkeiten des Arbeitsmarktes ist. Da Arbeitslosigkeit auch zu sozialer Ausgrenzung führt, ist es wichtig dieser Ausgrenzung entgegenzuwirken. Dafür müssen oft auch eigene Ängste überwunden werden.

Haben Sie Ratschläge an Langzeitarbeitslose?

Nicht glauben, selbst Schuld zu sein, Kontakt mit dem eigenen Freundeskreis und Umfeld halten, sich vernetzen, sich auch ohne Erwerbsarbeit engagieren, soweit das möglich ist. Menschen wollen sinnvoll tätig sein und Arbeit ist extrem vielfältig. Erwerbsarbeit ist ja nur ein Teil davon. Alle Menschen haben wunderbare Fähigkeiten und Kompetenzen. Wenn man sie in dem Moment nicht in Erwerbsarbeit einbringen kann, gibt es viele andere Möglichkeiten, das zu tun. Für Existenzsicherung, Zugang zu sozialen Dienstleistungen und Zugang zum Arbeitsmarkt zu sorgen, ist die Aufgabe der Politik.

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  1. Seite 1 - Langzeitarbeitslosigkeit und ihre Ursachen
  2. Seite 2 - Der Fachkräftemangel und die hohe Zahl älterer Arbeitsloser
  3. Seite 3 - Langzeitarbeitslosigkeit und ihre Folgen
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Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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