Europäischer Betriebsrat: Neue Eurovisionen

Rudolf Kortenhof. Ein Europäischen Betriebsrat kann Tariflöhne massiv steigern.
Rudolf Kortenhof ist seit 2015 Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats bei RBI. Auch er pocht auf eine Neuauflage der Europäischen Betriebsratsrichtlinie. | © Markus Zahradnik
Auf EU-Ebene gibt es rund 1.200 Betriebsräte. Bis dato hat es für Konzerne kaum Konsequenzen, wenn sie den Europäischen Betriebsrat umgehen. Das Europäische Parlament will dessen Rechte nun stärken und legte im Februar einen Reformvorschlag vor.
Der herrliche Ausblick über den Wiener Stadtpark lässt sich an diesem Donnerstagnachmittag nur erahnen. Blickt Rudolf Kortenhof durchs Fenster seines Büros im 6. Stock der Raiffeisenbank International (RBI), sieht er an diesem Tag ein paar Dutzend Bäume, die nahtlos ins Grau von Wolken, Nebel und Regen übergehen. Kortenhof fungiert seit 2015 als Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats der RBI. Er serviert Wasser und lehnt sich in seinem grünen Sessel zurück. Auf dem Besprechungstisch liegt ein gut 300 Seiten starker Wälzer: „Der Europäische Betriebsrat. Inklusive Ausführungen zur neu gefassten EBR-Richtlinie“. Das „Neu“ bezieht sich in diesem Fall auf das Jahr 2009. Nicht nur Kortenhof pocht darauf, dass zeitnah eine Neuauflage erscheint. Ein moderner Europäischer Betriebsrat benötigt moderne Richtlinien.

Medial wird der Europäische Betriebsrat (EBR) gerne mal als „zahnloser Tiger“ bezeichnet. In der Tat hat das Gremium im Vergleich zum nationalen Pendant relativ wenige Möglichkeiten, Einfluss auf Konzernentscheidungen und Personalpolitik zu nehmen. Das Europäische Parlament will den EBR nun stärken und stimmte Anfang Februar über einen „legislativen Initiativbericht“ ab. Was kann das bringen? Und ist der EBR so zahnlos, wie er manchmal dargestellt wird?

Europaweit rund 18.000 Betriebsrät:innen

Seit den 1960er Jahren fordern Gewerkschaftsbewegungen eine transnationale Erweiterung der Betriebsräte. Wenn Unternehmen zunehmend über Ländergrenzen hinweg wirtschaften, bräuchten auch Lohnabhängige Möglichkeiten, sich zu vernetzen. Erste informelle europäische Betriebsräte etablierten sich im Laufe der 1980er, letztlich dauerte es bis ins Jahr 1994, bis die „Richtlinie 94/45 des Rates der EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates“ verabschiedet wurde. 2009 wurde diese grundlegend überarbeitet. Die Richtlinie gibt die groben Rahmenbedingungen vor, die Implementierung obliegt den einzelnen Mitgliedsländern. Österreich passte das Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) 2010 an die Richtlinie an.

Ein Schild in einem Gang des Raiffeisen-Gebäudes. Es trägt die Aufschrift "Betriebsrat".
© Markus Zahradnik

Einen EBR kann jedes Unternehmen gründen, dessen Belegschaft mehr als 1.000 Lohnabhängige umfasst und diese auf mindestens zwei Standorte mit je mehr als 150 Beschäftigten in mindestens zwei europäischen Ländern verteilt sind. Europaweit kämen rund 2.400 Unternehmensgruppen für einen EBR in Frage, derzeit nehmen rund 1.200 Unternehmen diese Möglichkeit wahr. Jährlich kommen in etwa 30 dazu. Die meisten EBR-Mitglieder, gut 18 Prozent (Stand: 2018), zählt Deutschland. Auf Österreich entfallen europaweit rund drei Prozent der EBR-Mitglieder. Insgesamt sind laut Europäischem Parlament etwa 18.000 europäische Betriebsrät:innen aktiv, rund 82 Prozent davon sind männlich.

Ein Europäischer Betriebsrat besitzt ein Recht auf Information und Konsultation durch die Konzernleitung über Entscheidungen und Entwicklungen, die grenzüberschreitende Auswirkungen auf die Lohnabhängigen in einem Unternehmen haben. Will ein Unternehmen beispielsweise Stellen abbauen oder den Produktionsstandort verlagern, muss der EBR darüber informiert und in die Entscheidung miteinbezogen werden.

RBI-Betriebsrat Kortenhof spricht vom EBR als „Informations- und Konsultationsgremium“. Zweimal jährlich kommen er und seine EBR-Kolleg:innen zu einer ordentlichen Sitzung zusammen, jeweils einmal in Wien und einmal an einem Standort eines anderen EBR-Mitglieds. „Im Vordergrund steht der Informationsaustausch“, erklärt Kortenhof. Die einzelnen Delegierten legen jeweils Länderberichte vor und diskutieren überwiegend Personalthemen. Mit dabei ist auch der RBI-Generaldirektor und informiert über die wirtschaftliche Entwicklung des Konzerns.

Etablierte EBR-Strukturen

Teil dieses Informationsaustauschs ist auch die Weitergabe von gewerkschaftlichem und Betriebsrats-Know-how, berichtet Kortenhof. So versuchten etwa die RBI-Kolleg:innen am kroatischen Standort eine Betriebs-Gewerkschaft (vergleichbar mit einem Betriebsrat in Österreich) zu gründen. Zunächst vergeblich, mit der Unterstützung aus Wien gelang 2018 die Gründung. Arbeitsbedingungen, vor allem Tariflöhne, konnten seither entschieden verbessert werden, betont Kortenhof.

Was Kortenhof hier im Kleinen beschreibt, findet sich in einer Studie des European Parliamentary Research Services im Großen: Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 verloren in Unternehmen mit einen EBR weit weniger Menschen ihren Job als in Unternehmen ohne einen solchen. Selbiges beschreibt die Studie für die Anfangszeit der Corona-Pandemie (die Studie wurde 2021 veröffentlicht). Durch etablierte EBR-Strukturen und einen entsprechenden Austausch von Konzernspitze und Beschäftigten gelang es häufiger, sich auf Kurzarbeitsregelungen zu einigen und Kündigungen zu verhindern.

Unser Ziel ist es, die Mitbestimmungsmöglichkeiten von EBRs auf
Konzernebene zu erhöhen und Rechte besser durchzusetzen. 

Manuel Stolz, Abteilung Europa, Konzerne und
internationale Beziehungen in der GPA

Doch die Studie weist auch auf entscheidende Schwachstellen innerhalb der geltenden EBR-Richtlinie hin. Da die transnationalen Betriebsräte vor allem als Informations- und Konsultationsorgan dienen, aber kein echtes Mitspracherecht haben, ist es für die Konzernspitze ein Leichtes, deren Meinung zu übergehen. Laut einer Erhebung des European Trade Union Institute (ETUI) werden EBRs oftmals selten oder viel zu spät in Unternehmensentscheidungen miteingebunden. Nur in vier Ländern, darunter in Österreich, können EBR-Mitglieder überhaupt den Rechtsweg bestreiten und ein Gerichtsverfahren auf Geheiß des EBRs einleiten. In der Praxis wenden sich nur 16 Prozent bei Konflikten mit der Geschäftsführung an Gerichte. Die Strafen für ein Unternehmen, das die Rechte des EBRs ignoriert, sind teilweise absurd gering und betragen in Malta oder Litauen teils nicht mehr als 23 bzw. 30 Euro. Die „Höchststrafe“ kann in Spanien vergeben werden, 187.515 Euro, ein Körberlgeld für internationale Konzerne.

Überraschend „gewerkschaftsfreundlich“

Diese Baustellen will das Europäische Parlament nun angehen. Auf Initiative des CDU-Politikers Dennis Radtke (EVP) hat das Parlament Anfang Februar einen Vorschlag angenommen, um die Rechte und Kompetenzen der europäischen Betriebsrät:innen zu stärken. 385 EU-Parlamentarier:innen stimmten für den Vorschlag, 118 dagegen. „Wir wollen das Rad nicht neu erfinden, sondern das bestehende Recht stärken und besser umsetzen“, erklärte Radtke nach der Abstimmung. Der Bericht sieht unter anderem wirksame und abschreckende Sanktionen und einen effektiven Zugang zum Justizsystem vor. Strafen für Unternehmen, die EBR-Rechte missachten, sollen laut Bericht bis zu zehn Millionen Euro bzw. vier Prozent des weltweiten Konzernumsatzes betragen. Außerdem sieht der Bericht eine Erhöhung der Mindestanzahl der EBR-Sitzungen von einer auf zwei pro Jahr vor.

Willi Stöckl und Sandra Steiner sitzen auf Stühlen, vor sich zwei Tassen Kaffee.
Als börsennotiertes Unternehmen mit knapp 111.000 Beschäftigten hat Atos keinen EBR, sondern einen „Societas Europaea Council“ – für Willi Stöckl und Sandra Steiner ist das „Sozialpartnerschaft auf globaler Ebene“. | © Markus Zahradnik

Manuel Stolz, Mitarbeiter in der Abteilung Europa, Konzerne und internationale Beziehungen der GPA, ist vom Abstimmungsergebnis positiv überrascht. Er bewertet den EBR-Bericht als durchaus „gewerkschaftsfreundlich“, die allermeisten Forderungen der Gewerkschaftsbewegungen seien im Forderungskatalog enthalten. Einen „zahnlosen Tiger“ sieht Stolz im EBR keinen. Der regelmäßige Austausch der Betriebsrät:innen auf europäischer Ebene schafft Möglichkeiten, sich einen Überblick zu verschaffen, Netzwerke zu knüpfen und Informationen auszutauschen. „Vieles, was ein Europäischer Betriebsrat für die Beschäftigten erstreitet, passiert weniger auf direktem, sondern auf indirektem Weg“, bekräftigt Stolz.

„Sozialpartnerschaft auf globaler Ebene“

Die Firma Atos SE ist bereits einen Schritt weiter. Beim IT-Dienstleister mit Sitz in Bezons bei Paris sind in Sachen europäische Arbeitnehmer:innenvertretung bereits viele Forderungen erfüllt, die im Vorschlag des Europäischen Parlaments enthalten sind. Als börsennotiertes Unternehmen mit knapp 111.000 Beschäftigten hat Atos keinen EBR, sondern seit 2011 einen sogenannten SEC (Societas Europaea Council). Der Atos-SEC besteht aus insgesamt 35 Mitgliedern, mit fünf Personen kommen die meisten Delegierten entsprechend der Beschäftigtenzahl aus Frankreich. Österreich entsendet mit rund 1.800 Beschäftigten ein Mitglied: Willi Stöckl.

Porträt Kortenhof. Er sitzt auf einem Stuhl.
„Dank EBR ist 2018 die Gründung einer Betriebs-Gewerkschaft am kroatischen Standort von RBI gelungen. Seither haben sich dort die Arbeitsbedingungen
und Tariflöhne deutlich verbessert“, erzählt Kortenhof.

Der Atos-Konzern ist so etwas wie der Wandel in Permanenz, erklären Stöckl und Sandra Steiner, Betriebsratsvorsitzende bei Atos und GPA-Frauenvorsitzende. Beständig werden Teile des Konzerns verkauft, andere aufgekauft; es wird fusioniert, abgespalten – und vor allem: gewachsen. Informationsbeschaffung und der Austausch zwischen Betriebsrät:innen sind das A und O. Im Gegensatz zu den EBRs, denen ein jährliches Meeting garantiert ist, finden bei Atos jährlich drei ordentliche Sitzungen statt. Hinzu kommen zahlreiche außerordentliche Treffen. „De facto treffen wir uns jedes Monat“, sagt Stöckl. Steiner sieht hierin auch einen Vorteil für das Management. In einem hierarchisch strukturierten Konzern wie der Atos SE könnten Umstrukturierungen nur durch einen reibungslosen Informationsfluss zwischen Management, Betriebsrät:innen und Beschäftigten friktionsfrei ablaufen. Steiner spricht von „Sozialpartnerschaft auf globaler Ebene“.

Zudem verfügt der SEC über mehr Kompetenzen und kann vom Management schwieriger übergangen werden als der EBR. Solange das Gremium zu einer Konzernentscheidung keine Stellungnahme abgegeben hat, darf diese auch nicht umgesetzt werden. Besonders wichtig sei der SEC in Ländern, in denen sonst kaum Betriebsratsstrukturen existieren, wie in Rumänien oder Bulgarien. Denn auch diese Länder entsenden Delegierte in das europäische Gremium. Als sich der Atos-Konzern vergangenes Jahr aus Litauen zurückzog, konnte der SEC die Kündigungsfrist von einen Monat auf drei Monate heben und eine Abschlagszahlung für die Mitarbeiter:innen wegverhandeln.

Mehr Mitbestimmung nötig

Der Vorwurf, Europäische Betriebsräte seien „zahnlose Tiger“, stützt sich vor allem auf die Kritik, dass Rechte und Kompetenzen im Vergleich zu den nationalen Organen schwächer ausgeprägt sind. Hört man sich unter europäischen Betriebsrät:innen um, hat das auch durchaus seine Berechtigung. Einerseits müssten Entscheidungen auf höchster Ebene teils innerhalb kürzester Zeit getroffen werden – den Europäischen Betriebsrat hier miteinzubinden, sei weder praktikabel noch sinnvoll. Andererseits sind die lokalen Gegebenheiten wie Sozialleistungen, Arbeitsgesetze, Steuersystem oder Gewerkschaftsstrukturen der einzelnen Standorte oftmals zu unterschiedlich, um hier als EBR kollektive, für alle verbindliche Entscheidungen treffen zu können.

Zuallererst aber ist nun die EU-Kommission gefragt. Diese hat angekündigt, den Initiativbericht des Europäischen Parlaments zur Anpassung der EBR-Richtlinie zu prüfen und nach einer Konsultation mit den Sozialpartnern bis spätestens Jänner 2024 einen Reformvorschlag vorzulegen. Aus der Sicht von Manuel Stolz sind in diesem Prozess zwei Dinge wichtig: „Einerseits darf der jetzige Vorschlag nicht verwässert werden.“ Einige der Begriffe und Prozesse im jetzigen Vorschlag seien schwammig, unklar definiert und ließen in der Praxis viel Interpretationsspielraum. Hier müsse präzisiert werden. „Andererseits muss die Durchsetzbarkeit der Rechte des EBRs gestärkt werden. Es muss unser Ziel sein, die Mitbestimmungsmöglichkeiten von EBR auf Konzernebene zu erhöhen und mehr Mitwirkungsmöglichkeiten zu erzielen.“

Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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