Führen ohne Chef? So werden manche neuartige Organisationsmodelle in Unternehmen schon in Branchen- und Consultingportalen angepriesen. So rosarot und basisdemokratisch ist die Mitbestimmungskultur dann natürlich in der Regel nicht, aber oft steigt das Betriebsklima merklich.„Loslassen lohnt sich!“, legen Berater:innen und Coaches längst den autokratischen Kontrollfreaks nahe. Botschaft: Chefs, schafft euch ab! En vogue ist heutzutage etwa das Führungskonzept der Holokratie. Anders als in hierarchischen Strukturen mit starren Abteilungen – Abteilungsleiter:innen, Stellvertreter:innen, Mitarbeiter:innen – treten kreisförmige, flexible Strukturen, die sich an wechselnde Aufgaben adaptieren können. Mehr „Basisdemokratie“ und „Selbstorganisation“ verspricht das Organisationsmodell. Und eine für das Unternehmen günstige Anpassungsfähigkeit, die von den Beschäftigten außerdem weitgehend selbst erledigt wird. Das Linzer Elektronikunternehmen KEBA ist ein gutes Beispiel. „Die Umstellung funktionierte fast reibungslos“, erzählt Betriebsratsvorsitzender Tom Metschitzer. „Der Betriebsrat war von Beginn an involviert. Ich hatte irgendwann sogar die Sorge: Habe ich etwas übersehen? So etwas kann doch nicht ohne Konflikte ablaufen!?“
Gegenwärtig reden alle von den 3D – Demografie, Digitalisierung, Dekarbonisierung – aber Demokratie, das vierte D, wird dann gelegentlich vergessen.
Sven Rahner, Forscher an der Universität Kassel
Mitbestimmungskultur selbst gestalten
Rund 1.200 Beschäftigte hat die KEBA heute allein am Standort Linz, ein großes Unternehmen des produzierenden Gewerbes. Es stellt Steuerungstechnik und Automatisierungslösungen her – etwa für Industrie oder den Energiebereich, für Robotik, Bankautomaten, Heizungssteuerung und vieles mehr. Ein solches Unternehmen muss flexibel auf schnelle Änderungen der Auftragslage und Veränderungen des Marktes reagieren. Starre Hierarchien wurden durch wendigere („agile“) Führungs- und Organisationsstrukturen ersetzt, nach dem Prinzip holokratischer Kreisstrukturen.
Innerbetriebliche Konflikte haben durch die neue Mitbestimmungskultur deutlich abgenommen. Hierarchie gibt es immer noch, aber sehr flache. Und der gesamte Prozess der Reform wurde vom Vorstand und den Mitarbeiter:innen über alle Abteilungen und alle Ebenen umgesetzt. Eine Betriebskultur, die, so berichtet Metschitzer, heute auch dem Unternehmen nützt, weil sich das herumspricht „und es oft schon ein Anreiz ist, zur KEBA zu kommen“.
Ein Glücksfall, ein Sonderfall, nicht verallgemeinerbar, würden jetzt wahrscheinlich viele sagen. Ein Unternehmen in einer Boombranche, das gut verdient, mit hoch qualifizierten Mitarbeiter:innen und Fachkräften mit viel Verhandlungsmacht am Arbeitsmarkt. Zugleich ist das Unternehmen mit 1.200 Mitarbeiter:innen am Standort und 2.000 Mitarbeiter:innen weltweit sehr groß.
Visionen klopfen ans Betriebstor
Mitbestimmung, innerbetriebliche Demokratie, Demokratisierung der Arbeitswelt, ja, sogar „Wirtschaftsdemokratie“ – in den 1960er- und 1970er-Jahren waren diese Begriffe Codewörter für radikale Reformen. Getragen von der Vision, dass die Demokratie vor Betriebstoren nicht haltmachen dürfe! Im österreichischen Betriebsverfassungsgesetz ist die institutionelle Mitbestimmung klar geregelt. In Österreich spielen Betriebsräte von großen Konzernen im Aufsichtsrat oft eine wichtige Rolle. Doch neben der institutionellen Mitwirkung und dem Co-Management ist auch die Mitbestimmungskultur von Unternehmen relevant – jenseits des formal geregelten.
Für Mitbestimmung spricht zunächst, dass sich autokratische Managemententscheidungen oft „gegen die Interessen von Beschäftigten (richten), obwohl diese durch ihre Arbeit den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens erst möglich machen“, formulierte etwa der deutsche Gewerkschafts-Vordenker Lothar Wentzel. „Das will Wirtschaftsdemokratie ändern.“ Klaus Dörre, der Jenaer Soziologe, ergänzt, Menschen haben ein Bedürfnis nach „Ausweitung individueller Freiheit“. Alle Erfahrung zeigt, dass Unternehmen mit einem hohen Grad an betrieblicher Mitbestimmung in mittlerer Frist bessere Arbeitsbedingungen haben werden. Die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten ist dann höher, ebenso die Identifikation mit dem Unternehmen. „Für mich ist die Kern-Frage: Ist die Arbeit demokratieverträglich, ist sie sogar in sich demokratisch organisiert?“, sagte der Sozialphilosoph Axel Honneth unlängst im A&W-Gespräch.
Big Data in Arbeit
Stefan Satzinger ist Betriebsrat bei Siemens Healthineers mit Sitz in Linz, einer Tochter des Siemens-Konzerns. Als Betriebsrat hat er sich in das Thema Datenschutz eingegraben. Denn grundsätzlich droht in einer stark digitalisierten Produktion der gläserne Mitarbeiter, die Kolleg:innen sind deshalb voller Sorge. Kann man sich wirklich darauf verlassen, dass E-Mails nicht gelesen und elektronische Datenspuren nicht gesammelt werden? „Big Data ist natürlich ein firmeneigener Schatz“, sagt Satzinger, und als zuständiger Betriebsrat muss man sich in die Thematik einarbeiten, zum Forscher werden, weil man stets auch mitbedenken müsse, „was irgendwann möglich sein könnte“. Satzinger: Die Kolleg:innen müssen sich darauf verlassen können, „dass anonym auch anonym bleibt“.
Der Betriebsrat ist ein gutes Beispiel dafür, wie Mitbestimmung positive „Übertragungs“-Effekte für das Unternehmen selbst hat. Siemens produziert nicht nur das technische Equipment für bildgebende Verfahren (MRT, CT, Ultraschall), sondern auch die Serverinfrastruktur und die Zugriffsmöglichkeiten für Ärzt:innen und Spitäler. Auch hier ist der Datenschutz absolut essenziell, schließlich handelt es sich um heikle Daten von Patient:innen. Die Expertise, die die Belegschaftsvertretung aufgebaut hat, „hat der Firma dann auch viel gebracht“.
Digitalisierung ist für Betriebsratsarbeit längst ein zentrales Thema, das auch die Mitbestimmung berührt. Als vor einem Jahr bei den Kollektivvertragsverhandlungen Kampfmaßnahmen im Raum standen und eine Betriebsversammlung einberufen wurde, wurde die über Teams durchgeführt. Satzinger: „Aber das mache ich ungern.“ Betriebsratsarbeit brauche den persönlichen Kontakt. In dezentralen Unternehmen, in einer Ära, wo viele im Homeoffice sitzen, werden die Fäden des Vertrauens lockerer. Auch die informellen Initiativen der Beschäftigten funktionieren schlecht, wenn man sich nicht mehr zu einem Gespräch in der Kaffeeküche treffen kann.
Der Tod jeder Mitbestimmungskultur
Nimmt man in der Universität Wien den rechten Seiteneingang, dann kommt man gleich zum Auditorium maximum, wo große Geister gelehrt haben und Generationen von Studierenden mit heißen Herzen ihre politischen Kämpfe ausgefochten haben. Linke Rebellen haben es alle paar Jahre besetzt, die „Schmetterlinge“ haben hier legendäre Konzerte gespielt, etwa die „Proletenpassion“, in der der Ruf „wir wollen mehr Demokratie“ ein eingängiger Refrain ist. Gleich neben dem Audimax befindet sich ein kleines, dunkles Kammerl – der Besprechungsraum des Betriebsrats. Marion Polaschek ist stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, zuständig für das „allgemeine Universitätspersonal“. Also: Nicht für Professor:innen und sonstige Lehrende, sondern für alle anderen. Von den Buchhalter:innen, über die Projektmanger:innen, von Techniker:innen, Laborangestellten, bis zum Facility Management. Die Universität Wien ist eines der größten Unternehmen der Stadt und seit Anfang des Jahrtausends als privatrechtliches Unternehmen organisiert. Aus Beamt:innen wurden Angestellte. Aus der Personalvertretung ein Betriebsrat. Dutzende Besoldungsstufen wurden in ein einfacheres System überführt.
In einer Ära, wo viele im Homeoffice sitzen, werden die Fäden des Vertrauens lockerer. Auch die informellen Initiativen der Beschäftigten funktionieren schlecht, wenn man sich nicht mehr zu einem Gespräch in der Kaffeeküche treffen kann.
Universitäten sind schon von ihrer Kultur her „sehr elitär“, sagt Polaschek, und „extrem hierarchisch“. Professor:innen waren früher einmal quasi halbe Götter, Dekane blickten auf das Fußvolk herab. Diese Kultur verschwindet nicht in ein paar Jahrzehnten. Die „Unternehmensleitung“, also das Rektorat, ist zwar das Gegenüber der Belegschaftsvertretung – aber oft geht es um Geld, und das ist knapp. Schließlich bestimmt die Politik über die Höhe der verfügbaren Mittel. In den Universitätskulturen hat sich eine radikale Prekarität breit gemacht, mit projektbezogenen Anstellungen und beinahe prinzipiellen Befristungen.
Vor allem der Mittelbau des wissenschaftlichen Personals muss alle paar Jahre die Universität wechseln. Polaschek: „Diese Prekarität schwappt auf den gesamten Betrieb über. Auch viele Beschäftigte bei temporären Projekten haben nur befristete Verträge. Aber die Befristungen sind der Tod jeder Mitbestimmung.“ Wer weiß, dass er in drei Jahren nicht mehr im Unternehmen ist, wird sich kaum in den Betriebsrat wählen lassen, dessen Funktionsperiode fünf Jahre dauert. „Und wer in einer instabilen Beschäftigung ist, der oder die wird eher seltener Konflikte riskieren oder den Kopf zu sehr rausstrecken.“
Beste Mitbestimmungskultur
Der Soziologe Hubert Eichmann erforscht beim FORBA-Institut die Gegenwart und den Wandel der Arbeitswelt und zeichnet ein differenziertes Bild von den Mitbestimmungskulturen. Es gibt, gerade in großen Konzernen, ein häufig perfektioniertes System bis hin zum Co-Management. Rund 85 Prozent der Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten haben einen Betriebsrat. Kleinere Unternehmen oft keinen. Ebenso sehr kommt es auf die Mitbestimmungskultur an, denn in kleinen Unternehmen „mit Face-To-Face-Kultur“ (Eichmann) machen sich das Chef:innen und Kolleg:innen oft gut untereinander aus. Tatsächlich haben recht kleine und recht große Unternehmen die beste Mitbestimmungskultur. Am schlechtesten sieht es bei den klassischen Mittelständlern aus.
All das variiert sehr nach Branchen. In größeren Hotels mit viel Fluktuation, in Handelsketten, wo die Beschäftigten in kleinen Filialen verstreut sind, ist institutionalisierte Mitbestimmung schwieriger als in großen Konzernen. Wer zur Kernbelegschaft zählt, wird eher gehört als die Peripheriebelegschaft, die über Leiharbeitsfirmen nur zeitweise ins Unternehmen kommt. „Unternehmen mit starker Mitbestimmung sind sicherlich erfolgreicher als solche mit weniger“, sagt Eichmann, „aber es ist natürlich nicht so klar, was da die Kausalität ist. Sind sie erfolgreicher, weil es Mitbestimmung gibt, oder sind sie erfolgreich, daher groß, und deswegen gibt es häufiger ordentliche Mitbestimmungsinstitutionen?“
In Studien berichten Beschäftigte in Unternehmen ohne Betriebsrat häufiger von Einkommensverlusten während der Corona-Pandemie als solche in Unternehmen mit Betriebsrat. Aber auch hier muss man natürlich fragen: Sind Branchen, in denen Beschäftigte, die besonders verletzlich waren, auch Branchen, in denen es seltener Betriebsräte gibt – oder sind die Beschäftigten besonders verletzlich, weil es weniger Betriebsräte gibt?
Cheflose Firmen
Mitbestimmungsformen gibt es viele. Eine Zeitlang war das Modell des „selbstverwalteten Betriebs“ ein geradezu utopisches Projekt. Manche Unternehmen dieser Art wurden sehr erfolgreich, aber oft ist die Übernahme von Betrieben durch die Belegschaft eine Folge von existenziellen Krisen des Unternehmens – nicht gerade ein Startvorteil. Andere Formen sind Genossenschaftsmodelle in den verschiedensten Ausprägungen. Gründer:innen kleiner Start-ups wollen nicht unbedingt „Unternehmer:in“ und „Chef:in“ sein, also gründen sie Genossenschaften und stellen sich quasi bei sich selbst an. Eine der berühmtesten und erfolgreichsten Genossenschaften ist die Mondragón-Kooperative im Baskenland. Mondragón ist heute das sechstgrößte spanische Unternehmen mit 80.000 Mitarbeiter:innen.
Die Firma Merck, ein großes deutsches Technologieunternehmen, hat mit dem Betriebsrat eine Vereinbarung geschlossen, dass die Belegschaftsvertretung andere Beschäftigte des Unternehmens quasi „kooptieren“ kann – sodass am Ende rund 100 Beschäftigte an der Betriebsratsarbeit mitwirkten. Dadurch verbesserte sich nicht nur die Kommunikation des Betriebsrats mit der Belegschaft, das Kompetenz- und Wissensniveau wurde in der gesamten Firma gehoben, zum Nutzen des Unternehmens. Und der Betriebsrat hat es zudem leichter, Nachwuchs zu rekrutieren. Denn wer schon einmal informell mitgemacht hat, der wird beim nächsten Mal vielleicht für eine formalisierte Funktion kandidieren.
Offene Betriebstüren für Demokratie
Sven Rahner, Forscher an der Universität Kassel, hat vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel „Architekten der Arbeit“ herausgegeben, das in einer Fülle von Gesprächen „Organisationsmodelle im flexiblen Kapitalismus“ untersucht. Er fand eine Schweizer IT-Firma, die jedes Jahr das Management neu aus der Belegschaft wählt und damit beste Erfahrungen gemacht hat. Der ehemalige Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger etwa proklamiert: „Das Unternehmen der Zukunft wird demokratischer sein müssen als heute. Die Demokratie wird nicht mehr vor der Werkshalle oder der Bürotür haltmachen, sondern zumindest die operativen Führungskräfte werden von den Mitarbeitern gewählt werden.“ Heute, erzählt Rahner, sind gewisse Ambiguitäten auszumachen. „Gegenwärtig reden alle von den 3D – Demografie, Digitalisierung, Dekarbonisierung – aber Demokratie, das vierte D, wird dann gelegentlich vergessen.“
Tariflich gebundene Unternehmen mit guter institutionalisierter Mitbestimmung könnten auf die verschiedenen Weisen gefördert werden, sodass ein Anreiz zur Beteiligung der Mitarbeiter:innen entsteht, „andererseits zeigen viele Studien den Rückzug auf individuelle Problemlösungen, sodass man oft gar nicht mehr weiß, wie Solidarität organisiert werden könnte“. So gibt es paradoxe Erscheinungen, etwa gute Arbeitsmarktdaten, aber zugleich sehr viel Pessimismus. Und die nötigen Transformationen – sei es durch die ökosoziale Transformation, sei es durch den üblichen Strukturwandel – können innerbetriebliche Sozialordnungen und Solidaritäten ordentlich erschüttern. Aber Gewerkschaften auch neue Möglichkeiten bieten.
Wenn etwa ein Unternehmen, das Verbrennungsmotoren herstellt, auf E-Mobilität umsatteln muss, dann fürchten viele Beschäftigte, dass sie möglicherweise auf der Strecke bleiben. Dann ist man plötzlich im Wettbewerb gegen die Kolleg:innen, und es kommt nicht so selten vor, dass jeder und jede versucht, selbst zu überleben. Wie so häufig zeigt sich dann: Solidarität und ein Geist der Kooperation sind in so einem Moment eine große Notwendigkeit – werden zugleich aber besonders auf die Probe gestellt.