Der Umsturz der politischen Verhältnisse in Österreich wälzte auch das Verhältnis der Gewerkschaften zu Staat und Wirtschaft um. Vor dem Kriege waren sie nur geduldet … Weder Staat noch Unternehmer duldeten, dass die Gewerkschaften in Wirtschaftsfragen mitentschieden … Die politische Vorherrschaft der Arbeiterklasse … hob auch die Gewerkschaften zur Gleichberechtigung, vielfach zur Führung bei den Wirtschaftsentscheidungen im Staate und zur Mitbestimmung in den Betrieben empor. Die Arbeit trat dem Kapital als gleichberechtigter Partner gegenüber …
Die deutschsprachigen Mandatare des 1911 gewählten Abgeordnetenhauses des Reichsrats der Monarchie bereiteten als „provisorische Nationalversammlung“ im Oktober 1918 die Ausrufung der demokratischen Republik vor. Im damals eingesetzten „Industriellen paritätischen Komitee“ gestalteten GewerkschafterInnen in oft zähen Verhandlungen mit den VertreterInnen des Hauptverbands der Industrie die Wirtschafts- und Sozialpolitik der ersten Jahre der Republik entscheidend mit. Die ausverhandelten Kompromisse dienten der provisorischen Nationalversammlung und ab Frühjahr 1919 der neugewählten konstituierenden Nationalversammlung als Basis für Gesetzesbeschlüsse mit Langfristwirkung. Stichwort: 8-Stunden-Tag. Stichwort: Betriebsrat. Stichwort: Kollektivvertrag. Stichwort: Arbeiterkammern.
Für Österreichs Freie Gewerkschaften bedeutete ihr zunehmender politischer Einfluss keinen Bruch mit ihrem bisherigen Selbstverständnis. Im Gegensatz zu anderen Ländern, etwa Großbritannien oder teilweise Deutschland, verstanden sie sich immer als gleichwertige Akteure im Kampf um eine gerechte Gesellschaft.
Schon beim ersten Gewerkschaftskongress 1893 nannte der Buchdrucker Karl Höger, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der frühen österreichischen ArbeiterInnenbewegung, Gewerkschaftsarbeit ohne gesellschaftspolitisches Ziel schlicht Gewerkschaftstrottelei. Der junge Jurist Julius Deutsch bestätigte diese Grundhaltung, als er 1908 die erste Geschichte der Freien Gewerkschaften schrieb:
Bei uns kämpfen die Gewerkschaften nicht bloß um bessere oder schlechtere Arbeitsbedingungen, sondern sie sind auch bemüht, anderwärtig Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten. So, wenn sie für das allgemeine und gleiche Wahlrecht in den Kampf zogen …
Dieser Grundsatz blieb auch – unter veränderten Vorzeichen – für den 1945 gegründeten ÖGB bestimmend, wenn er sich als überparteilich, aber nicht unpolitisch bezeichnete. Er ist auch aus dem während der Alleinregierung der Österreichischen Volkspartei in den 1960er-Jahren formulierten Standpunkt herauszulesen:
Der ÖGB beurteilt jede Regierung danach, wie sie sich gegenüber Arbeitnehmerinteressen verhält.
Brigitte Pellar
Freie JournalistInnen
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/19.
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