Historie: Mitbestimmung und mehr

Es gibt keine wirksame Vertretung von ArbeitnehmerInnen-Interessen ohne die Einmischung der Gewerkschaft in den politischen Entscheidungsprozess und die Möglichkeit, die der demokratische Sozialstaat dafür bietet. Das wussten die GewerkschafterInnen 1945 ebenso wie 1918. Das ÖGB-Plakat zur Mitgliederwerbeaktion 1953 zeigt diesen Zusammenhang auf.
(C) ÖGB-Plakatarchiv
Beim Aufbau der demokratischen Republik war die Beteiligung der Gewerkschaft am politischen Entscheidungsprozess Grundprinzip.
Angesichts der Erfahrungen unter dem alten Regime, nicht nur während der Kriegsdiktatur ab 1914, erlebten die Freien Gewerkschaften die Gründungsphase der Republik in jeder Hinsicht als revolutionären Prozess. Der Gewerkschaftstheoretiker und Gewerkschaftshistoriker Richard Robert Wagner beschrieb dies in seiner Arbeit über die Gewerkschaften in den ersten Jahren der Republik:

Der Umsturz der politischen Verhältnisse in Österreich wälzte auch das Verhältnis der Gewerkschaften zu Staat und Wirtschaft um. Vor dem Kriege waren sie nur geduldet … Weder Staat noch Unternehmer duldeten, dass die Gewerkschaften in Wirtschaftsfragen mitentschieden … Die politische Vorherrschaft der Arbeiterklasse … hob auch die Gewerkschaften zur Gleichberechtigung, vielfach zur Führung bei den Wirtschaftsentscheidungen im Staate und zur Mitbestimmung in den Betrieben empor. Die Arbeit trat dem Kapital als gleichberechtigter Partner gegenüber …

Die deutschsprachigen Mandatare des 1911 gewählten Abgeordnetenhauses des Reichsrats der Monarchie bereiteten als „provisorische Nationalversammlung“ im Oktober 1918 die Ausrufung der demokratischen Republik vor. Im damals eingesetzten „Industriellen paritätischen Komitee“ gestalteten GewerkschafterInnen in oft zähen Verhandlungen mit den VertreterInnen des Hauptverbands der Industrie die Wirtschafts- und Sozialpolitik der ersten Jahre der Republik entscheidend mit. Die ausverhandelten Kompromisse dienten der provisorischen Nationalversammlung und ab Frühjahr 1919 der neugewählten konstituierenden Nationalversammlung als Basis für Gesetzesbeschlüsse mit Langfristwirkung. Stichwort: 8-Stunden-Tag. Stichwort: Betriebs­rat. Stichwort: Kollektivvertrag. Stichwort: Arbeiterkammern.

Für Österreichs Freie Gewerkschaften bedeutete ihr zunehmender politischer Einfluss keinen Bruch mit ihrem bisherigen Selbstverständnis. Im Gegensatz zu anderen Ländern, etwa Großbritannien oder teilweise Deutschland, verstanden sie sich immer als gleichwertige Akteure im Kampf um eine gerechte Gesellschaft.

Schon beim ersten Gewerkschaftskongress 1893 nannte der Buchdrucker Karl Höger, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der frühen österreichischen ArbeiterInnenbewegung, Gewerkschaftsarbeit ohne gesellschaftspolitisches Ziel schlicht Gewerkschaftstrottelei. Der junge Jurist Julius Deutsch bestätigte diese Grundhaltung, als er 1908 die erste Geschichte der Freien Gewerkschaften schrieb:

Bei uns kämpfen die Gewerkschaften nicht bloß um bessere oder schlechtere Arbeitsbedingungen, sondern sie sind auch bemüht, anderwärtig Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten. So, wenn sie für das allgemeine und gleiche Wahlrecht in den Kampf zogen …

Dieser Grundsatz blieb auch – unter veränderten Vorzeichen – für den 1945 gegründeten ÖGB bestimmend, wenn er sich als überparteilich, aber nicht unpolitisch bezeichnete. Er ist auch aus dem während der Allein­regierung der Österreichischen Volkspartei in den 1960er-Jahren formulierten Standpunkt herauszulesen:

Der ÖGB beurteilt jede Regierung danach, wie sie sich gegenüber Arbeitnehmerinteressen verhält.

 

Ausgewählt und kommentiert von
Brigitte Pellar
Freie JournalistInnen

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/19.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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