Und genau das sei der Sinn der Sache, erklärt Martin Hartl. Er leitet den Verein „Responsible Annotation“ zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts im KI-Umfeld, der mit der Firma Kapsch TrafficCom zusammenarbeitet. Er führt uns durch die Räume und blickt sich für einen Moment um. Dann sagt er: „Trostlos mag es für die einen wirken, angenehm, weil keine Ablenkungen, für die anderen.“ Eines von vielen Details, warum das Projekt funktioniert. In der Kaffeeküche darf geplaudert werden, man muss aber nicht. An den Wänden dürfen Bilder hängen, müssen aber nicht.
Sanfte Stimme, klare Sätze
Um 9.30 Uhr versammeln sich alle zum gemeinsamen Gespräch. Seit der Pandemie finden die Teambesprechungen online statt, ändern will das hier niemand. Vielen sei die virtuelle Kommunikation ohnehin lieber, meint Hartl. Obwohl die meisten der Abteilung an diesem regnerischen Dienstag im Mai anwesend sind, loggen sie sich in das Gespräch online ein. Die Teamleiterin Beate Fabian richtet ihr Headset. Sie begrüßt die Runde, spricht von neuen Datensätzen aus New York und von Fehlern, die beim letzten Vorgang passiert seien. Fabian will „Feedback bearbeiten“ und „Datensätze bündeln“. Sie verteilt 44.000 Bilder auf 11 Jobs, die sich das Team selbst einteilt. Fabian spricht sanft und formuliert ihre Sätze klar. Dazwischen meldet sich nur selten jemand – was nicht bedeutet, dass ihr niemand zuhört, im Gegenteil.
In diesen Räumen ist oft die Rede von Validieren, Verifizieren und Annotieren. Aktuell trainiert man für einen neuen Datensatz. Dafür braucht es ein Handbuch und klare Regeln. Hartl sitzt der Teamleiterin Fabian im Büro gegenüber. Bei ihnen ist es grün, Pflanzen räkeln sich entlang der Fensterbank, von der Wand lacht bunte Kunst. „Wenn ich ein neues Handbuch an das Team rausschicke, das ich schon als recht detailreich empfinde, kommt es nicht selten vor, dass mir ein Mitarbeiter Minuten später alle Lücken auflistet.“ Hartl lächelt, wenn er solche Anekdoten erzählt. Es macht ihm nichts, dass sein Team oftmals gründlicher arbeitet. Er ist stolz auf seine Leute.
Empathie und Verständnis
Die Abteilung besteht aus einem vielfältigen Team von jungen Erwachsenen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, hauptsächlich Autismus. Sie alle annotieren, das heißt, sie klicken Bilder durch und versehen sie mit Informationen. Diese neuen Daten werden dann als Trainingsmaterial für die Weiterentwicklung von KI im eigenen Haus verwendet. Ihre Arbeit trägt dazu bei, die Qualität und Genauigkeit von Software im Einsatz in Projekten zu optimieren. Damit die Zusammenarbeit mit einem derart diversen Team klappt, muss Fabian einiges beachten: „Für mich sind Empathie und Verständnis das Allerwichtigste. Ich versuche, möglichst offen zu kommunizieren.“ Jede Person habe besondere Bedürfnisse und Fähigkeiten – welche, das gilt es für sie herauszuarbeiten. Beim Annotieren sind Sorgfalt und Präzision besonders wichtig. Die KI versteht keine Fehler. Das passt gut, denn auch im Team lieben alle klare Regeln – Schwarz-Weiß, möglichst keine Graubereiche.
Menschen mit Beeinträchtigungen bringen
oft hervorragende Fähigkeiten mit.
Sie sind keine Zielgruppe für uns, sondern
eine besondere Kompetenzgruppe.
Martin Hartl, Leiter von Responsible Annotation
Wie unterschiedlich die Menschen im Team sind, zeigen die Kekse zu Weihnachten. Jedes Jahr bringt die Teamleiterin im Advent welche mit. Einige freut das gemeinsame Feiern, andere entschuldigen sich und sind heilfroh, nicht zu sozialen Aktivitäten gezwungen zu werden. „Die Leute können mit gutem Gewissen bei der Weihnachtsfeier heimgehen und müssen nicht Small Talk betreiben, wenn sie nicht wollen“, erklärt Hartl. Das sei in vielen anderen Firmen anders und stelle für Menschen im Autismus-Spektrum oder etwa mit sozialen Phobien große Hürden dar.
Battle-Tracks im Ohr
Nach dem Meeting zeigt uns Angelo die Bilder, die er bearbeitet, und erzählt, wie wichtig Details sind. Für ihn gibt es nichts Schlimmeres als Chaos. Wird ihm das Geklicke jeden Tag nicht irgendwann fad? „Ich liebe die Monotonie, sie gibt mir Halt im Alltag.“ Dann klickt er wie zum Beweis auf das nächste Bild.
Im Büroraum sitzen noch drei weitere Angestellte. Sie alle nehmen ihre Kopfhörer nicht ab. Es ist unfassbar ruhig. Für Angelo ist wichtig, dass er seine Konzentration nicht verliert und fokussiert bleibt. Mal fünf Minuten nicht aufpassen geht in seinem Job nicht. Dann passieren Fehler, und die kann die KI gar nicht brauchen. „Für mich ist es ganz wichtig, dass ich bei der Arbeit Musik hören darf“, erklärt der Anfang 20-Jährige. Er zeigt auf seine Kopfhörer. Angelo liebt Computer- und Videospiele. Am liebsten hat er jene mit vielen Details, hoher Schwierigkeit und spannenden Personen. Er taucht gerne in die Zeit des Mittelalters ein, und in diesen Welten muss für ihn jedes Detail stimmen. Er will die Geschichte jedes Schwertes, jeder Rüstung und jeder Seele wissen. „Wissen macht die Welt lebendig“, sagt er in einem Nebensatz. Das ist nicht der letzte philosophische Satz, den er so zwischendurch formuliert.
Angelo ist ein Fan von Geschichte und Philosophie. Er erzählt von seinem Großvater, der Modellautos sammelte und ihm diese Leidenschaft weitergab. Ist Angelo einmal in seinem Element, ist er kaum zu bremsen. Schnell ist er wieder zurück bei den Videospielen, denn deren Musik hört er auch beim Arbeiten. Er reicht mir seine Kopfhörer, ich setze sie auf: Schnelle, treibende Musik erklingt in meinem Ohr. Je nach Laune und Projekt wechselt er zu ruhiger Musik. Was er mich da hören lässt, sei klassische „Boss-Musik“. Oft spielt er auch „Battle-Tracks“ ab. Ich frage ihn, ob er sich beim Arbeiten dann wie in einem Spiel fühlen würde. Er nickt. Ja, so könne ich es formulieren, es gebe Parallelen.
Mobbing in der Schulzeit
Angelo spricht lupenreines Hochdeutsch, und das sei einer der Gründe gewesen, warum er in seiner Kindheit und Jugend im Waldviertel gemobbt wurde. Es sei schwierig für jemanden wie ihn gewesen. Damit meint er seine Diagnose Autismus und Asperger. Menschen im Autismus-Spektrum sind unverhältnismäßig stark von Arbeitslosigkeit betroffen. 80.000 Menschen in Österreich sind Autist:innen, davon hat etwa jede:r Dritte das Asperger-Syndrom. Diese Gruppe besitzt oft spezielle Talente. Von denen könnten Unternehmen profitieren – könnten, denn in der Realität sind 80 Prozent dieser Menschen arbeitslos.
Menschen mit Autismus und Asperger sind nicht alle gleich,
wir sind nicht alle schneller oder intelligenter.
Wir haben genauso unsere Fehler und Eigenheiten wie alle anderen Menschen.
Angelo, Angestellter bei Kapsch TrafficCom
Bereits in der Volksschule verbrachte Angelo die meiste Zeit nicht in seiner Klasse, sondern in der Direktion – nicht, weil er sich falsch verhalten hätte, sondern weil es dort ruhig war, weil ihn dort niemand störte und weil er dort lernen konnte. Gruppen sind für Angelo eine schwierige Konstellation. Small Talk, plaudern, neue Leute kennenlernen: Worüber sich Menschen ohne Autismus selten Gedanken machen, kostet ihn viel Energie. Manchmal glaubte Angelo, es würde ihm vor Schmerzen den Kopf zerreißen, weil er den Kontakt mit seinen Mitschüler:innen nur schwer ertrug. Die Kindheit und Jugend seien die schwierigste Zeit in seinem Leben gewesen. Trotz starker Konzentrationsschwierigkeiten schloss er die Hauptschule ab und wusste damals schon: Er muss weg, er muss nach Wien.
Entdeckung der Inselbegabung
„Heute bin ich in Wien. Ich bin meinem Plan gefolgt und habe mich nicht unterkriegen lassen“, erzählt er, und wir wechseln in den Nebenraum, um das Team nicht weiter zu stören. Dort sei früher einmal das Raucherkammerl gewesen, heute ist es ein Pausenraum. Nach der Schule versuchte es Angelo mit einer Lehre in einem Lager. Eine Katastrophe sei das gewesen. Dort stresste ihn alles, vor allem, wie kommuniziert wurde.
Durch die Arbeitsassistenz des WUK, des Werkstätten- und Kulturhauses, das auf die Beratung von jungen Menschen mit einer psychischen Erkrankung, einer Lern- bzw. Mehrfachbehinderung oder einer Störung aus dem Autismus-Spektrum spezialisiert ist, kam Angelo zum Pilotprojekt bei Kapsch TrafficCom. Hier entdeckte er, dass es etwas gibt, in dem er besser ist als viele andere Menschen: genaues Hinsehen und die Identifikation von Fehlern. Schon als Kind liebte er Suchbilder. Er fand jeden Fehler nach kurzer Zeit. Manche Menschen im Autismus-Spektrum haben eine derartige Inselbegabung, sprich, sie sind in einem bestimmten Bereich außergewöhnlich gut.
Eine Diagnose wie ein Stempel
Nach der einjährigen Anstellung bei Kapsch TrafficCom sei sein Vertrag nun entfristet worden, erzählt er stolz. „Das war ein Jahr solide Arbeit mit hoher Konzentration.“ Wenn Angelo von seiner Arbeit berichtet, wird schnell klar, wie gerne er sie macht. „Ich habe tatsächlich einen Job gefunden, der meiner Begabung entspricht und der nur mir gehört.“ Fragt man Angelo, ob er schneller sei als andere, zieht er die Augenbrauen zusammen und verneint. Nein, schneller nicht, höchstens genauer.
Und da sind wir auch schon an dem Punkt angelangt, der ihn am Umgang mit Autismus nervt: die Verallgemeinerungen. „Autisten und Menschen mit Asperger sind nicht alle gleich, wir sind nicht alle schneller oder intelligenter. Wir haben genauso unsere Fehler und Eigenheiten wie alle anderen Menschen.“ Manche Leute mit Asperger würden in der Gaming-Szene wie Genies dargestellt, das nerve ihn genauso wie dass Menschen mit Autismus so wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Bei jeder Bewerbung sei seine Diagnose wie ein Stempel, der ihn bereits im Vorhinein disqualifiziere.
Digitale Revolution für mehr Chancen
Das Annotation-Pilotprojekt ist einzigartig und könnte Vorbildwirkung für den gesamten Arbeitsmarkt haben. Hartl stellt aber klar, dass dies kein Allheilmittel für einen diversen Arbeitsmarkt sei. „Nicht jeder wird in Österreich annotieren. Aber Menschen mit Beeinträchtigungen bringen oft hervorragende Fähigkeiten mit, die fürs Annotieren besonders wertvoll sind, wie beispielsweise eine hohe Aufmerksamkeit für Details. Sie sind keine Zielgruppe für uns, sondern eine besondere Kompetenzgruppe.“ In anderen Ländern würde ein Großteil dieser Arbeit außerdem in Billiglohnländer ausgelagert.
Unser Ziel ist es, die Chancen der digitalen Revolution zu nutzen,
um Menschen eine Chance zu geben,
für die der Arbeitsmarkt sonst nur sehr schwer zugänglich ist.
Martin Hartl, Leiter von Responsible Annotation
Seit 2019 gehen sie bei Kapsch TrafficCom neue Wege und arbeiten auch mit dem AMS zusammen. Bei dem sogenannten Arbeitstraining können Menschen den Beruf des Annotierens ausprobieren. Hartl betont, wie unterschiedlich die Bewerber:innen seien. „Manche kommen zu uns und sind total unterfordert, weil sie programmieren möchten. Andere sind von der ersten Sekunde an von der Arbeit überfordert.“ Es gelte wie in jedem anderen Job auch, die passenden Menschen zu finden. „Unser Ziel ist es, die Chancen der digitalen Revolution zu nutzen, um Menschen eine Chance zu geben, für die der Arbeitsmarkt sonst nur sehr schwer zugänglich ist. Wir hoffen, dass unsere Initiative auch dazu beiträgt, das Bewusstsein für die Bedeutung von Inklusion zu schaffen und Perspektiven zu erweitern“, sagt Hartl.
Angelo sagt am Ende unseres Gesprächs etwas Ähnliches, wenn auch in anderen Worten: „Ja, ich habe einen höheren IQ. Aber ganz ehrlich: Sch… drauf! Es sagt nichts darüber aus, wie gut du tatsächlich lernst oder wie gut du dich in einer sozialen Welt schlägst.“ Was würde ihm also helfen? „Behandelt uns wie normale Menschen, das wäre alles, was ich brauche.“