Welche Diagnose ergibt sich daraus für Österreich?
Marterbauer: Bezogen auf eine Zerrissenheit der Gesellschaft bestimmt eine bessere als in anderen Ländern. Das hat damit zu tun, dass es bei uns eine starke Defensive gibt – Arbeiterkammer gemeinsam mit Gewerkschaften und Betriebsrät:innen, die vieles verhindert haben, was in anderen Ländern möglich war. Darauf kann man aufbauen. Es reicht uns aber nicht zu sagen, dass bei uns der Sozialstaat besser ist als in anderen Ländern. Er muss auch bei uns viel besser werden, damit er seine Aufgabe erfüllen kann. Wir brauchen offensive Verbesserungen. Das wird gerade durch die Teuerungskrise so offensichtlich.
Was bedeutet die Unterscheidung zwischen Sozialstaat und Eigentümerstaat?
Marterbauer: Diese Unterscheidung ist wichtig, da das neoliberale Konzept der Individualisierung den Menschen suggeriert: Wenn ihr euch nur selbst Eigentum schafft, dann braucht ihr den Sozialstaat nicht mehr. Also, alle sollen irgendwo ein Haus haben, und dann kann ihnen eh nichts mehr passieren. Aber das dient der Vereinzelung und dazu, dass die Leute denken, das Eigentum sei eigentlich das Entscheidende an diesem Sozialstaat, daher brauchen wir ihn eigentlich gar nicht.
Schürz: Es verändert sich praktisch das, was man Klassenbewusstsein genannt hat. Während etwa die Beschäftigten zuvor ein Interesse daran hatten, dass das Mietrecht gut ist, dass der Staat schöne Sozialwohnungen für die Menschen, die weniger haben, bereitstellt, haben sie in einer Eigentümergesellschaft ein Interesse daran, dass die Immobilienpreise raufgehen, damit ihr kleines Häuschen oder die Wohnung immer mehr wert wird. Dadurch entsteht eine Dynamik der Vereinzelung und Entsolidarisierung. Man muss daher aufpassen, dass dieses Konzept der Eigentümergesellschaft nicht attraktiv wird, sondern dass das historische Konzept des Roten Wien mit seinem sozialen Wohnbau und einer solidarischen Gesellschaft hochgehalten wird.
Wie kommen wir da raus aus der fortschreitenden Vereinzelung und in eine Wirtschaftspolitik der Hoffnung?
Schürz: Als Psychotherapeut in der Tradition von Alfred Adler ist für mich ganz klar: Ermutigung. Denn jemand, der Mut hat, wird sich öfter äußern; der oder die wird sich einmischen und seine oder ihre Stimme erheben. Daran knüpfen wir unsere Hoffnung, dass jene, die sonst nicht gehört werden, ihre eigenen Angelegenheiten selbst mutig vertreten.
Marterbauer: Für mich ermöglicht soziale Sicherheit Hoffnung und hat einen demokratischen Aspekt. Sie führt zu mehr Beteiligungen, zum Eintreten für die eigenen Interessen. Denn beide, Demokratie und Sicherheit, sind gefährdet, wenn Vermögen explodiert. Daher muss man unten stärken und oben eingrenzen.
Lassen sich die Machtverhältnisse wieder umkehren?
Marterbauer: Aktuell haben wir zwei Momente. Zum einen sind es die Machtverhältnisse in der Einkommenswelt. Diese werden stark von den Bedingungen am Arbeitsmarkt bestimmt. Lange Zeit war die Arbeitslosigkeit hoch, und somit gab es schlechte Bedingungen für die Arbeitenden und ihre Interessenvertretungen zu verhandeln. Wenn es jetzt wirklich in Richtung einer Arbeitskräfteknappheit geht, dann ist das für mich keine Befürchtung, sondern eine Hoffnung. Denn es verschieben sich die Machtverhältnisse, und man kann mehr Sicherheit in Form von höheren Mindestlöhnen und besserer sozialer Absicherung schaffen.
Und das zweite Moment?
Marterbauer: Wir haben mehr Forscher:innen, die sich mit der Vermögenswelt beschäftigen. Wir haben bessere Daten, und wir haben international eine starke Debatte zu Vermögensobergrenzen, also der Frage „Was ist zu viel?“
Schürz: Es ist im Vermögensbereich die klassische Hoffnung der Aufklärung. Ein Vermögensregister und echte Transparenz zu den Vermögensverhältnissen tun not. Natürlich wartet kein Reicher auf unsere Erkenntnisse, um dann zu sagen: „Ah, jetzt sehe ich ein, dass ich tatsächlich zu reich bin.“ So naiv sind wir nicht. Jedoch führt eine datengeleitete Aufklärung in der Gesellschaft zu einem gesteigerten Problembewusstsein aller.
Was tut jetzt not?
Marterbauer: Der erste Meilenstein ist sicher die Vermeidung von Armut. Das Risiko, dass die Armut aus Covid heraus- und in die Teuerungskrise hineinsteigt, ist tatsächlich hoch. Zusätzlich muss die gesamte arbeitende Bevölkerung selbstständig und unselbstständig Erwerbstätige – vom Sozialstaat profitieren, so wie er ja auch angelegt ist. Das passiert nicht automatisch, daher ist die Stärkung der solidarischen Untergrenze ein zentrales Element.
Schürz: Bemerkenswert ist, dass dies auch ein „Liberalismus von unten“ ist und nicht nur ein Liberalismus der Privateigentümer. Wenn also jemand Kritik übt und sagt: „Ah, das sind wieder die linken Umverteiler“, dann antworten wir: „Nein, das ist auch ein ernstzunehmender Liberalismus.“ Im Liberalismus ist angelegt, dass auf ungleiche Machtverhältnisse zu achten ist. Armut darf nicht sein. Besonders, wenn es nicht viel kostet, sie zu beseitigen. Dass sie trotzdem nicht beseitigt wird, spricht für unsere These der Angstmacherei.
Wie sollten die solidarischen Untergrenzen und Obergrenzen idealerweise ausschauen?
Marterbauer: Bei den solidarischen Untergrenzen haben wir jede Menge Baustellen. Wir bezeichnen es als Null-Armut-Strategie, die es braucht, um Armut mittels besserer Untergrenzen zu verhindern. Arbeitslosenversicherung, Pensionssystem und seit 2017 auch die Mindestsicherung sind nicht armutsfest. Diese Baustellen lassen sich jedoch leichter bearbeiten, wenn man auf etwas aufbauen kann, was schon da ist. Und das ist wieder der Wert des Sozialstaats.
Hallo Innsbruck! Bereit für eine Wirtschaftspolitik, die #Hoffnung macht? Gegen #Angst und Angstmacherei. Dienstag, 4. Oktober 19 Uhr, Arbeiterkammer Innsbruck@pablodiabolo @yldrm_selma @KarinLeitner1https://t.co/MpOwWtb8TC
— Markus Marterbauer (@MarterbauerM) October 2, 2022
Und wie sieht der Beitrag der Vermögenden aus? Ist damit die solidarische Obergrenze gemeint?
Marterbauer: Die Null-Armut-Strategie, der Ausbau etwa der sozialen Dienste und der Pflege, kann leicht durch eine progressive Vermögens- und Erbschaftssteuer finanziert werden, sogar inklusive einer Senkung der Steuern auf Arbeitseinkommen. Was die Obergrenzen von Vermögen betrifft, so haben diese in unserem Konzept keinen unmittelbaren Finanzierungsaspekt. Da geht es um etwas anderes. Wir wollen keine Vermögensgrenze bei beispielsweise einer Milliarde Euro einziehen, weil wir Geld brauchen, sondern es ist eine Frage der Macht und der Demokratie.
Schürz: Bei der Obergrenze wollen wir eine breite gesellschaftliche Debatte zu einem demokratieabsichernden Rahmen anstoßen. Das ist neu. Bisher hat man nur auf die Einkommensungleichheit geschaut. Wir schauen jetzt auf Einkommen, Vermögen und den Sozialstaat. Wir vertreten kein Enteignungskonzept. Wir vertreten das Konzept, dass es in einer Demokratie Regeln geben muss, die für alle gelten, auch für die Mächtigen.