Einführung des Lohnindex
Die Kluft zwischen den reichen Inflationsgewinnler:innen und dem Rest der Bevölkerung wurde immer größer. Arbeiterkammerexpertin Käthe Leichter beschrieb die Situation in ihrem Beitrag zur Gewerkschaftsgeschichte der Ersten Republik so: „Aufreizend sind die Gegensätze. … Frauen, einem wandelnden Juwelierladen gleichend, begegnet man auf den Straßen. Das Elend anderer schleicht nebenher.“
Die Reichskommission der Freien Gewerkschaften versuchte, die Notbremse zu ziehen. Das sollte den Familien der Arbeitnehmer:innen wenigstens einen kleinen Anteil vom Wirtschaftsaufschwung sichern. Sie setzte Ende 1919 ein Übereinkommen mit den Arbeitgeber:innenorganisationen durch, das die Lohnauszahlung anhand einer „gleitenden Lohnskala“ vorsah. Ein Lohnindex also. Das heißt, es gab den Kollektivvertragslohn als festen Betrag und dazu einen flexiblen „Indexlohn“. Eine Aufzahlung nach einem statistischen Lebenshaltungskostenindex. Angesichts der raschen Geldentwertung mussten die Arbeitsmarktparteien nicht wöchentlichen verhandeln.
Automatische Lohnanpassung in Zeiten hoher Inflation
Die per Gesetz geschaffene zehnköpfige zentrale „Indexkommission“ war eines der ersten sozialpartnerschaftlichen Problemlösungsinstrumente. Sie legte die Richtwerte fest. Von Seite der Arbeitnehmer:innen gehörte ein Delegierter der Gewerkschaftskommission und drei Delegierte der Arbeiterkammer an. Die Regierung war durch Beamte des Sozialministeriums und des Bundesamts für Statistik vertreten. Marktamt und Wohnungsamt der Gemeinde Wien, Konsumgenossenschaften und große Konfektionsfirmen stellten die Riege der Expert:innen.
Die meisten paritätischen Kommissionen, die die Höhe des Indexlohns auf Branchenebene bestimmten, hielten sich an die Berechnungen der Indexkommission. Andere bevorzugten die Berechnungen des Bundesamts für Statistik. Für die Metallindustrie gab es eigens erstellte Indexzahlen. In etlichen Bundesländern hielt man ebenfalls die Berechnungen der zentralen Kommission für ungeeignet, weil sie zu einseitig von der Wiener Situation ausgingen. Obwohl es also keinen verbindlichen Verbraucherpreisindex wie in der Zweiten Republik gab, funktionierte der Problemlösungsmechanismus zunächst gut. Auch die Unternehmer:innen hatten Interesse daran, dass sie im beginnenden Wirtschaftsaufschwung nicht ständig mit Lohnforderungen und Arbeitskämpfen konfrontiert wurden.
Umgehung des Lohnindex
Das änderte sich nach den Nationalratswahlen im Oktober 1920, als die Sozialdemokratie in Opposition ging. Die Vertreter:innen der Sozial- und Wirtschaftsbehörden machten nur mehr halbherzig beim Lohnindex mit. Die Unternehmen verweigerten immer häufiger das Auszahlen des vollen Indexlohns. Gewerkschaften verlangten natürlich die Einhaltung der Vereinbarungen oder sahen sich ihrerseits nicht mehr verpflichtet. Zunehmende Lohnkämpfe und die erkämpften Lohnerhöhungen trugen ohne Zweifel zur weiteren Beschleunigung der Inflation bei.
Mit dem „Lohnindex“ setzten die Gewerkschaften nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine Teilanpassung an den sinkenden Geldwert durch und sicherten damit die Existenz vieler Familien. https://t.co/66O2RmpOdz
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) May 2, 2022
Sie waren aber nicht die entscheidende Ursache für den fast vollständigen Absturz der österreichischen Währung 1922. Innerhalb von drei Monaten nahm der Geldwert so stark ab, wie in den drei Jahren zuvor zusammen. Vielmehr hatte ein unfähiger Finanzminister, gedeckt durch seine Regierungskollegen, die durchaus vorhandene Chance vertan, Budget und Währung unter sozial und wirtschaftlich halbwegs erträglichen Bedingungen in Ordnung zu bringen. Die aktuelle Inflation ist im Vergleich zu 1922 verkraftbar, Problemlösungen zulasten der vielen sind dagegen leider wieder einmal auf der politischen Tagesordnung.