Arbeit&Wirtschaft: Wie beginnt eigentlich Ihre Woche als Leiter des ÖGB-Europabüros?
Oliver Röpke: Wir sind in der EU-Botschaft Österreichs untergebracht, was ein Sonderfall ist: Nur bei Österreich sitzen die Sozialpartner in der ständigen Vertretung. Jeden Montagmorgen haben wir eine Sitzung mit allen Abteilungsleitern aus den Ministerien und dem Botschafter, wo wir aktuelle Themen besprechen.
Was ist die Aufgabe des ÖGB in Brüssel?
Generell vertreten wir die Position des ÖGB und der Gewerkschaften im Europäischen Gewerkschaftsbund und in den EU-Institutionen, etwa im Parlament, wenn die Ausschüsse tagen. Wir bereiten Änderungsanträge vor, sprechen mit den Abgeordneten und sind mit den BeamtInnen der Kommission in Kontakt. Wir schauen, was auf der Agenda steht und welche Positionen wir einbringen wollen.
Wir organisieren Veranstaltungen wie Arbeitsfrühstücke im Parlament, Workshops mit KommissionsbeamtInnen oder Abendveranstaltungen, wo wir ein breites Publikum ansprechen und GewerkschafterInnen aus Österreich auf die europäische Bühne holen. Wir kooperieren mit NGOs und anderen Gewerkschaften, die in Brüssel vertreten sind. Die Arbeit der letzten Jahre hat sich ausgezahlt: ÖGB und AK sind heute die aktivsten ArbeitnehmerInnenvertretungen in der EU.
Womit beschäftigt sich das ÖGB-Europabüro im Moment?
Die Themen, die die österreichische Ratspräsidentschaft stellt, stehen auch beim ÖGB und der AK in Brüssel – wir arbeiten immer abgestimmt – auf der Tagesordnung, aber oft von einem kritischen Blickwinkel aus, weil wir mit der Ausrichtung vieler Themen nicht einverstanden sind. Unsere Hauptaufgabe ist, das soziale Europa und sozialpolitische Themen in den Vordergrund zu stellen und die Ratspräsidentschaft zu drängen, etwas in diese Richtung zu tun.
Was sind Ihre ersten Eindrücke von der österreichischen Ratspräsidentschaft?
Wir haben ein umfangreiches Forderungsprogramm für die Ratspräsidentschaft erstellt, das einstimmig vom Bundeskongress verabschiedet wurde. Im Mittelpunkt steht, dass das Motto „Ein Europa, das schützt“ ernst genommen werden sollte – und zwar die ArbeitnehmerInnen und nicht die Konzerne, wie ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian gesagt hat. Die ersten Eindrücke sind sehr ernüchternd und bestätigen die Skepsis, dass sowohl bei der Bekämpfung von Steuerbetrug und -vermeidung als auch beim Einsatz für das soziale Europa wenig vorangehen wird.
Wenn man sich die bisherige Rolle Österreichs anschaut, die sehr proeuropäisch war, ist es beschämend, was die aktuelle Regierung in Europa für ein Bild abgibt. Sie befasst sich fast monothematisch mit den Themen Außengrenzen, Flüchtlinge und Verteidigungsunion. Das wird wie ein Mantra wiederholt. Das ist einfach zu wenig aus unserer Sicht.
Was sind die wichtigsten Forderungen des ÖGB?
Die EU darf sich nicht unter dem Vorwand der Subsidiarität vom sozialen Europa und aus der Sozialpolitik verabschieden. Genau diese Gefahr droht derzeit. Wir wollen, dass der Brexit als Chance begriffen wird, um Europa wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und mit Großbritannien mehr als eine Art Freihandelsabkommen zu schließen. Es muss vermieden werden, dass vor unserer Haustür ein Land entsteht, das Lohn- und Steuerdumping anbietet. Deswegen müssen wir soziale Standards auch dort schützen. Wir unterstützen die britischen Gewerkschaften dabei.
Wir brauchen eine Umkehr in der Wirtschaftspolitik, also eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik, die endlich mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in den Vordergrund stellt – mit der goldenen Investitionsregel für mehr Zukunftsinvestitionen. Und wir brauchen eine Kurskorrektur in der Handelspolitik. Handelsverträge dürfen kein Instrument für Liberalisierung und Deregulierung sein, sondern müssen fairen Handel mit verbindlichen und durchsetzbaren ArbeitnehmerInnenrechten ermöglichen. Leider gibt es starke Gegenspieler.
Wen meinen Sie konkret?
Ich spreche vom sogenannten Gold Plating. Unter diesem ideologischen Kampfbegriff läuft eine europaweit koordinierte Aktion von Konservativen und Industrieverbänden, zu denen auch die Industriellenvereinigung gehört. Der europäische Industrieverband Businesseurope versucht nicht erst seit gestern, dieses Thema voranzutreiben. Jetzt sind sie so weit, dass sie die Mehrheit in einigen Mitgliedstaaten haben und diese Agenda wirklich umsetzen können.
Worum geht es dabei?
Es geht um einen koordinierten europaweiten Angriff der Industrielobby auf ArbeitnehmerInnenrechte. Europäische soziale Mindeststandards sollen in Zukunft zu Maximalstandards gemacht werden, die nicht mehr überschritten werden dürfen. Teile der Industrie wollen Europa wieder zu dem machen, was wir schon überwunden hatten, nämlich zu einer reinen Freihandelszone. Diese Lobby will erreichen, dass Unternehmen alle Freiheiten haben und ArbeitnehmerInnen über die Grenzen hinweg einsetzen können und dass Europa bei sozialen Fragen nicht mehr mitreden darf. Wenn das passiert, wird der Wettlauf um die niedrigsten Standards zum System.
Sie haben erwähnt, dass es in der EU derzeit monothematisch zugeht. Gibt es wirklich keinen Spielraum für andere politische Inhalte?
Die Agenda wird zum Teil durch das, was die Kommission auf den Tisch legt, vorgegeben. Zum Beispiel ist der Brexit derzeit ein Hauptanliegen. Aber gemeinsam mit den KollegInnen von der AK, mit denen wir in Brüssel eine Bürogemeinschaft haben, versuchen wir, eigene Themen in den Fokus zu rücken und Agendasetting zu betreiben.
Bei welchen Themen zum Beispiel?
Vor vielen Jahren haben wir die Finanztransaktionssteuer gefordert, gegen die damals ganz Europa war. Außer Österreich wollte das niemand, und vor zehn Jahren wurde man für diese Forderung noch fast ausgelacht. Wir haben dazu Termine mit der Kommission gemacht und Veranstaltungen organisiert, wo wir das Thema gepusht haben. Gemeinsam mit NGOs und anderen Gewerkschaften haben wir es geschafft, dass es auf die Tagesordnung gekommen ist – leider immer noch mit keinem greifbaren Ergebnis. Aber der Vorschlag liegt zumindest auf dem Tisch und es wird darüber verhandelt. Ein zweites Beispiel ist faires und transparentes Lobbying, ein großes Thema, das in der Öffentlichkeit nie eine Rolle spielte.
Was haben Sie da erreicht?
Auch das haben erst wir gemeinsam mit der AK in Brüssel auf die Agenda gesetzt, und zwar mithilfe eine Studie, die schon vor Jahren ausgesagt hat, dass von den etwa 25.000 bis 30.000 Lobbyisten in Brüssel mehr als 95 Prozent Wirtschafts- und vor allem Finanzindustrie-Lobbyisten sind. Nur ein kleiner Bruchteil kommt aus Gewerkschaften, NGOs und vom Konsumentenschutz. Wir haben uns verschiedene Beratergruppen in der Kommission angeschaut und es kam zum Beispiel heraus, dass in einer Beratergruppe für Finanzmarktregulierung zwei Drittel der VertreterInnen aus der Finanzlobby kamen.
Unsere Arbeit hat dazu beigetragen, dass die Juncker-Kommission die Transparenzregeln deutlich verschärft hat. Vor zehn, zwölf Jahren konnte man sich noch hinter verschlossenen Türen treffen. Heute muss zumindest bei den KommissarInnen, ihren Kabinetten und den GeneraldirektorInnen alles transparent gemacht werden und auf deren Websites jedes Treffen im Terminkalender veröffentlicht werden.
Aber es stellt sich die Frage, was wirklich veröffentlicht wird.
Ja, natürlich. Und Gesetze werden nicht von KommissarInnen, sondern von BeamtInnen geschrieben, und die müssen nach wie vor nicht veröffentlichen, mit wem sie sich treffen. Da ist also noch viel zu tun, aber das Thema steht auf der Agenda.
2017 wurde die Europäische Säule sozialer Rechte verabschiedet. Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein?
Die Säule ist bisher nur heiße Luft mit vielen guten Absichten. Unsere Aufgabe ist es, die Inhalte umzusetzen, damit die ArbeitnehmerInnen konkret etwas davon haben. Hier zeigt sich die österreichische Bundesregierung bisher nicht sehr gewillt. Im Programm für die Ratspräsidentschaft wird die Säule mit keinem Wort erwähnt. Auch viele unserer Forderungen finden sich nicht wieder.
Jean-Claude Juncker hat die soziale Säule erstmals 2014 erwähnt. Warum ist sie überhaupt wichtig für die EU?
Ein Binnenmarkt, der fairen Wettbewerb garantieren soll, wo ArbeitnehmerInnen und Unternehmen grenzüberschreitend tätig sein können, kann auf Dauer nur bei vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen und sozialen Standards funktionieren. Deshalb ist es schon wirtschaftspolitisch ein Muss, dass sich die Standards zumindest annähern. Und es war immer Konsens in der EU, dass sich die Standards nach oben annähern sollen.
Wir hatten immer das Konzept, ambitionierte Mindeststandards auf europäischer Ebene zu schaffen, um die Staaten nachzuholen, die zurückgeblieben sind. Mit der großen Osterweiterung ist dieses Konzept immer schwieriger geworden, weil der Wohlstandsunterschied so enorm ist, dass es kaum möglich ist, Mindeststandards zu schaffen, die für ArbeitnehmerInnen in Schweden oder Österreich genauso attraktiv sind wie für jene in Bulgarien oder Rumänien.
Was, wenn es nicht gelingt, die soziale Säule in der EU zu verankern?
Dauerhaft ist eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne soziale Konvergenz, also soziale Annäherung, nicht möglich. Wenn es in den nächsten Jahren keinen deutlichen Schritt Richtung soziales Europa gibt, werden wir das Europa, das wir jetzt kennen, nicht mehr wiedererkennen, weil die EU dann bei den Menschen keine Akzeptanz mehr finden wird und der Vormarsch der PopulistInnen weitergeht.
Wir sehen schon jetzt beim Flüchtlingsthema, dass viele Menschen glauben, dass Europa es nicht schafft, eine gerechte Lösung herbeizuführen. Die Akzeptanz wird weiter sinken, wenn man Lohn- und Sozialdumping nicht bekämpfen kann und Steuerdumping nicht beendet. Dann sehen ArbeitnehmerInnen die EU als Treibstoff für den Motor Lohn-, Sozial- und Steuerdumping an. Daher gibt es keine Alternative zu einem sozialen Europa.
Es funktioniert nicht, die EU nur als Freihandelszone zu gestalten und die Mitgliedstaaten das Soziale selber ausmachen zu lassen: Die soziale Spaltung und die sozialen Unterschiede in und zwischen den Mitgliedstaaten nehmen zu. Europa würde zerreißen. Aber leider geht es in letzter Zeit in die falsche Richtung. Einige Mitgliedstaaten wollen überhaupt keine soziale Konvergenz, sondern lieber die Uhr Richtung 80er- und 90er-Jahre zurückdrehen.
Und diese Staaten sind so dominant?
Sie sind nicht dominant, aber sie versuchen, so viel Widerstand zu mobilisieren, dass es zu keinen Mehrheiten kommt oder Vorschläge so zu verwässern, dass nichts Substanzielles übrigbleibt. Wir haben früher oft die Kommission für ihr geringes Engagement für ein soziales Europa kritisiert. Doch die Juncker-Kommission hat hier versucht, viel auf den Weg zu bringen.
Der Widerstand kommt jetzt aus den Mitgliedstaaten. Traditionell war das immer Großbritannien mit einigen Verbündeten aus Osteuropa. Wir sehen, dass Staaten wie Polen und Ungarn, die das auf europäischer Ebene völlig blockieren, jetzt auch unterstützt werden von Italien und leider zunehmend auch von Österreich. Die Kommission und das Europäische Parlament wären durchaus bereit, weiter zu gehen als einige Mitgliedstaaten.
Welche positiven Dinge sind bisher passiert?
Wir sind beim Kampf um gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort einen Schritt weiter. Wir haben die Entsenderichtlinie deutlich verschärft – eine langjährige Forderung von ÖGB und AK – und uns dort mit der Kommission gegen die Arbeitgeber auf europäischer Ebene und gegen massive Widerstände aus den ost- und mitteleuropäischen Ländern durchgesetzt. Das ist ein Schritt, um das Geschäftsmodell Lohn- und Sozialdumping in die Schranken zu weisen.
Worauf fokussieren Sie sich als nächstes?
Es sind Initiativen am Weg wie zum Beispiel die Europäische Arbeitsschutzbehörde oder auch ein Projekt von ÖGB, AK und dem DGB, in dem es um europäische Mindeststandards für die nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme geht.
Wir wollen keine europäische Arbeitslosenversicherung, die für alle gelten soll, sondern dass es endlich Mindeststandards gibt, von denen die Menschen profitieren, zum Beispiel bei der Bezugsdauer: In einigen Mitgliedstaaten ist nach drei Monaten Schluss. Es stellt sich auch die Frage, wie viel Geld die Menschen bekommen, also wie hoch die Nettoersatzrate ist, und wie viele Leute überhaupt von der Arbeitslosenversicherung abgedeckt sind.
Europäische Mindeststandards in den Mitgliedstaaten wären ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Auch da gibt es große Widerstände. Wir sind erst am Anfang der Debatte. Aber auch da ist die Soziale Säule der Ansatzpunkt, weil sie grundsätzlich angemessene Leistungen für Arbeitslose aus den Arbeitslosenversicherungen festschreibt.
Lohn- und Sozialdumping in der EU zu bekämpfen, ist sicher wichtig. Aber auch andere Länder treiben Sozialdumping voran. Was tun?
Ja, das stimmt. Und auch beim Steuerdumping spielen außereuropäische Länder mit. Aber wir sollten den ersten Schritt vor dem zweiten machen. Wenn wir das über globale Lösungen schaffen wollen, werden wir sie wahrscheinlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Bis wir zum Beispiel globale Regeln für eine Finanztransaktionssteuer festlegen, wird sehr viel Zeit vergehen. Deshalb sollten wir den Mut und das Selbstbewusstsein haben, zu sagen: Die EU ist einer der größten und mächtigsten Wirtschaftsräume und wir sollten hier verbindliche und fortschrittliche Regeln festschreiben. Danach können wir uns um globale Standards kümmern. Das Herausreden auf den Rest der Welt ist ja oft eine Strategie, damit überhaupt nichts weitergeht.
Alexandra Rotter
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/18.
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