Lösungen für die Betreuungs- und Pflegekrise

Pflexit Proteste in der Pflege
Gewerkschafts- demo für Reform der Pfleger:innenausbildung 2007. Unter dem Druck der Pandemie gelang 2020 ein Teilerfolg, aber die Entlastung im Beruf blieb bisher aus. | © Bibliotheca Alexandrina | Archiv der Gewerkschaft vida
Lösungen, um die Pflege- und Betreuungskrise zu überwinden, liegen längst auf dem Tisch. An Ideen mangelt es keineswegs. Doch deren Umsetzung ist kompliziert. Wie es trotzdem klappen könnte.
Plötzlich kippte die Situation. Das Coronavirus gab den Ausschlag und die Pflegekrise verschärfte sich schlagartig. Mindeststandards der Menschlichkeit, ein gesellschaftlicher Konsens zu Rücksichtnahme und Nächstenliebe galten nicht mehr. Der Pflegesektor, der Menschen buchstäblich vor dem Tod bewahrt, leistet bis heute Übermenschliches, bekommt aber nichts zurück. Viele boykottieren selbst die einfachsten Maßnahmen. Wer die Wahl hat zwischen Nudeln-und-Klopapier-Horten oder Rücksichtnahme und Solidarität walten zu lassen, der geht einkaufen.

Personal macht auf Pflegekrise aufmerksam

Das führt dazu, dass plötzlich das Personal um seine Gesundheit bangen muss. Die Petition #YesWeCare fasst die dramatische Situation zusammen und kann als Hilfeschrei verstanden werden. Als erster. Nicht als letzter. Denn Corona hat die Situation in der Pflege nicht auf den Kopf gestellt, sondern diente als Brandbeschleuniger. Als Turbo für Probleme, die ohnehin auf uns zugekommen wären. „Es ist so, dass wir bis 2030 mit einer Steigerung von rund 80 Prozent der Nachfrage nach Pflegedienstleistungen rechnen. Bis 2050 rechnet das WIFO mit über 300 Prozent“, analysiert Ulrike Famira-Mühlberger die Situation. Sie ist Ökonomin und stellvertretende Direktorin des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO).

Lösungen Pflegekrise: Ulrike Famira-Mühlberger vom WIFO erklärt, warum eine Pflegereform nicht möglich ist.
Ulrike Famira-Mühlberger vom WIFO über Lösungen in der Pflegekrise: „Die Pflege ist kein politisches Minenfeld, aber sozialpolitischer Spielball.“ Erwartungen würden geweckt, aber nicht umgesetzt. | © Markus Zahradnik

Schon vor der Pandemie wies die „Offensive Gesundheit“ darauf hin. Ein Zusammenschluss unterschiedlicher Gewerkschaften und Vertretungen des Pflegesektors und Gesundheitswesens. Hier vereinen die GÖD-Gesundheitsgewerkschaft, die Gewerkschaft GPA, die ÖGB/ARGE-FGV für Gesundheits- und Sozialberufe, die Gewerkschaft vida, das Team Gesundheit der younion, die Arbeiter- und die Ärztekammer 400.000 Beschäftigte aus diesem Bereich. Das Anliegen ist klar: eine tiefgreifende Pflegereform.

Zu hohe Erwartungen an Pflegereform

Die Lösung der Pflegekrise könnte ganz einfach sein. Denn der Pflegesektor ist – zumindest auf den ersten Blick – ein dankbarer Bereich für staatliche Investitionen. „In der Pflege ist der Multiplikator besonders hoch, weil das ein sehr dienstleistungsintensiver Bereich ist. Da geht viel in Löhne und regionale Wertschöpfung. Von diesem Geld kommt in Form von Steuern und Sozialversicherung viel zum Fiskus zurück“, erläutert Famira-Mühlberger. Pro investiertem Euro seien das stolze 70 Cent. Einfach Geld zu verteilen funktioniert aber nicht, weil es zwei Probleme gibt.

Zum einen ist nicht klar, welche Leistungen überhaupt benötigt werden. Was sollen sich Menschen, die pflegebedürftig sind, und deren Angehörige erwarten dürfen? Das zu ermitteln wäre die Aufgabe einer Pflegereform, die aber kaum aus den Startlöchern kommt. Der Grund dafür ist das zweite Problem: der Föderalismus. „Länder und Gemeinden sind verfassungsmäßig für die Bereitstellung der Leistungen zuständig. Die Steuereinnahmen erfolgen aber überwiegend auf Bundesebene. Die Frage der Langzeitpflege lässt sich daher nur gemeinsam beantworten“, fasst Kurt Schalek die Situation zusammen. Er ist Referent in der Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik der Arbeiterkammer Wien.

Famira-Mühlberger war selbst in der Pflege-Taskforce, die Vorschläge für eine Reform unterbreitet hat, und fasst es so zusammen: „Die Pflege ist kein politisches Minenfeld, aber sozialpolitischer Spielball. Das Problem ist, dass das Pflegegeld über den Bund ausbezahlt wird, aber Pflegedienstleistungen Länderkompetenz sind, die Umsetzung aber bei den Gemeinden liegt. Das ist ein schwieriger Cocktail.“ Ein großes Problem seien die vollmundigen Ankündigungen und die geweckten Erwartungen gewesen. „Mit dieser Art der Kommunikation hat man suggeriert, dass eine große Reform beim Pflegethema möglich ist. Ich glaube aber, dass sie so, wie sie versprochen wurde, nicht machbar ist. Da sind Erwartungen geschürt worden, die man nicht erfüllen kann.“

© Statistik Austria, Rechnungshof 2020

Zu wenige Daten über regionale Pflege

Ein wichtiger Schritt, um dieses Problem zu überwinden, sei die regionale Ausdifferenzierung in der Pflege. Auf lokaler Ebene ließe sich leicht und präzise abschätzen, welchen Bedarf es im Pflegesektor geben wird. Diese Daten müssten gehoben und analysiert werden. Nur so könnten auch die Kosten ermittelt werden. Der zweite Schritt hängt direkt damit zusammen. Der Pflegesektor müsste ähnlich organisiert werden wie der Arbeitsmarkt. „Ich vergleiche das mit dem Arbeitsmarktservice: Da gibt es regionale Geschäftsstellen, weswegen wir sehr gut über regionale Arbeitsmarktsituationen Bescheid wissen. In der Pflege gibt es so ein Pendant nicht“, erläutert Famira-Mühlberger ihren Vorschlag.

Diese Art der Maßnahmen seien in der Pflegekrise Low Hanging Fruits. Mit wenig Aufwand – genau genommen nur mit exakter Datenanalyse und aktuellen regionalen Informationen – könnten die größten Probleme angegangen werden. Denn: „Es ist nicht so, dass im Pflegebereich nichts passiert. Für größere Lösungen müssten aber alle Bundesländer mit an Bord sein, und das ist relativ schwierig. Es müssten die Kompetenzen verschoben werden, und das ist nicht realistisch.“

Pflegekrise: Komplexe Finanzierung macht Lösungen schwer

Auch Schalek sieht in der aktuellen Kompetenzverteilung eine hohe Hürde, aber dennoch die Regierung in der Pflicht: „Der Bund ist dafür verantwortlich, einen Einigungsprozess in Gang zu bringen und Strukturen zu schaffen, über die man sich koordinieren kann. Während die Länder ihre Hausaufgaben machen und schauen müssen, Leistungen anzubieten, die die Menschen auch brauchen.“ Der Pflegefonds sei in diesem Interessenkonflikt die einfachste Lösung.

Denn dabei handle es sich um ein Zweckzuschussgesetz. „Das bedeutet, dass der Bund das Geld den Ländern und Gemeinden unter bestimmten Voraussetzungen gibt. Damit gibt es einen Steuerungseffekt, ohne dass man die Verfassung ändern muss.“ Die erwähnten Voraussetzungen seien aber der Kern dieser Lösung. Denn: „Die Unterschiede in den Ländersystemen sind – je nachdem, um welche Leistungen es geht – gewaltig. Die Verfügbarkeit von Diensten, die Kosten, die Wartezeit … es ist eine Postleitzahlen-Lotterie, welche Versorgung man kriegt.“ Hier gelte es, Angleichungen zu schaffen. Ein Ziel, auf das auch die Lösungen von Famira-Mühlberger hinauslaufen würden.

Lösungen Pflegekrise: Kurt Schalek von der Arbeiterkammer Wien über Probleme in der Pflege.
„Jene Politiker:innen, die glauben, dass man aus dem Ausland Arbeitnehmer:innen importieren kann, sind jene, die sich mit dem Problem nicht beschäftigt haben“, stellt AK-Pflegeexperte Kurt Schalek fest. | © Markus Zahradnik

Lösungen in der Pflegekrise: Ausbildungsoffensive gegen Personalmangel

Das löst jedoch das zweite zentrale Problem der Pflege- und Betreuungskrise nicht. Einen sich zuspitzenden Personalmangel. Der demografische Wandel zieht sich durch alle Sektoren und Lebensbereiche durch. Die große Pensionierungswelle der Babyboomer ab dem Jahr 2025 wird auch zu mehr Pensionierungen im Pflegesektor führen. Längst ist die Zahl von 76.000 zusätzlichen Pflegekräften bis zum Jahr 2030 zu einem Mantra der Gewerkschaften geworden. Aus Sicht von Schalek ist eine Ausbildungsoffensive – die besser heute als morgen Fahrt aufnimmt – das wichtigste Werkzeug, um die Arbeitsbedingungen erträglich zu halten.

Und tatsächlich gibt es bereits einen Ausbildungsfonds des Sozialministeriums. Der ist notwendig. Es geht in erster Linie darum, ein Praktikumsentgelt zahlen zu können oder Quereinsteiger:innen eine Umschulung finanzieren zu können. Die haben oft das Problem, bereits eine Familie oder andere Verpflichtungen wie Mietzahlungen zu haben, die sich mit der normalen Ausbildungsentschädigung nicht finanzieren lassen. Das Problem am bestehenden Ausbildungsfonds sei aber, dass er mit gerade einmal 50 Millionen Euro bis zum Jahr 2024 völlig unterfinanziert sei, so Schalek.

Praxisnahe Personalrechnung notwendig

Es gehe dabei auch darum, dass die Ausbildung in der Pflege extrem praxisnah stattfinden müsse. Menschen, die noch lernen würden, bräuchten dann aber eine erfahrene Arbeitskraft, die ihnen Schritte zeigt und erklärt. Von diesen Personen könnte dann aber nicht parallel noch die gleiche Pflegeleistung erwartet werden. Um dieses Problem zu lösen und gleichzeitig die Ausbildung im Pflegesektor attraktiver zu machen, gäbe es eine einfache Lösung, so Schalek. Die Personalschlüsselrechnung müsse transparenter und ehrlicher gemacht werden.

So dürften beispielsweise Angestellte, die im Urlaub oder Krankenstand sind, nicht mit eingerechnet werden. Auch Auszubildende oder Personen, die Leitungsaufgaben erfüllen, dürften nicht zum pflegenden Personal gerechnet werden, nur um die Quote erfüllen zu können. Mit einer Personalschlüsselrechnung, die tatsächlich die Realität widerspiegelt, ließe sich der wahre Personalbedarf viel präziser ermitteln. Gleichzeitig könnten die Arbeitsbedingungen in der Pflege – die vor allem unter zu wenig Personal leiden – stark verbessert werden. Sonst droht der Pflexit. Denn die beste Ausbildung nütze nichts, wenn die Arbeitsbedingungen dazu führen, dass die Beschäftigten nach wenigen Jahren den Beruf wechseln. Eine weitere Möglichkeit wäre es, dem Pflegepersonal zu ermöglichen, die Schwerarbeiterpension zu nutzen.

Mehr Nachfrage verschärft Pflegekrise

Auch Famira-Mühlberger betont, dass eine Ausbildungsoffensive in der Pflegekrise essenziell sei, um den Personalbedarf in Zukunft zu decken. Sie sieht allerdings auch eine weitere Ebene: „Es ist ganz klar, dass es im Pflegebereich aufgrund der zu erwartenden Nachfragesteigerung und der Personalknappheit ohne Migration nicht gehen wird. Hier müssen wir uns anstrengen, um ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben.“ Sie sagt, dass sich der Wettbewerb um diese Arbeitskräfte verschärft habe, weswegen Österreich seine Bemühungen um diese Fachkräfte verstärken müsse.

Wir müssen unsere Kapazitäten
so ausrichten, dass wir die
steigende Nachfrage aus eigener
Kraft stemmen können. 

Kurt Schalek, Experte für Pflegepolitik der AK Wien

 

Es ist einer der wenigen Punkte, in denen sich die beiden Fachleute widersprechen. „Wir müssen unsere Kapazitäten so ausrichten, dass wir die steigende Nachfrage aus eigener Kraft stemmen können. Das ist weniger risikobehaftet, als sich darauf zu verlassen, dass man im Ausland schon irgendwelche Leute finden wird“, betont Schalek.

Migrants Care

Denn auch die Länder, die diese Menschen ausbilden würden, hätten die gleiche Pflegekrise wie Österreich. Entsprechend überschaubar seien die Erfolgsaussichten. Deutschland wirbt bereits seit Jahren gezielt Pflegekräfte an, hat aber nur geringen Erfolg. „Jene Politiker:innen, die glauben, dass man aus dem Ausland Arbeitnehmer:innen importieren kann, sind jene, die sich mit dem Problem nicht beschäftigt haben. Es gibt seit Jahrzehnten einen globalen Pflegemarkt, der stark umkämpft ist“, wird Schalek deutlich.

Für ihn liegt die Lösung der Pflege- und Betreuungskrise im Inland. Unabhängig von der Herkunft. Das bedeute aber, das Angebot niederschwelliger aufzubauen. „Ausbildungsoffensive heißt, auch diejenigen anzusprechen, die hier sind und die man vielleicht nicht so einfach erreicht“, führt er weiter aus. Dafür gebe es beispielsweise die Aktion „Migrants Care“. Sie hilft Menschen mit Migrationshintergrund dabei, bestimmte Hürden zu überwinden. So könnten sie in Vorqualifizierungsmaßnahmen eine fachspezifische und fachsprachliche Ausbildungs- und Berufsvorbereitung erhalten.

Expert:innen, Beschäftigte und deren Vertretungen sind sich längst einig darüber, dass etwas passieren muss. Selbst bei den Lösungen gibt es keine zwei Meinungen. Jetzt liegt der Ball bei der Regierung.

Zwei Fakten zum Thema

1 / Pflegende Angehörige

Unabhängig von seinem Wert für die Gesellschaft leistet der Pflegesektor einen riesigen Beitrag zur Volkswirtschaft. Jede:r zehnte Beschäftigte innerhalb der EU – also etwa 23 Millionen Menschen – arbeitet im Gesundheits- und Sozialwesen inklusive der Pflege. Die Jobs schaffen einen Gegenwert von 800 Milliarden Euro. Jedes Jahr. Angesichts dieser Zahlen ist es verantwortungslos, dass Angehörige 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Österreich pflegen, wie die Bundesregierung selbst vorrechnet. Drei Viertel der Pflegenden sind Frauen. Die große Mehrheit davon gibt den eigenen Beruf entweder ganz auf oder reduziert zumindest die Arbeitszeit.

Die entstandene Betreuungsarbeit hat einen Gegenwert von 3,1 Milliarden Euro. Das große Manko ist, dass sie nicht bezahlt wird. Im Gegenteil. Diese Arbeitsplätze könnten in der Pflege entstehen, die Arbeiten werden aber stattdessen von (ungeschulten) Angehörigen erledigt, die dafür auch noch (ungewollt) auf Erwerbsarbeit verzichten. Ein doppelter Schaden. Zum Vergleich: Für Pflegeheime wendet der österreichische Staat jedes Jahr 3,4 Milliarden Euro auf.

2 / Tatenlosigkeit der Politik

Natürlich ist all das längst bekannt. 2012 präsentierte die damalige rot-schwarze Regierung unter Werner Faymann „Empfehlungen der Reformarbeitsgruppe Pflege“ mit insgesamt 35 Maßnahmen, die auch heute noch relevant wären. Passiert ist nichts. 2017 fand eine parlamentarische Enquete zur Langzeitpflege statt, die ebenfalls ohne praktische Folgen blieb. 2018 versprach die schwarz-blaue Regierung unter Sebastian Kurz dann eine „Generallösung der Pflegefrage“, lieferte diese aber nicht. 2021 präsentierte die mittlerweile schwarz-grüne Regierung dann den Bericht der „Taskforce Pflege“, konnte den aber bislang auch nicht in Zählbares umsetzen.

 

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Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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