Arbeit und Wirtschaft: Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie dazu bewogen hat, das Buch „Arbeit Macht Missbrauch“ zu schreiben?
Lena Marbacher: Es gab 2023 in Deutschland drei große Missbrauchs-Skandale, die viel Aufmerksamkeit bekamen: den um den damaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, den um Schauspieler Til Schweiger und den um Till Lindemann, Sänger der Band Rammstein. Ich habe mich gefragt, warum gerade diese Fälle so viel Berichterstattung bekommen, wenn es doch in jeder Branche solche Vorfälle gibt.
Was meinen Sie damit?
Machtmissbrauch hat System. Ich habe mir 15 sehr unterschiedliche Bereiche angeschaut, und in jedem Einzelnen passiert er. Wir sprechen sehr oft darüber, wie schlimm die Täter:innen sind, aber nicht über die Systeme und Bedingungen, die so etwas überhaupt möglich machen. Denn es sind immer dieselben Muster, wie Täter:innen vorgehen, immer ähnliche Kategorien von Betroffenen, oft dieselben Abläufe.
Was begünstigt solche Vorfälle?
Schauen wir auf die Arbeitswelt: Organisationen haben immer die gleiche Grundlogik. Hohe Positionen in einer Hierarchie enthalten formale Macht, dadurch soll Komplexität reduziert werden und sie sind prinzipiell kontrollierbar. Aber dadurch entstehen in den formalen Strukturen informale Lücken, wo Machtmissbrauch möglich ist. Es wird manipuliert, gemobbt, belästigt und übergriffiger Humor als Organisationskultur getarnt. Genau dort müssen wir als Gesellschaft und im Betrieb hinschauen.
Alle wissen, was passiert,
aber niemand sagt oder
unternimmt etwas dagegen.
Lena Marbacher,
Autorin und freie Journalistin
Wie lässt sich das ändern?
Ein Unternehmen muss zuerst einmal bemerken, dass es zu solchen Vorfällen kommt. Diese Lücken müssen dann geschlossen werden, indem Regeln formuliert werden und geschultes Personal intern als Ansprechpartner:innen zur Verfügung steht. Das ist auch in kleinen Unternehmen mit flachen Hierarchien besonders wichtig, weil hier kaum formale Strukturen gegeben sind. Wenn der oder die Geschäftsführer:in gleichzeitig Personalabteilung, Vertrauensperson und belästigende Person ist, wird es kompliziert.
Sie haben angesprochen, dass Opfer oft ähnlichen Personengruppen angehören. Welche meinen Sie konkret?
Insgesamt sind die Menschen, die in unserer Gesellschaft generell diskriminiert werden, oft auch diejenigen, die Machtmissbrauch im Beruf erleben. Dazu zählen Frauen, sehr junge oder alte Menschen, Personen mit Zuwanderungsgeschichte, Menschen mit Behinderung oder queere Menschen.
Machtmissbrauch passiert nicht im „Dunkeln“, sondern oft auch ganz offen sichtbar. Welche Rolle spielen dann die Kolleg:innen im Betrieb?
Man kann von einem duldenden Umfeld sprechen. Alle wissen, was passiert, aber niemand sagt oder unternimmt etwas dagegen. Die Umstehenden möchten oft nicht in den Fokus geraten, fühlen sich selbst unter Druck gesetzt oder stehen vielleicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Täter:innen, weil es zum Beispiel die Chefin ist. Aus der Forschung wissen wir aber: Wenn eine Person etwas sagt, folgen wahrscheinlich auch andere. Es muss klare Regeln geben, was im Fall von Machtmissbrauch passiert und Stellen, an die man sich wenden kann zum Beispiel der Betriebsrat.
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Was hat Sie an der Recherche zu Ihrem Buch besonders berührt?
Was mich am meisten erschüttert hat, ist, dass die Zahl der Vorfälle gesamtgesellschaftlich viel größer sein wird, als wir denken. Die Fälle, die an die Öffentlichkeit kommen, sind nur das sogenannte Hellfeld. Dinge in der Art passieren täglich und überall: Im Sportverein, im Konzern, in der Polizei, in Start-ups, dem Kindergarten, der Gastronomie und der Politik.
Wenn Sie bei sexueller Belästigung helfen wollen, selbst betroffen sind oder mehr Informationen zum Thema wollen, finden Sie hier Hilfestellungen: ÖGB (Erste Hilfe bei Mobbing) oder hier Arbeiterkammer (Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz).
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