Neue Herausforderungen treffen auf ein altes System
Die Pflegebranche befindet sich im Wandel. Zum einen entsteht ein höherer Pflege- und Betreuungsbedarf durch den demografischen Wandel. Zum anderen stehen viele Beschäftigte in der Pflege vor der Pensionierung und hinterlassen eine Lücke, die nicht rasch genug durch neue Pflegekräfte geschlossen werden kann. Das führt unter anderem dazu, dass ein erhöhter zeitlicher Druck bei der Arbeit entsteht, weil es keine Anpassungen der Personalressourcen an die sich verändernde BewohnerInnenstruktur in Alten- und Pflegeheimen gibt.
Mittlerweile sind 67 Prozent der Beschäftigten mit den Betreuungsquoten unzufrieden und überfordert. Kein Wunder, werden in Österreich doch durchschnittlich 49 Personen pro Nachtschicht von nur einer Pflegekraft betreut. Langfristig gesehen führt das zu einem enormen Problem: „Bis 2050 werden Schätzungen von Versicherungsträgern zufolge rund 40.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt“, betont Christian Seubert, Arbeits- und Organisationspsychologe. Daher fordert er: „In der derzeit laufenden Diskussion zur Attraktivierung der Pflegeberufe braucht es mehr denn je Rahmenbedingungen, die Menschen für diesen Beruf begeistern und langfristig gesund im Arbeitsfeld Langzeitpflege halten.“
[infogram id=“aandw-online-pflege-betreuungsschlussel-1h0r6rw7mdgl4ek?live“]Die Notwendigkeit neuer Rahmenbedingungen
- Erhöhte Anforderungen
- Personalmangel
- Zeitmangel
Dass unter diesen Voraussetzungen einzelne Wohnbereiche oder ganze Pflegehäuser nicht in Betrieb gehen können, weil nicht ausreichend Pflegepersonal gefunden wird, ist dabei nicht weiter verwunderlich. Alles steht und fällt mit den Rahmenbedingungen. „Ohne attraktive Arbeitsplätze werden viele Menschen nicht für einen Pflegeberuf zu gewinnen sein, geschweige denn in diesem bleiben wollen. Der Handlungsdruck steigt“, so Kurt Schalek, Referent in der Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik der AK Wien. Er kennt die Herausforderungen, denen sich die Pflegebranche stellen muss: „So sind bei der Berufswahl das zu erwartende Einkommen und bekannte Belastungen, wie Zeitdruck oder unregelmäßige Arbeitszeiten, wichtige Faktoren. Für bereits im Berufsleben stehende Pflegende tritt die Bedeutung der Bezahlung hingegen ein wenig zurück. Dafür werden die Qualität der Arbeit mit den unterstützten Menschen und das Arbeitsklima im Team und der Organisation wichtiger.“
Ohne attraktive Arbeitsplätze werden viele Menschen nicht für einen Pflegeberuf zu gewinnen sein, geschweige denn in diesem bleiben wollen.
Kurt Schalek, AK Wien
Eine Studie aus Deutschland zeigt außerdem: Knapp die Hälfte jener BerufsaussteigerInnen, die sich nicht vorstellen können, den Pflegeberuf langfristig auszuüben, „wäre durchaus bereit, wieder in die Langzeitpflege zurückzukehren, allerdings unter verbesserten Bedingungen. Dazu zählen die Verbesserung der Strukturen, wie z. B. ein Umdenken in der Pflegedokumentation oder auch beim Einsatz der einzelnen Berufe in der Pflege, mehr Personal, aber auch verbesserte Entlohnung“, fasst Schalek die Ergebnisse zusammen.
Die Gestaltung neuer Rahmenbedingungen
Welche Forderungen stehen konkret im Raum? Fakt ist: Mehr als die Hälfte der Beschäftigten wünscht sich mehr Zeit für soziale Betreuung und Interaktion mit den Betroffenen. Das geht aber nur, wenn genügend personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Es braucht also langfristig „das politische Bekenntnis zu einer realistischen, bedarfsorientierten, einheitlichen und transparenten Personalbedarfsermittlung“, betont Jürgen Glaser, Professor für Angewandte Psychologie und Leiter des Instituts für Psychologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Darunter fällt unter anderem, dass es keine Nachtdienste mehr alleine in einem Heim geben darf. Gefordert werden mindestens zwei Fachkräfte pro Nachtschicht, bei mehr als 100 BewohnerInnen mindestens drei. Zudem müssen Fehlzeiten wie Urlaube, Krankenstände und Fortbildungen in der Personalplanung berücksichtigt werden“, stellt Staflinger klar.
Die derzeit geltenden Personalschlüssel sind längst veraltet und bedürfen einer adäquaten Anpassung.
Heidemarie Staflinger, AK Oberösterreich
Dies kann nur durch zeitgemäße und transparente Personalberechnungsmethoden erreicht werden. Denn: „Die derzeit geltenden Personalschlüssel sind längst veraltet und bedürfen einer adäquaten Anpassung“, kritisiert Heidemarie Staflinger. Stattdessen muss im Rahmen der Personalberechnungen ausreichend Zeit für betreute Menschen bereitgestellt werden. Und es braucht „personenzentrierte Pflegekonzepte, die motivierend für die Beschäftigten wirken und gleichzeitig den Bedürfnissen pflegebedürftiger Menschen nachkommen“, gibt Gudrun Bauer, Sozioökonomin und Pflegewissenschafterin, zu bedenken.
Den Belastungen entgegenwirken
„In der Langzeitpflege stehen psychische und körperliche Belastungen an der Tagesordnung. In österreichischen Alten- und Pflegeheimen sind etwa 40 bis 50 Prozent der Beschäftigten regelmäßig körperlicher Gewalt und Beschimpfungen durch die betreuten Personen ausgesetzt, für 20 Prozent der Arbeitskräfte ist auch sexuelle Belästigung regelmäßig ein Thema“, so Bauer.
[infogram id=“aandw-online-pflege-belastungen-1hnp27qldzpy4gq?live“]Das macht für Bauer den akuten Handlungsbedarf deutlich: „Präventive Maßnahmen wie gezielte Weiterbildungen für den Umgang mit belastenden Situationen und veränderten Krankheitsbildern werden hier ebenso benötigt wie ein verbessertes Angebot an Supervision und adäquaten Arbeitsmitteln. Denn das hohe psychische und physische Erschöpfungserleben der Beschäftigten zeigt sich zumindest bei 18 Prozent von ihnen in einem schlechten Gesundheitszustand – und dieser ist erwiesenermaßen ausschlaggebend für einen langfristigen Verbleib im Pflegeberuf.“
Wer sich zudem regelmäßig psychisch und physisch erschöpft fühlt, wie aus der nachfolgenden Grafik ersichtlich ist, wird den Pflegeberuf langfristig nicht ausüben können. Es braucht ein Umdenken mit dem Ziel, den Belastungen entgegenzuwirken und das Arbeitsumfeld attraktiver zu gestalten.
[infogram id=“aandw-online-pflege-erschopfung-1hnp27qld3rn4gq?live“]Pflegedokumentation neu denken
Ein großer Teil der Arbeitszeit von Pflegekräften widmet sich im Alltag der Dokumentation. Diese ist natürlich wichtig, Heidemarie Staflinger betont jedoch, dass „vermehrt auf Sinn und Wirkung der Pflegedokumentation“ geschaut werden sollte. „In der Praxis zeigt sich, dass Beschäftigte in der Langzeitpflege die Pflegedokumentation als wichtiges Instrument schätzen, um sich rechtlich abzusichern, aber vor allem auch um für die BewohnerInnen bestmögliche Pflege und Betreuung zu gewährleisten. Beschäftigte klagen aber auch, dass derzeit viel Zeit für die Dokumentation verwendet wird, Schätzungen liegen hier bei bis zu 30 Prozent der Arbeitszeit.“ Das Problem dabei ist, dass Tätigkeiten, die nicht dokumentiert werden, offiziell als nicht durchgeführt gelten. Und wenn dann noch jede Pflegekraft drei BewohnerInnen zur Dokumentation hat, ist das zeitraubend. Staflinger gibt außerdem zu bedenken: „Manche Pflegekräfte dokumentieren sogar in ihrer Freizeit, um so viel Zeit wie möglich direkt bei den von ihnen betreuten Menschen verbringen zu können.“
Manche Pflegekräfte dokumentieren sogar in ihrer Freizeit, um so viel Zeit wie möglich direkt bei den von ihnen betreuten Menschen verbringen zu können.
Heidemarie Staflinger, AK Oberösterreich
Zum Thema Pflegedokumentation wurden viele Studien durchgeführt. Das Ergebnis: Die Pflegedokumentation könnte reduziert werden. Staflinger meint dazu: „Es braucht Mut, sich auf neue Ideen einzulassen und gewohnte Wege zu verlassen.“ Ressourcen müssen bereitgestellt werden, Anpassungen der Aus- und Weiterbildungskonzepte im Bereich Pflegedokumentation müssen erfolgen.
Neue Anreize schaffen
Um auch künftig Nachwuchskräfte für die Pflegebranche zu begeistern, müssen in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungen in Bezug auf Personalressourcen und eine sinnvolle Pflegedokumentation verbessert werden. Aber das Verbesserungspotenzial endet hier noch lange nicht. Der ausschlaggebende Grund, weshalb sich Menschen für einen Pflegeberuf entscheiden, ist sehr oft das Bedürfnis, Menschen mit Pflegebedarf bestmöglich zu helfen. Und genau dafür muss genügend Kapazität zur Verfügung stehen, um sich auf die einzelnen Menschen einlassen zu können, Vertrauen aufzubauen und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen. Kurt Schalek sieht darin viel Potenzial: „Wenn der bislang ‚unsichtbare‘ Teil der Pflege in der Finanzierung und Personalberechnung berücksichtigt wird, steigen die Chancen, neue ArbeitnehmerInnen für die Langzeitpflege zu gewinnen.“
Letztendlich kommt es darauf an, die Berufsbilder der Gesundheits- und Sozialbetreuungsberufe aufzuwerten und die Rahmen- sowie Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dann klappt’s auch mit dem Gegensteuern gegen den Fachkräftemangel in dieser Branche.