Im Marienthal gibt es keine Langzeitarbeitslosigkeit mehr
Die Abkürzung steht für „Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal“ – ein weltweit einzigartiges Pilotprojekt des AMS Niederösterreich. Ziel ist es, Langzeitarbeitslosigkeit in Gramatneusiedl – zu dem Marienthal gehört – abzuschaffen. Jedem Menschen, der in der Gemeinde wohnt, der länger als zwölf Monate arbeitslos ist, wird ein staatlich finanzierter Job zugesichert. Es ist das erste Modellprojekt einer Arbeitsplatzgarantie. Die Teilnahme ist freiwillig und gearbeitet wird zwischen 16 und 38 Wochenstunden. Entlohnt wird nach Kollektivvertrag. Das Programm läuft bis 2024.
Extrem spannendes Pilotprojekt des Arbeitsmarktservice Niederösterreich: Eine #Jobgarantie für #Langzeitarbeitslose in der Gemeinde Gramatneusiedl (ein Teil davon: Marienthal) Ein Thread: 1/6https://t.co/jhPw3elF8F
— Oliver Picek (@OliverPicek) October 22, 2020
Yaman war eineinhalb Jahre arbeitslos gemeldet. Sie suchte eine Stelle als Verkäuferin. „Es ist wirklich schwer, einen Job zu finden, neben dem ich drei Kinder betreuen kann.“ Die besuchen zwar längst die Schule und den Kindergarten, doch am Nachmittag müssen sie abgeholt werden. An einigen Tagen schrieb sie vier Bewerbungen nacheinander. Die meisten Firmen hätten sich nie gemeldet. Wenn sie dann hinterher telefonierte, kam Trost, aber wenig Tat: Sie müsse Geduld haben. Doch die wird von Monat zu Monat weniger.
Selbstwertgefühl ist unbezahlbar
„Wäre ich zu einem Gespräch eingeladen geworden, ich hätte sie überzeugt“, ist sich die 37-Jährige sicher. Jeden Monat ärgerte sie sich, für das Geld des AMS auf ihrem Konto nichts geleistet zu haben. „Ich fühlte mich so nutzlos, es hat mich fertig gemacht.“ Am schlimmsten seien die Fragen in ihrem Umfeld gewesen, warum sie denn immer noch keinen Job hätte. Am meisten fehlte ihr die Tagesstruktur. Ihr gefällt es hier gut, sie hat so viel Neues gelernt und trotzdem muss sie weiter suchen, denn Ziel ist es, eine fixe Stelle außerhalb des Projektes zu finden.
Yaman ist das, was die Leiterin des Projekts Daniela Scholl eine „Transitarbeitskraft“ nennt. Damit meint sie ein gefördertes Dienstverhältnis, in dem die Person aber genauso Anspruch auf fünf Wochen Urlaub, Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld hat wie alle anderen Arbeitenden auch. Die benötigten Stunden organisiere man sich individuell. Je nachdem, was die Person braucht, wie viele Stunden sie arbeiten möchte. Das kann von 20 bis 38 Stunden reichen. Damit gestalten sich die Arbeitszeiten oftmals deutlich flexibler als in anderen Jobs.
MAGMA-Projekt zur Langzeitarbeitslosigkeit: Marienthal 2.0
Während diese Jobgarantie von den einen als universelles Sicherheitsnetz bejubelt wird, ist es für die anderen ein teures Beschäftigungsprogramm. Das MAGMA-Projekt sticht aber aus mehreren Gründen heraus. Es dauert zum einen deutlich länger als die meisten anderen Projekte. Mit dreieinhalb Jahren bietet das Projekt genügend Zeit, sich intensiv mit den Menschen auseinanderzusetzen. Es lässt viel Raum Neues auszuprobieren, Fort- und Weiterbildung etwa. Zweitens, und das ist vermutlich das wichtigste: „Wir bieten den Menschen mehrere Arbeitsbereiche an, aber sie haben auch die Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen und umzusetzen“, so Scholl.
So entstand zum Beispiel die Alltagsbegleitung, bei der ältere Menschen in der Gemeinde beim Einkauf begleitet werden. Langzeitarbeitslosigkeit und deren schwerwiegend psychischen als auch finanziellen Folgen waren lange vor der Pandemie ein Problem. Doch durch die Corona-Krise ist die Zahl aber von 16 (2019) auf 26 Prozent (2021) angestiegen. Im Juni vergangenen Jahres war jede dritte Person in Österreich auf der Suche nach Arbeit.
Gramatneusiedl repräsentiert den Arbeitsmarkt
Die Gemeinde Gramatneusiedl ist in ihrer Struktur des Arbeitsmarktes prototypisch für Niederösterreich. Im August 2019 waren 20 Prozent der Bewohner:innen langzeitarbeitslos. Darum ist es auch aus wissenschaftlicher Sicht interessant, wie sich eine Jobgarantie auswirkt (auch eine Europäische Jobgarantie wird angedacht). Die Universitäten Wien und Oxford begleiten das Projekt von an Anfang an mit unabhängigen Studien. Diese deuten schon jetzt auf den Erfolg hin. 73 Prozent der Teilnehmenden haben das Gefühl, Herausforderungen bewältigen zu können. Zu Projektbeginn 2020 war das nur bei 46 Prozent der Fall. Außerdem sind psychische Beschwerden wie Angstzustände zurückgegangen.
Drei Viertel der MAGMA-Beschäftigten können sich nun neue Dinge leisten, die sie unbedingt brauchen. Zu Projektbeginn 2020 war das nur bei knapp der Hälfte der Fall. Für 8 Prozent hatte zu Beginn das Geld nicht mal gereicht, um am Ende des Monats Lebensmittel einzukaufen. Ein Jahr später trifft das auf niemanden mehr zu. In den Studien zeichnet sich auch die Wichtigkeit der Anerkennung in der Gemeinde ab. 80 Prozent haben das Gefühl, in Gramatneusiedl dazuzugehören und 73 Prozent fühlen sich wertgeschätzt. Zu Projektbeginn galt das jeweils nur für die Hälfte der Befragten. Die Gesamtkosten für das Projekt MAGMA inklusive der Begleitforschung betragen für den gesamten Projektzeitraum 7,4 Millionen Euro und werden zur Gänze vom AMS NÖ getragen. Bisher wurden 24 Menschen vom Projekt in einen Job vermittelt.
Wenn jemand geht, geht noch mehr weiter
Für Astrid Hemmer geht es in die Holzwerkstatt. Sie öffnet die Tür und hält kurz inne. „Natürlich ist es auf persönlicher Ebene für mich traurig, wenn jemand geht und einen Job findet. Aber gleichzeitig freue ich mich mit.“ Der Geruch von frisch geschnittenem Holz drängt sich in die Nase. Hemmer ist gelernte Schneiderin und weiß, wie wichtig Arbeitsmarktprojekte für das eigene Leben sind. Sie ließ sich zur Tischlerin ausbilden. Heute kann sie beides und darum leitet sie gleich beide Werkstätten. Für viele Frauen ist sie ein Vorbild. Wenn sie neu renovierte Kästen zurechtrückt oder mit der Hand über das Holz streicht, spricht sie schnell und es kann passieren, dass sie ohne Pause zehn Minuten über das Werkstück referiert. Dann ist sie plötzlich wieder beim MAGMA-Projekt. Der größte Vorteil sei, dass sie nicht wirtschaftlich denken müssten. „Wir können auf die Handicaps und Bedürfnisse achten wie sonst niemand.“
Die Auswahl der Gemeinde erfolgte nicht zufällig. Mit der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ setzten einst Hans Zeisel, Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld einen Meilenstein in der empirischen Sozialforschung. Das Forscher:innen-Team untersuchte 1933 die Folgen der Arbeitslosigkeit für 1.300 Arbeiter:innen und Angestellte, die die Ortschaft Marienthal mit der Schließung der örtlichen Textilfabrik mit voller Wucht getroffen hat. Die Ergebnisse gelten bis heute als wegweisend und führten die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit vor Augen. Nun ist mithilfe des MAGMA-Projekts das Gegenteil gelungen: In der Gemeinde gibt es keine Langzeitarbeitslosen mehr. Laut der Projektleiterin wäre das Projekt theoretisch auf jede ländliche Gemeinde umlegbar. Auch in der Stadt kann sie sich ähnliches vorstellen, aber besser auf die Bezirke begrenzt, in denen die Teilnehmenden leben. Schließlich ist das Behalten des eigenen Wohnraumes ein wichtiger Teil des Erfolgsrezepts.
Um den Mangold wird gerupft
Denise Berger kniet auf dem Erdhaufen, der viel mehr als das ist. Nämlich eine Permakultur, also ein nachhaltiges Blumenbeet. Berger rupft um den Mangold herum. Die Gemeinde hat den Grund zur Verfügung gestellt, und alles was reif ist gehört auch den Menschen und darf geerntet werden. Wer hier ins Grüne blickt, dem wird schnell klar, dass es hier um mehr als eine Jobgarantie geht. Hier wird versucht, Zusammenleben und das Geben und Nehmen dabei neu zu denken. Berger hat bei MAGMA in der Reinigung begonnen, war dort aber nicht lange. „Ich wollte raus und mich bewegen“, erklärt sie. Heute ist sie eine der motiviertesten Mitarbeiterinnen der Permakultur. Ihr Chef sagt, dass er sie darum auch die „Rampensau“ nenne. Er meint das als Kompliment, weil sie so motiviert und hart arbeite. Sein Team ist zuständig für ein 250 qm großes Gemeindegrundstück. Neben einem Gemüse- und Kräutergarten gibt es Obstbäume.
Ich musste mir anhören,
dass ich faul und nutzlos sei.
Denise Berger, Projektteilnehmerin
Vor dem Projekt arbeitete Berger in einem sozialen Supermarkt. Doch das war nur eine befristete Anstellung. Eigentlich ist Berger ausgebildete Konditorin. Über 500 Bewerbungen hat sie während ihrer Arbeitslosigkeit geschrieben. Über ein Jahr war sie auf der Suche nach einem Job, entgegen der Einschätzung, es gäbe gerade einen Arbeitsmarkt, der den Arbeitnehmer:innen sehr entegegen kommt. Sie litt bereits zuvor an psychischen Erkrankungen. „Ich musste mir anhören, dass ich faul und nutzlos sei. Dass ich nichts wert sei und ein Mensch zweiter oder dritter Klasse.“ Berger schüttelt den Kopf. „Irgendwann glaubt man, was die anderen über dich sagen.“ Durch einen Umzug landete sie in der Gemeinde und damit im Projekt. Nun hofft sie auf eine Firma, die im Herbst auf das Gelände zieht. Ein fixer Job am Fließband, das wäre zwar anders als das Arbeiten im Grünen, aber für Berger macht das keinen Unterschied.
Projekt zur Langzeitarbeitslosigkeit: Hat Marienthal Zukunft?
Was passiert mit den Menschen, die keine Anstellung finden bis das Projekt endet? Oder mit jenen, die in gemeinnützige Organisationen oder Vereine vermittelt wurden? Eine mögliche Antwort findet man beim Verein Pferdestärken, einmal die Straße runter und rechts im Ort. Andrea Keglovits-Ackerer betreibt den Verein und bietet kostengünstige tiergestützte Therapieformen für Kinder mit verschiedenen Einschränkungen und Behinderungen wie Autismus, ADHS, Mehrfachbehinderungen oder Lernschwierigkeiten an. Therapeut:innen mieten sich in das Zentrum ein, nutzen die Infrastruktur und bieten ihre Leistungen an. Auf so einem Hof bleibt viel Arbeit neben der Therapie: Rasenmähen, Ausmisten, Tiere füttern. So legte Keglovits-Ackerer in der Vergangenheit des Öfteren eine Nachtschicht ein. „Es war einfach viel zu viel alles“, erinnert sie sich.
#Langzeitarbeitslosigkeit ist ein massives Problem: Aber es geht auch anders: Das AMS hat mit den Universitäten Wien und Oxford das Projekt #MAGMA umgesetzt. Erfolgreich: Drei Viertel aller Teilnehmer:innen haben ein neues Dienstverhältnis gefunden. https://t.co/NrjcYIjLZi
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) July 6, 2022
Schließlich begannen zwei Mitarbeiter des MAGMA-Projekts sie zu unterstützen. Einer davon ist Thomas, er arbeitet am Hof 30 Stunden die Woche. Er hat genau im Blick, wann der Rasen gemäht werden muss, wann geputzt und wann der Stall gemacht werden muss. Sein Kollege Michael hilft neun Stunden die Woche und kümmert sich morgens um die Pferde im Stall und ihre Fütterung. Die beiden gehören längst zum Team. Doch wenn das Projekt ausläuft, kann der Verein sich die beiden Arbeitskräfte nicht leisten. Keglovits-Ackerer saß schon vor dem Taschenrechner und überlegte, was es bräuchte, um die beiden zu halten. Doch die Lohnkosten seien nicht tragbar. Dann müssten die Familien höhere Preise bezahlen und dann würde aus der Therapie ein elitäres Angebot werden. Ideal wäre, wenn die beiden einfach genau so bleiben dürften. Ja, das wäre doch eine Idee, sagt sie und lächelt.