Abschaffung des Schulgelds – ein Jahrhundertprojekt
Seit die Staaten im 18. Jahrhundert begannen, so etwas wie Bildungspolitik zu betreiben, setzten sie finanzielle Hürden als Instrument zur Steuerung des Zugangs zu Bildung ein, und das traf ganz besonders auf das Reich der Habsburger zu. Selbst als Österreichs Herrscherin Maria Theresia die allgemeine Schulpflicht verordnete, sorgte das Einheben von Schulgeld dafür, dass nur wenige Eltern aus dem „gemeinen Volk“ in der Lage waren, ihre Kinder die sechs vorgeschriebenen Jahre in die Schule zu schicken. Das wöchentliche Schulgeld bestand um 1800 aus dem Gegenwert von sechs Eiern und zwei Litern Milch, später wurde es sogar noch erhöht – aus diesen Einnahmen erhielt der Lehrer sein Gehalt. Das konnten sich die meisten Familien nicht leisten, zumal ihnen auch noch das zusätzliche Einkommen durch die Kinderarbeit in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in den Fabriken verloren ging. So kamen nur wenige Kinder von etwas besser Gestellten in die Schule – Rekrutierungsreservoire für die unterste Ebene der in Ausbau befindlichen staatlichen Verwaltung.
Das Fernhalten der Bevölkerung von Bildung war darüber hinaus durchaus gewollt, sah die absolute Monarchie in Menschen, die des Lesens und Schreibens mächtig sind, doch seit der Reformation, die das selbstständige Lesen der Bibel propagiert hatte, ein gefährliches revolutionäres Potenzial, und sie wurde in dieser Meinung durch die Französische Revolution zusätzlich bestärkt.
Das Fernhalten der Bevölkerung von Bildung war durchaus gewollt, sah die absolute Monarchie in Menschen, die des Lesens und Schreibens mächtig sind, doch ein gefährliches revolutionäres Potenzial.
Erst die – verspätet – auch in Österreich einsetzende industrielle Revolution und der Druck der Militärs führten 1869 zur Bereitschaft, die Grundbildung der Bevölkerung auszuweiten und damit zur Abschaffung des Schulgelds für die jetzt achtklassige Volksschule. Die Militärs führten nämlich die Niederlage der Habsburgermonarchie gegen Preußen in der Schlacht von Königgrätz/Sadowa 1866 auch auf das katastrophale Bildungsniveau der österreichischen Soldaten zurück.
An der zweiten finanziellen Hürde für Kinder aus Arbeiter:innen-Familien, der Notwendigkeit, schon sehr früh Geld zu verdienen, änderte sich allerdings durch das Wegfallen des Schuldgelds bis zum Ende der Monarchie wenig, sie mussten mit nur einem Teil der Volksschulzeit das Auslangen finden. Für das bessere Bildungsangebot in der „Bürgerschule“, die man anstelle der letzten drei Klassen der Volksschule besuchen konnte, wurde außerdem weiter Schulgeld eingehoben. Für das Gymnasium und die Realschule galt das ab der 1. Klasse ohnehin, ebenso für alle Ausbildungswege nach der Schulpflicht einschließlich der Fortbildungsschulen, wie die Berufsschulen damals hießen. Zusätzlich mussten die Eltern für den betrieblichen Teil der Lehre tatsächlich und nicht im übertragenen Sinn „Lehrgeld zahlen“, die Lehrherren verlangten zwischen 200 und 700 Kronen. Das war fast nur für Meistersöhne erschwinglich.
Als die demokratische Republik ab 1918 mit dem Aufbau eines Sozialstaats begann, gehörte die breite Öffnung des Zugangs zu Bildung zu den erklärten Zielen. Aber der Widerstand war in diesem Politikfeld noch schwerer zu überwinden als in der Sozialpolitik, und die meisten finanziellen Hürden konnten nicht beseitigt werden. Zum Beispiel mussten die Lehrlingsabteilungen der neu errichteten Arbeiterkammern immer wieder gegen Versuche der Regierung kämpfen, das Schuldgeld für die Fortbildungsschulen massiv zu erhöhen. Trotzdem gelangen der Gewerkschaftsbewegung und der AK mit Unterstützung der Wiener Sozialdemokratie in zwei Fällen doch zwei entscheidende Durchbrüche: 1922 wurde die von den Gewerkschaften verhandelte Lehrlingsentschädigung eingeführt und 1926 die dreijährige Hauptschule zur vierjährigen Pflichtschule, wodurch das Schuldgeld wegfiel.
Von der Volksschule abgesehen waren Schulgeld und Lehrgeld bis zum Beginn der demokratischen Republik die Regel. 1922 setzten AK und Gewerkschaft dann die Lehrlingsentschädigung durch, und 1926 wurde das Schulgeld für die Hauptschule abgeschafft.
In den Städten erreichten beide Reformen ihren Zweck, mehr Kinder aus Arbeitnehmer:innenfamilien konnten sich den Hauptschulbesuch leisten, und die Lehrlingsentschädigung besserte die schmalen Haushaltsbudgets auf, was den Besuch der Fortbildungsschule erleichterte.
Am Land sah es noch lange schlimmer aus als in den großen Städten. Viele Meister ersparten sich die Lehrlingsentschädigung, denn die geringere gewerkschaftliche Organisation und die schlechten Verkehrsverbindungen erschwerten die Kontrolle. Es gab auch viel zu wenig gut erreichbare Hauptschulstandorte, der Besuch der achtklassigen Volksschule blieb bis in die Zweite Republik hinein die Regel.
Am Rückstand in Sachen Bildung änderte sich also in den ersten Jahren nach 1945 noch wenig, aber ein Fortschritt für die Lehrlinge konnte schon bald nach Kriegsende erreicht werden: Das Kinder- und Jugendbeschäftigungsgesetz erklärte 1948 den Berufsschultag zum Arbeitstag, um den die Lehrlingsentschädigung nicht gekürzt werden durfte. Bis diese Vorgabe in allen Lehrbetrieben beachtet wurde, sollten allerdings noch Jahre vergehen. Immerhin wurde das Schulgeld für die Berufsschulen mit der Beschlussfassung des großen Bildungsgesetzpakets 1962 beseitigt. Ab jetzt waren alle öffentlichen Schulen, nicht nur die allgemeinen Pflichtschulen, in Österreich gebührenfrei. Bei der Vorbereitung dieser Beschlüsse konnten erstmals AK-Expert:innen direkt in eine entscheidende bildungspolitische Debatte eingreifen und wesentlich dazu beitragen, dass endlich das Schulgeld für alle öffentlichen Schulen einschließlich der Berufsschulen und der Gymnasien abgeschafft wurde.
Bei der Vorbereitung der Schulgesetze von 1962 konnten erstmals AK-Expert:innen direkt in eine entscheidende bildungspolitische Debatte eingreifen und wesentlich dazu beitragen, dass endlich das Schulgeld für alle öffentlichen Schulen abgeschafft wurde.
Viele andere Hürden, die Bildungsgerechtigkeit verhindern, konnten dagegen noch immer nicht abgebaut werden, darunter das Ablösen der Halbtagsschule durch die im Wien der 1920er Jahre mit Erfolg erprobte und international weit verbreitete Ganztagsschule. Neben ihren anderen Vorteilen hätte sie auch damals schon eine wichtige Maßnahme gegen Bildungsungleichheit sein können, weil sich die meisten berufstätigen Eltern keine teuren ganztägigen Privatschulen leisten können. Von dem viel zu frühen Zwang zur Entscheidung über den weiteren Bildungsweg nach der vierten Volksschulklasse ganz zu schweigen. Trotzdem brachten die Gesetze von 1962 einen ersten Innovationsschub im österreichischen Bildungssystem. Wenn auch die Rahmenbedingungen fehlten, damit eine breitere Inanspruchnahme des jetzt geöffneten Zugangs möglich wurde – von genügend Schulstandorten bis zur Entlastung der Familien bei Fahrtkosten oder Schulbuchkauf. Die große Bildungsoffensive fand erst während der Kreisky-Regierungen in den 1970er Jahren statt.
Unter den bildungspolitischen Maßnahmen der Kreisky-Ära sind zwei am stärksten in Erinnerung geblieben, weil sie bis heute zum Teil heftige Gegenreaktionen hervorriefen: das „Gratisschulbuch“ und die Abschaffung der Studiengebühren. ÖGB und AK sorgten dafür, dass die Berufsschüler:innen bei der Durchführung der Schulbuchaktion wie bei anderen finanziellen Entlastungsmaßnahmen nicht vergessen wurden. Das „Gratisschulbuch“ hatte nicht nur finanzielle Entlastung zum Ziel, sondern auch Abbau von Diskriminierung, denn das Entlehnen aus der Schulbücherei stempelte jene, deren Eltern sich den Kauf der Bücher nicht leisten konnten, oft zu bedauernswerten Armutschkerln. Trotzdem wurde die Aktion schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wieder infrage gestellt, als das neoliberale Politikverständnis das Ziel eines möglichst ausgeglichenen Staatshaushalts immer mehr zum Selbstzweck werden ließ. Man wollte zur alten „Schülerlade“, also zum Entlehnsystem, zurückkehren, was neben dem neuerlichen Aufbau von Bildungshürden den Verlust von etwa 3.000 Arbeitsplätzen bedeutet hätte. Entsprechend massiv war der Widerstand von Gewerkschaft und AK, der das „Gratisschulbuch“ rettete, wenn auch von 1995 bis 2010 ein Selbstbehalt in Kauf genommen werden musste.
Das „Aus“ für die Schulbuchaktion hätte neue Bildungshürden aufgebaut und dazu etwa 3.000 Arbeitsplätze vernichtet. Der massive Widerstand von Gewerkschaft und AK verhinderte diesen Plan.
Mittlerweile besteht durch die Digitalisierung ein zusätzlicher Bedarf an Unterrichtsmaterialien. Laptops sind ebenso unverzichtbar wie Bücher geworden, das hat die Unterrichtsorganisation während der Corona-Lockdowns eindrücklich bewiesen und ebenso, dass es neue finanzielle Bildungshürden zu beseitigen gilt. Es muss alles getan werden, damit dieses Ziel bei der notwendigen Adaptierung der Schulbuchaktion im Zentrum steht.