Schwieriger, aber noch immer erfolgreich

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Kollektivvertragspolitik sind ganz anders als in der Blütezeit der 1970er-Jahre. Damals nahmen die Unternehmen die gesamtwirtschaftlich verantwortungsvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften noch dankbar an.
Österreich ist EU-Spitze: 98 Prozent der Beschäftigten haben einen Kollektivvertrag, um den sie die ArbeitnehmerInnen Europas beneiden. Daran hat sich seit den 1970er-Jahren, als die Kollektivvertragsverhandlungen ihre Blütezeit hatten, wenig verändert. Aus dieser Zeit stammt der populärste Ausdruck der Lohnpolitik, die „Benya-Formel“. Der langjährige Gewerkschaftspräsident brachte die Lohnleitlinie der gewerkschaftlichen Kollektivvertragspolitik auf den Punkt: „3 Prozent + Inflation“. Drei Prozent bezog sich auf den durchschnittlichen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktivität: Jedes Jahr wurden bei gleichem Arbeitseinsatz etwa drei Prozent mehr Güter und Dienstleistungen hergestellt. Im gleichen Ausmaß sollten auch die Reallöhne steigen. Das würde einen Anstieg der realen Gewinne um drei Prozent ermöglichen und damit die Verteilung zwischen Arbeit und Kapital stabil halten.

Seit 2000 stiegen die kollektivvertraglich verhandelten Tariflöhne um 13 Prozent stärker als die Verbraucherpreise.

Die Lohnpolitik ist auch heute produktivitätsorientiert. Doch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich markant verändert. Das beginnt bereits beim Produktivitätswachstum: Lag es in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre noch bei drei Prozent pro Jahr, so beträgt es heute gerade einmal ein dreiviertel Prozent, was den Spielraum für Reallohnerhöhungen einschränkt. Dennoch sind diese weiterhin spürbar: Seit 2000 stiegen die kollektivvertraglich verhandelten Tariflöhne um 13 Prozent stärker als die Verbraucherpreise.

Aber auch schlechte Einkommen

Doch die gewerkschaftlich erreichten Lohnerhöhungen erreichen nicht mehr alle Beschäftigten. Vor allem für jene, die in Teilzeit mit immer weniger Stunden arbeiten oder deren Erwerbskarriere durch Arbeitslosigkeit oder andere Umstände unterbrochen ist, entwickeln sich die Einkommen unerfreulich. Das betrifft oft NeueinsteigerInnen auf dem Arbeitsmarkt: Junge, Frauen und MigrantInnen. Schlechte Einkommen für wirtschaftlich ohnehin schwache Gruppen sind Ergebnis einer Unterauslastung des Arbeitsmarktes. Wäre der Arbeitsmarkt voll ausgelastet und würde Arbeitskräftemangel herrschen, dann könnten die Teilzeitbeschäftigten ihre Arbeitsstunden wie gewünscht aufstocken, Junge hätten einen leichten Jobeinstieg mit stabilen Karriereaussichten und MigrantInnen dauerhafte Beschäftigung und laufende Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Das war zuletzt in den 1970er-Jahren der Fall. Die Zahl der Arbeitslosen lag unter 60.000, die Arbeitslosenquote unter zwei Prozent der unselbstständigen Erwerbspersonen. Man bezeichnete diese Situation damals nicht als Arbeitskräfteknappheit (vor der heute alle unbegründet Angst haben), sondern als Vollbeschäftigung, und sie war das wichtigste Ziel der Wirtschaftspolitik der Ära Kreisky.

Aktive Politik gefragt

Arbeitslosigkeit beeinträchtigt hingegen die Macht der Gewerkschaften. 2019 lag die Zahl der Arbeitslosen bei 300.000 (um 100.000 höher als vor der Finanzkrise 2008/09) und die Arbeitslosenquote bei sieben Prozent. Aktive Politik zur Verringerung der Arbeitslosigkeit würde den Arbeitsmarkt wieder ins Lot bringen und die Ausgangslage der Kollektivvertragsverhandlungen verbessern. Dafür brauchen wir Investitionen in Aus- und Weiterbildung, Qualifizierungs- und Trainingspolitik, gemeinnützige Beschäftigung zum Kollektivvertrag für Langzeitarbeitslose, aber auch eine Anhebung der gesamtwirtschaftlichen Auslastung und eine Umverteilung von Vermögen und Gewinnen der Großkonzerne zu konsumorientierten Haushalten, die von Arbeit leben. Diese nachfrageorientierte Komponente der Lohnerhöhungen wird von der Arbeitgeberseite bei Kollektivvertragsverhandlungen gerne bestritten.

Das ist interessant, denn in den 1970er-Jahren stellte sich das Problem gerade umgekehrt dar. Bei Vollbeschäftigung und hoher Auslastung der Betriebe bestand eine latente Inflationsgefahr. Die Gewerkschaften nahmen darauf Rücksicht: Zu starke Lohnerhöhungen würden von den Firmen leicht in Preise überwälzt, was die Inflation angeheizt hätte. Die Lohnpolitik war deshalb zurückhaltend, um den Preisauftrieb einzudämmen, unterstützt von der Regierung, die Vollbeschäftigung garantierte. Die Unternehmen nahmen die gesamtwirtschaftlich verantwortungsvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften dankbar an. Heute, wo die gesamtwirtschaftliche Verantwortung etwas kräftigere Lohnerhöhungen gebieten würde, wollen sie davon nichts mehr wissen.

Über Jahrzehnte stand das Thema Arbeitszeitverkürzung nicht im Mittelpunkt der Kollektivvertragspolitik, doch heute bleiben die Gewerkschaften dran.

Groß ist der Widerstand heute auch in Bezug auf kollektivvertragliche Arbeitszeitverkürzung, man denke nur an die jüngste Auseinandersetzung in der Sozialwirtschaft. Über Jahrzehnte stand das Thema Arbeitszeitverkürzung nicht im Mittelpunkt der Kollektivvertragspolitik, doch heute bleiben die Gewerkschaften dran. 35-Stunden-Woche, 4-Tage-Woche, 6. Urlaubswoche: All diese Forderungen bringen auch einen Wertewandel unter den Beschäftigten zum Ausdruck. Väter und Mütter wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, Gesundheit und Lebensqualität werden wichtiger, Ältere wollen gegen Ende des Erwerbslebens etwas kürzertreten. Hier schließt sich der Kreis zu den 1970er-Jahren. Von 1970 bis 1975 wurde die gesetzliche Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden verringert, bald darauf die 5. Urlaubswoche eingeführt. Die arbeitenden Menschen sollten und wollen den wachsenden Wohlstand auch in Form von mehr Freizeit genießen.

Von
Markus Marterbauer
Leiter der Abteilung
Wirtschaftswissenschaft und Statistik in der Arbeiterkammer Wien

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/20.

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