Szenarien als Dialogangebot
Die Szenarien lauten: Fairness, Verantwortung, Wettbewerb und Kampf. Je nachdem, in welche Richtung sich Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln, wird auch Mitbestimmung anders aussehen müssen. So heißt es etwa im Szenario Wettbewerb: „Die Gesellschaft ist allgemein unpolitischer geworden. Die frühen 20er Jahre sind durch den Rückzug ins Private geprägt, die Orientierung auf die eigenen Belange und einen guten Lebensstandard. Flexibilität und Mobilität sind das Gebot der Stunde.“ In Bezug auf die Gewerkschaftsarbeit heißt es dazu unter anderem: „Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer sinkt ins Bodenlose. Nur noch in den großen Unternehmen einiger Branchen und im öffentlichen Sektor gelingt es den Gewerkschaften, überbetriebliche Tarifabschlüsse zu erzielen. In anderen Bereichen bleiben nur diejenigen Gewerkschaften und Interessenverbände im Spiel, die für ihre Mitglieder einen spürbaren konkreten Mehrwert erbringen können.“ Das Szenario Fairness geht dagegen davon aus, dass die Arbeitswelt demokratischer wird, kollektive Interessenvertretungen an Bedeutung gewinnen, um individuelle Handlungsspielräume zu vergrößern und faire Arbeitsbedingungen abzusichern.
Kein Masterplan
Die Szenarien, welche die Stiftung 2015 erarbeitet hat, sind als Dialogangebot gedacht, als Anregung, darüber zu diskutieren. Michael Stollt hat das Projekt koordiniert und schon zahlreiche Workshops mit diversen Teams dazu durchgeführt. Er sagt: „Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, ein Wunschszenario oder einen Masterplan zur Verfügung zu stellen.“ Von Anfang an war der offene Zugang wichtig, der signalisiert: „Wir wollen nicht die Antworten liefern, sondern alternative, plausible Entwicklungspfade mit euch diskutieren.“ Als Grundlage für einen weiterführenden Diskurs dienen unter anderem die ausformulierten Szenarien, aber auch kurze Zusammenfassungen davon, Audiodateien, Leitfragen, Illustrationen, Artikel und Werkzeugkästen sowie Erklärtexte zur eigenständigen Arbeit mit den Szenarien (siehe mitbestimmung.de/mb2035).
Das Angebot wird seit drei Jahren rege angenommen. Die TeilnehmerInnen, darunter BetriebsrätInnen, GewerkschaftsmitarbeiterInnen, AufsichtsrätInnen, Human-Resources-MitarbeiterInnen, Lehrende und Studierende, arbeiten im Rahmen von Veranstaltungen und Workshops mit den Szenarien. Wer Interesse hat, muss nicht auf die nächste Veranstaltung warten, sondern kann sich an die Stiftung wenden und Michael Stollt ins Unternehmen einladen – oder selbstständig mit dem Tool arbeiten. Meist werden in den Workshops Fragen gestellt, die für die eigene Gruppe relevant sind, und dann Antworten für jedes Szenario erarbeitet. Stollt: „Diese Anschlussfähigkeit ist enorm wichtig, damit es nicht abstrakt bleibt. Je konkreter man die Szenarien auf die eigene betriebliche oder institutionelle Welt überträgt, umso spannender wird es.“ Nicht immer ist Mitbestimmung dabei das zentrale Thema. Es gab etwa einen Workshop mit Studierenden, die über Zukunftsszenarien der Nachhaltigkeit debattierten. Auch die Diskussionsform ist offen: „Wir versuchen bewusst, methodisch nicht vortragsmäßig vorzugehen, sondern die Szenarien gemeinsam zu erkunden und weiterzudenken.“ Der Kreativität sind dabei kaum Grenzen gesetzt, so gab es etwa Improvisationstheater-Workshops.
Im Jahr 2017 fand auch in Wien ein Workshop zur Mitbestimmung statt. Heinz Leitsmüller, Leiter der Abteilung Betriebswirtschaft der AK Wien, nahm gemeinsam mit rund 20 KollegInnen aus AK, Gewerkschaften und Betriebsräten teil. Die TeilnehmerInnen arbeiteten in vier Räumen an den Szenarien. „Die Szenarientechnik hat’s in sich“, berichtet Leitsmüller. „Man kommt damit sehr gut in kreative Lösungsansätze hinein.“ Die Technik fördere die Kreativität viel besser, als wenn angestrengt über Zukunftsindikatoren nachgedacht werde.
Parallele Szenarien
Die kreative Debattenform führte nicht nur dazu, breiter und offener auf Mitbestimmung zu blicken, sondern brachte auch eine ermutigende Erkenntnis. „Ich bin dadurch ein bisschen vom Gedanken weggekommen, dass die Zukunft nur in Richtung stärkerer Wettbewerb und Individualisierung rennt“, so Leitsmüller. Der AK-Experte glaubt zwar, dass das Wettbewerbsszenario vorherrschen wird. Aber: „Parallel dazu finden auch die anderen Szenarien statt, je nach Unternehmen und Branche.“ In manchen Unternehmen stünden Fairness und Verantwortung vor Wettbewerb und Kampf, was sich auf die Mitbestimmung auswirke. Ein Ergebnis des Workshops war die Erkenntnis, dass es in Zukunft nicht nur die eine Lösung in der Mitbestimmung geben kann, sondern es auf die jeweiligen Arbeitsbedingungen zugeschnittene Lösungen geben muss, je nach Unternehmensgröße und Branche. Organisationsformen wie etwa Crowdworking erfordern ganz neue Arten der Mitbestimmung als etwa in einem Konzern.
Ist das Tool Mitbestimmung 2035 auch ein Weg, jene Menschen anzusprechen, die sich von Gewerkschaften und Betriebsräten nicht mehr vertreten fühlen? Für Michael Stollt geht es insbesondere darum, ins Gespräch zu kommen und über langfristige Perspektiven für die Mitbestimmung in sich verändernden Kontexten zu diskutieren: „Die Szenarien sind hervorragend dafür, weil sie nicht schwarz-weiß malen, sondern ein kontrastreiches Bild abgeben.“ Stollt ist überzeugt, dass die Szenarien auch nach drei Jahren noch ein gutes Werkzeug sind, um sich auf eine offene Art der Zukunft der Mitbestimmung zu widmen. Doch etwas hat sich stark verändert: Das Thema Digitalisierung mit all seinen Folgen hat noch viel stärker Einzug in viele Unternehmen gehalten und wirkt sich gravierend auf die Arbeitswelt aus. Weil Digitalisierung ein so beherrschendes Thema geworden ist, erarbeiten die MitarbeiterInnen der Böckler-Stiftung in Kooperation mit dem Institut für prospektive Analysen in Berlin jetzt vier sogenannte Fokusszenarien dazu. Erstmals wurden sie im Mai auf der re:publica in Berlin vorgestellt und in zwei Poster-Sessions diskutiert.
Die Szenarien heißen Peak Performance, Persönliche Entfaltung, RESET und Zusammenhalt. Das Szenario Peak Performance etwa beschreibt einen digitalen Wandel, der weitgehend von ökonomischen Gesichtspunkten angetrieben wird, in dem Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund stehen. Das Szenario Persönliche Entfaltung dagegen rechnet damit, dass die Digitalisierung zu mehr individuellen Gestaltungsspielräumen, Flexibilität und Vielfalt in der Arbeitswelt beitragen wird.
Die Fokusszenarien werden im Herbst publiziert. Generell geht es dabei laut Stollt darum, „der Digitalisierung eine gute Richtung und eine menschliche Gestalt zu geben“. Eine Teilnehmerin, die direkt nach dem Workshop auf der re:publica befragt wurde, sagte, sie nehme mit, dass man der Digitalisierung nicht ausgeliefert sei, sondern den Prozess mitgestalten könne. Die Conclusio freut Stollt: „Das ist genau die Essenz unseres Anliegens, nämlich vom passiven Zukunftsnehmer zum handelnden Akteur zu werden.“ Das Fatale im Diskurs über die Digitalisierung sei nämlich, dass sie oft wie eine Naturgewalt wahrgenommen werde und man nur schauen müsse, dass man dafür fit werde. Doch: „Die Zukunft ist noch nicht geschrieben.“ Außer in Form von Szenarien – und welches sich durchsetzen wird, daran haben wir alle Anteil.
Mehr Information:
www.mitbestimmung.de
www.boeckler.de
Alexandra Rotter
Freie Journalistin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/18.
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