Das ist so natürlich nie passiert und dient nur als Beispiel dazu, sich über ein jetzt schon historisches Zitat von Bundeskanzler Sebastian Kurz lustig zu machen. Er hatte auch sicher nicht seine Kernklientel im Auge, als er im renommierten „Time Magazine“ schrieb:
We must be very clear: collectivist ideas of centralization, prohibition and paternalism have failed always. No matter where they came from ideologically, they caused social injustice, economic misery and much worse. They will not suddenly help us now.
Bundeskanzler Sebastian Kurz im „Time Magazine“
Sich darüber lustig zu machen geht schnell, ist sehr einfach und verdrängt die sehr ernsten und unbequemen Hintergründe dieser Aussage. Doch worum geht es eigentlich bei kollektiven Ideen, woran stören sich Konservative und Liberale? Kurz gesagt, es geht ums Geld. Denn was viele kollektive Ideen, die institutionalisiert werden, gemeinsam haben: Sie verteilen Geld von oben nach unten.
Ein Blick zurück
Es war im Jahr 1837, als Bergleute im oberösterreichischen Ebensee dem Beispiel englischer Kumpel folgten. Sie gründeten eine sogenannte „Bruderlade“. Die Idee dahinter: Jeder zahlte einen kleinen Teil seiner Zeche in die Lade ein, und wenn einer von ihnen einen Unfall hatte – was zu dieser Zeit im Bergbau keine Seltenheit war – oder krank wurde, bekam er oder seine Hinterbliebenen etwas davon.
In Österreich bilden Kranken-, Pensions-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung als Pflichtversicherung die Grundpfeiler unseres Sozialstaats. Was besonders Liberale stört: Es ist der Staat, der hier die Verantwortung übernimmt.
Die Bruderladen gelten als Vorläufer der heutigen modernen Sozialversicherungen. In Österreich bilden Kranken-, Pensions-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung als Pflichtversicherung die Grundpfeiler unseres Sozialstaats. Was besonders Liberale stört: Es ist also der Staat, der hier die Verantwortung übernimmt. Diese Institutionen folgen der Idee, dass die Versicherten ihre Einrichtung selbst verwalten. Sie entziehen sich damit also zum Teil dem direkten politischen Einfluss, da im Prinzip die Versicherten selbst über die Verwendung ihrer Gelder entscheiden sollen. Mit der Sozialversicherungsreform, die Türkis-Blau Ende vergangenen Jahres durchgeboxt hat, ist dieses Prinzip leider ordentlich verwässert worden, aber das ist eine andere Geschichte.
Von oben nach unten
Der österreichische Sozialstaat verfügt selbstverständlich noch über weit mehr Instrumente zur Umverteilung, wie die Familienbeihilfe, aber auch Schulen, Kindergärten und andere Einrichtungen zählen dazu. Davon profitieren grundsätzlich alle. Einen besonderen Effekt hat der Sozialstaat auf die Einkommensverteilung. Teilt man die Haushalte in zehn Gruppen, dann zeigt sich, dass das unterste Einkommensdezil etwa ein Prozent des gesamten Einkommenskuchens bekommt, das reichste Dezil hingegen etwa 27 Prozent.
Der Sozialstaat verteilt den Einkommenskuchen um.
Die Instrumente des Sozialstaats verteilen diesen Kuchen um: Das unterste Einkommensdezil kommt mit Familienbeihilfe & Co auf knapp fünf Prozent des Einkommenskuchens, das reichste Dezil gibt einiges ab und fällt von 27 Prozent auf etwa 18 Prozent. Und das schmeckt den Reichen gar nicht. Es macht sie wütend.
Mehr privat, weniger Staat
Es macht sie sogar so wütend, dass sie deshalb eigene Thinktanks gründen und Begriffe wie „Abgabenbelastung“ erfinden. Man soll sie richtig spüren, die Last der Abgaben auf den Schultern derer, die schon viel Geld mit sich herumschleppen. Und kaum eine Woche vergeht, in der nicht die wirtschaftsliberale Denkfabrik Agenda Austria aufzeigen will, gesponsert von Reichen, der Industrie und Großbanken, wie viel vom Bruttoeinkommen an den Staat geht. An jene kollektiven Ideen und Instrumente, die eben umverteilen.
Private Versicherungen sind nicht mehr selbstverwaltet von den Versicherten, sondern sollen ihren Aktionär*innen Gewinne liefern. Wer davon wirklich profitiert: Genau, die Reichen, die diese Thinktanks sponsern.
Was wäre denn die Alternative? Eine Privatisierung des Systems? Aha. Dann gehen die Sozialversicherungsabgaben nicht mehr vom Bruttoeinkommen an den Staat, sondern vom Nettoeinkommen an private Versicherungsanbieter – denn eine Pension wird es doch brauchen und eine Krankenversicherung wohl auch, wenn man nicht an unbezahlbaren Krankenhausrechnungen wie in den USA pleitegehen möchte. Aber die privaten Versicherungen könnten sich dann vielleicht aussuchen, wen sie versichern wollen und zu welchen Bedingungen – und auch welche Selbstbehalte sie einheben. Da kann es dann passieren, dass eine Krankenpflegerin höhere Beiträge zahlen muss als ein Manager an seinem Schreibtisch, weil sie beruflich ein höheres Gesundheitsrisiko trägt. Und diese privaten Versicherungen sind nicht mehr selbstverwaltet von den Versicherten, sondern sollen ihren Aktionär*innen Gewinne liefern. Wer davon wirklich profitiert: Genau, die Reichen, die diese Thinktanks sponsern.
Die übliche Propaganda
Vom Himmel gefallen sind diese Thinktanks nicht, und auch nicht die Ideen, die dahinterstecken. Es sind neoliberale Erfindungen. Erst vor Kurzem wies der Kulturwissenschafter Walter Ötsch auf das besondere „Wirken“ der Agenda Austria und ihre Absichten auf Twitter hin. „Die Agenda Austria beruft sich auf Hayek, der wiederholt eine gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung gefordert hat. Die Ideologie der Agenda Austria ist es, politische Positionen zu beziehen, und zwar in der Regel einseitig zum Vorteil der reichen Kreise, die sie finanzieren“, so Ötsch.
Die Agenda Austria beruft sich auf Hayek, der wiederholt eine gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung gefordert hat. Die Ideologie der Agenda Austria ist es, politische Positionen zu beziehen, und zwar in der Regel einseitig zum Vorteil der reichen Kreise, die sie finanzieren.
Walter Ötsch, Kulturwissenschafter, Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft, Johannes-Kepler-Universität Linz
Die neoliberale Erzählung
Statt kollektivistischer Ideen, Instrumente und Institutionen fordern Neoliberale das Gegenteil: Eigenverantwortung. Jede*r ist ihres oder seines eigenen Glückes Schmied und so weiter. Und sie hatten damit Erfolg. Ein gutes Beispiel dafür ist die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher, die stark von den Ideen Friedrich August Hayeks beeinflusst war, neben Ludwig Mises der zentrale neoliberale Vordenker. Sie führte das Vereinigte Königreich in einen bedingungslosen Liberalismus. In ihren eigenen Worten: „So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen, und es gibt Familien. Keine Regierung kann existieren, ohne dass die Menschen zunächst für sich selbst sorgen.“
So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen, und es gibt Familien. Keine Regierung kann existieren, ohne dass die Menschen zunächst für sich selbst sorgen.
Margaret Thatcher, ehemalige britische Premierministerin
Ein anderer Teil der neoliberalen Erzählung ist die unsichtbare Hand des freien Markts. Genau der freie Markt, den Kurz in seinem „Time Magazine“-Text den Planeten retten lassen will. Was sind eigentlich die Gegenspieler des „freien Markts“? Genau, die kollektiven Ideen. Eine davon: die Gewerkschaften. Da verhandeln in den Gewerkschaften doch glatt viele Menschen gemeinsam höhere Löhne – statt jede*r für sich. Nun ja, Thatcher schaffte es tatsächlich, nach einem einjährigen Bergarbeiterstreik die Gewerkschaften in Großbritannien in die Knie zu zwingen und ihre Mitgliederzahlen in den folgenden Jahren zu halbieren. Heute gibt es dort dafür unter anderem Null-Stunden-Arbeitsverträge.
Österreich ist Kollektivvertrags-Weltmeister
Auch in Österreich ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften zurückgegangen, auch wenn die Mitgliederzahlen in den vergangenen Jahren wieder gestiegen sind. Aber sie haben noch ein starkes Instrument in ihren Händen: die Kollektivverträge. Die Kollektivverträge legen die Einkommen nach Branche und Verwendungsgruppe fest, aber enthalten auch viele andere Bestimmungen. Etwa 98 Prozent aller unselbstständigen Beschäftigungsverhältnisse sind von Kollektivverträgen erfasst, unser Land ist damit Kollektivvertrags-Weltmeister. Auch wenn es mittlerweile einige Möglichkeiten gibt, Beschäftigungsverhältnisse mit Werkverträgen oder Scheinselbstständigkeit zu umgehen, verhindern die Kollektivverträge doch einen derart breiten Niedriglohnsektor, wie es ihn in Deutschland gibt.
Kein Wunder: In Deutschland gibt es keine Pflichtmitgliedschaft der Unternehmen bei ihren Branchenverbänden – passt ihnen etwas am Tarifvertrag nicht, können sie aus dem Verband austreten und einen eigenen Tarifvertrag verhandeln, mit schlechteren Bedingungen für die Beschäftigten. Und dann gibt es in Deutschland ja noch die Hartz-Reformen, mit denen sich ausgerechnet der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder in Davos 2005 gerühmt hatte: „Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“, sprach er stolz vorm Weltwirtschaftsforum.
Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.
Gerhard Schröder, ehemaliger deutscher Bundeskanzler
Also unterm Strich: Wieder so eine kollektive Idee, diese Kollektivverträge, die der Arbeitnehmer*innenseite etwas bringt und bei der die Reichen draufzahlen. Verhandelt von der nächsten kollektiven Idee, den Gewerkschaften. Aber ist das wirklich so? Schließlich sind in Österreich die Kollektivverträge aus dem Kartellgesetz ausgenommen – weil sie eben beide Seiten besserstellen, die Arbeitnehmer*innen und die Arbeitgeber*innen. Die einen erhalten höhere Löhne, die anderen einen Teil des Preiskampfs, der über Lohndumping geführt werden müsste.
Politischer Wille – oder Unwille
Um auf den Text von Kurz zurückzukommen: Kollektive Ideen fördern in der Regel die vielen, auf Kosten einiger weniger, die es sich leisten können, und oft nicht einmal das. Sehr oft profitieren alle gemeinsam davon.
Ob sich kollektive Ideen in einer Gesellschaft durchsetzen, liegt immer auch am politischen Willen – oder eben am Unwillen. Dass jede*r allein für sich aber die Klimakatastrophe abwenden kann, wenn wir uns schon damit schwertun, ein Virus zu besiegen, klingt doch sehr unrealistisch. Es wird viele gemeinsame Anstrengungen brauchen – und vor allem werden wir jene zur Verantwortung bitten müssen, die jetzt die größten Klimasünden begehen und am wenigsten zum Sozialstaat beitragen – die wirklich Reichen. Und das ist die kollektive Idee, vor der sich Kurz & Co wohl am meisten fürchten.