Die von Berger aufgestellte Problemliste ist lang und umfassend: „Viele Bezirksgerichte laufen nur mehr auf Notbetrieb. Es wird nur das Allernötigste erledigt. Es gibt immer mehr Arbeit, die Krankenstände steigen, und die Leute suchen das Weite. Schon zu meiner Zeit als Justizministerin wurde nur jede zweite Stelle nachbesetzt.“
Berger steht mit ihrer Sorge über den Zustand der Rechtspflege in Österreich nicht allein da. So gibt es auch einen Forderungskatalog der Vereinigung der Österreichischen Richterinnen und Richter und der Bundesvertretung Richter und Staatsanwälte. Den Bundesregierungen der vergangenen Jahre wird darin „verfehlte Sparpolitik“ vorgeworfen, welche „die Justiz in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben geschwächt und die unabhängige Rechtsprechung behindert“ habe. Und weiter: „Im Kanzleibereich und bei Schreibdiensten wurden in den vergangenen Jahren rund 400 Planstellen abgebaut. In den nächsten Jahren stehen darüber hinaus zahlreiche Pensionsabgänge an. Bereits jetzt kann an vielen Gerichten nur mehr ein ‚Notbetrieb‘ aufrechterhalten werden, der zu Verfahrensverzögerungen führt. Es kommt aufgrund von Überlastung zu vermehrten Krankenständen. Gut ausgebildete Kanzleikräfte wechseln immer öfter in die Privatwirtschaft oder in andere Bereiche des öffentlichen Dienstes.“
Demokratische Defizite
Zu den Auswirkungen dieser Einsparungen kommen laut Ex-Justizministerin Berger noch zahlreiche demokratische Defizite hinzu. So gebe es im KonsumentInnenschutz immer noch keine Möglichkeit von Gruppenklagen, für EinzelklägerInnen sei das Prozesskostenrisiko sehr hoch. Der Kostenersatz bei Gerichtsverfahren sei sehr niedrig angesetzt. „Ein Beispiel ist der Tierschützerprozess gegen die AktivistInnen des Vereins gegen Tierfabriken. Diese Leute sind trotz Freispruch in der Insolvenz gelandet“, so Berger. Problematisch sei außerdem die mangelnde Unabhängigkeit der Bundesanwaltschaft, die immer noch weisungsgebunden sei. Hier gebe es dringenden Reformbedarf. Die Rolle kollektiver Strukturen sei angesichts dieser Situation nicht zu unterschätzen: „Es kann sich nicht jeder eine Rechtsschutzversicherung leisten. Deshalb ist es wichtig, dass es Organisationen wie die AK gibt, die hier den Menschen zur Seite stehen.“
Es kann sich nicht jeder eine Rechtsschutzversicherung leisten. Deshalb ist es wichtig, dass es Organisationen wie die AK gibt, die hier den Menschen zur Seite stehen.
Maria Berger, ehemalige Justizministerin
Große Probleme gibt es laut dem Forderungspapier der österreichischen Richterinnen und Richter beim Bundesverwaltungsgericht. Hier seien „immer noch rund 40.000 Beschwerdeverfahren, großteils aus dem Asyl- und Fremdenrecht, unerledigt“. Es seien nach letzten Berechnungen „50 zusätzliche RichterInnenplanstellen erforderlich, um diese Rückstände innerhalb von fünf Jahren abzubauen“.
Zufallsprinzip
Einer, der viele Erfahrungen mit dem Bundesverwaltungsgericht gesammelt hat, ist Michael Genner, Obmann des Vereins „Asyl in Not“. Er setzt sich auch vor Gericht für Geflüchtete ein, um ihnen ein Bleiberecht in Österreich zu ermöglichen. Eine gründliche Vorbereitung sei dabei wichtig: „Wir haben im September vier Prozesse gehabt. Drei haben wir gewonnen, einen verloren.“ Die Verfahren seien für die Betroffenen oft ein Lotteriespiel. „Es hängt wirklich viel davon ab, an welchen Richter man gerät. Der eine gibt subsidiären Schutz, der andere nicht.“
Genner verweist hier auch auf den Fall des Grazer Anwalts Ronald Frühwirth. Dieser hat zahlreiche Asylsuchende vor Gericht vertreten. Im August 2019 gab er seinen Beruf aufgrund „willkürlicher“ Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts auf. Frühwirth habe seinen „Glauben an den Rechtsstaat“ verloren, ließ er damals den österreichischen Medien ausrichten. Michael Genner bedauert diesen Schritt: „Wir werden nicht aufgeben. Wir fordern weiter die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Menschenrechtskonvention.“
Wir werden nicht aufgeben. Wir fordern weiter die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Menschenrechtskonvention.
Michael Genner, Obmann des Vereins „Asyl in Not“
Der Verein „Asyl in Not“ muss sich bei seinen Rechtsberatungsaktivitäten mit einem Problem auseinandersetzen, mit dem auch die Arbeiterkammer konfrontiert ist. Oft gibt es gerade vor Gericht eine massive Waffenungleichheit, welche gesellschaftliche Ungleichheiten widerspiegelt. Man könnte auch altmodisch „Klassenfrage“ dazu sagen.
Soziale Schieflagen vor Gericht
Dass es vor Gericht eine Klassenungleichheit gibt, diese Meinung vertritt Hans Trenner, der Bereichsleiter für Beratung der Arbeiterkammer. Er teilt durchaus Aspekte der von Maria Berger und der RichterInnenvereinigung herausgearbeiteten Problemstellungen. „Es stimmt, das Kanzleipersonal ist massiv ausgedünnt. Es funktioniert nicht so, wie man es bräuchte.“ Gleichzeitig will Trenner aber nicht „in die Melodie einstimmen, dass es noch mehr RichterInnen braucht“. Auch sei das Wiener Arbeits- und Sozialgericht „recht gut organisiert“.
Man braucht nicht nur Kenntnis der rechtlichen Fragen. Es spielen auch sehr viele soziale Aspekte mit
Hans Trenner, Bereichsleiter für Beratung der Arbeiterkammer
Das Problem liege gerade bei Arbeits- und Sozialgerichtsverfahren an anderer Stelle. „Man braucht nicht nur Kenntnis der rechtlichen Fragen. Es spielen auch sehr viele soziale Aspekte mit“, so Trenner. „Es ist bei diesen Verfahren anders als etwa beim Handelsgericht. Dort treffen zwei Kaufleute aufeinander, die sich auf Augenhöhe begegnen, um ihre Interessen durchzusetzen.Beim Arbeitsgericht steht beispielsweise ein qualifizierter Facharbeiter – kein ausgebildeter Verhandler – einem einschüchternd wirkenden und erhöht sitzenden Richter gegenüber. Ein Elektroinstallateur ist nicht dafür ausgebildet, mit solchen Autoritäten zu verhandeln, einem Geschäftsmann ist das eher egal. Mit diesem Ungleichgewicht kämpfen wird. Deshalb gibt es auch Laienrichter, um das etwas abzuschwächen.“
Verschärfend komme hinzu, „dass Richter sich oft nicht in die Situation arbeitender Menschen hineinversetzen können“. Das sei nicht immer so gewesen. „Die 68er-Generation von Richtern hat noch gewusst, dass ArbeitnehmerInnen anders ticken als ArbeitgeberInnen. Doch die heutige, junge Generation von RichterInnen besteht vorwiegend aus TechnokratInnen. Es gibt da kein Verständnis dafür, dass hier zwei verschiedene soziale Schichten aufeinandertreffen.“
Entschärfungen für Unternehmen
Dieser „Konflikt der Klassen“, wie Trenner es nennt, hat noch eine weitere, übergeordnete Dimension. Die von Trenner bedauerte soziale Schieflage vor Gericht hat ihre Widerspiegelung, wenn es um Gesetzestexte geht. Sobald ein Gesetz der Wirtschaft unangenehm werde, werde es in deren Interesse bereinigt, ist Trenner überzeugt. „So hat der Europäische Gerichtshof massiv beim österreichischen Lohn- und Sozialdumpinggesetz eingegriffen und somit das Schutzniveau für ArbeitnehmerInnen gesenkt.“
Trenner spielt unter anderem auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes aus dem Herbst 2019 an. Der Gerichtshof hatte sich mit Millionenstrafen beschäftigt, die gegen Manager des
Andritz-Konzerns verhängt worden waren. Andritz hatte über einen Subauftragnehmer ausländische Arbeitskräfte in Österreich arbeiten lassen, ohne diese nach österreichischem Kollektivvertrag zu bezahlen. Genau solchen Praktiken will das Lohndumpinggesetz einen Riegel vorschieben. Aus Sicht der Arbeitgeber ist besonders brisant, dass bei Strafen das Kumulationsprinzip gilt. Das bedeutet, dass für jeden unterbezahlten Beschäftigten nur eine Strafe zu zahlen ist.
Nun hat der Europäische Gerichtshof das Kumulationsprinzip infrage gestellt. Die Strafbestimmungen des Lohndumpinggesetzes seien unverhältnismäßig und würden außerdem eine „nicht gerechtfertigte“ Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen. „Immer wenn wir auf eine Goldader zugunsten Lohnabhängiger stoßen, wird diese abgeblockt“, sagt Hans Trenner zu dem Thema. „Dazu haben wir bislang keine Lösungen.“ Herrscht also Klassenkampf vor Gericht? Die Antwort lautet wohl „Ja“.
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Christian Bunke
Freier Journalist
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/19.
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