In der AMS-Zentrale in Wien-Brigittenau stehen Werkzeug und Baumaterial in den Gängen, im ganzen Haus sind die Böden abgedeckt, und Petra Draxl arbeitet inmitten einer Baustelle. Die Umgebung soll freundlicher, einladender werden, sagt sie. Seit Juli ist Draxl im zweiköpfigen Vorstand des Arbeitsmarktservice, gemeinsam mit Johannes Kopf. Aber Expertise hat sie jetzt schon genug: Davor leitete sie das Wiener AMS. Im großen Interview erklärt Petra Draxl, wie es um den österreichischen Arbeitsmarkt bestellt ist.
Arbeit&Wirtschaft: Die Nachrichten sind voll vom sogenannten Fachkräftemangel, wenngleich die Arbeitslosigkeit wieder steigt. Vielerorts ist vom paradiesischen Arbeitsmarkt die Rede, auf dem sich die Arbeitsuchenden ihre Arbeitgeber:innen aussuchen können. Hat sich der Arbeitsmarkt tatsächlich so stark verändert?
Petra Draxl: Es ist für das AMS sicherlich eine erfreuliche Situation, dass Menschen auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt sind. Aber jede neue Situation sorgt für eigene Herausforderungen. Heute ist die Herausforderung: Wie finden wir im Pool der arbeitsuchenden Menschen jene, die gut und leicht vermittelbar sind, und jene, die mehr Qualifizierung brauchen? Fachkräftemangel bedeutet schließlich auch, dass es an Menschen mit Lehrabschlüssen in den nachgefragten Berufen mangelt. Eine andere Herausforderung ist, dass wir über Mobilität sprechen müssen. Und zugleich haben wir natürlich auch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Mobilität, das heißt, der Kellner aus Wien soll dann nach Tirol oder Vorarlberg übersiedeln? Menschen haben Familie, ein soziales Netz. Und gerade Geringverdiener:innen kommen ohne dieses Netz nicht so leicht über die Runden.
Menschen sind mobil, in ganz Europa und auch innerhalb Österreichs. Es ist doch ohnehin nur pessimistische Schwarzmalerei, so zu tun, als würden sich Menschen gegen Mobilität und Ortsveränderungen wehren. Das stimmt im Allgemeinen nicht, doch im Einzelfall ist es vielleicht nicht so einfach. Oft ist das mit viel Informations- und Betreuungsaufwand verbunden. Wir müssen auch die zwei Arten von Mobilität unterscheiden. Die eine ist die Saisonmobilität: Meist steht eine Unterkunft zur Verfügung, und die Menschen wechseln nicht ihr soziales Umfeld. Die andere ist die dauerhafte Übersiedlung.
Aber ganz zu übersiedeln ist eine andere Sache: Oft hängt eine ganze Familie dran. Und wenn man alleine ist, muss man auch erst der Typ dafür sein, wohin zu gehen, wo man niemanden kennt.
Bei einer echten Übersiedlung ist es komplexer. Auch das ist natürlich völlig normal, aber es ist aufwendiger, und zwar für alle Beteiligten – für die aufnehmenden Regionen genauso wie für jene, die übersiedeln. Es scheitert oft auch an den aufnehmenden Regionen. So ist beispielsweise schon die Frage des Wohnraums zentral. Es braucht eine regelrechte Welcome-Struktur. Auch Arbeitskräfte müssen willkommen geheißen werden. Das müssen wir erst lernen. Erst unlängst haben wir eine Gruppe junger Mechatroniker:innen aus Wien für ein Praktikum nach Salzburg vermittelt, und ich habe nur positive Rückmeldungen. Wir haben gesagt: Warum machen wir nicht so etwas wie Erasmus in der Lehre? Junge Menschen, die in Wien eine Lehre in einer überbetrieblichen Ausbildungsstätte machen, ziehen temporär in andere Regionen. Das ist aber kein Selbstläufer, das ist ressourcenintensiv.
Das heißt: Die Krise auf dem Wohnungsmarkt ist ein Schlüssel für den Arbeitsmarkt?
Ja, einige Bundesländer sind wirklich gefordert, einmal zu erheben, was ist der Wohnraum, den sie zur Verfügung stellen und mobilisieren können. Länder und Gemeinden müssen auch in den Wohnbau investieren, wenn da jemand hinziehen und arbeiten soll. Lehrlinge, junge Erwachsene, von wo immer, aus Wien, aus Griechenland, aus der Slowakei, Österreicher:innen oder Migrant:innen, haben letztlich doch das gleiche Bedürfnis: Sie müssen eine leistbare Wohnung finden. Damit fängt es doch schon einmal an. Oft wollen die Menschen, verständlicherweise, ihre Wohnung an ihrem Herkunftsort zunächst noch nicht aufgeben. Man weiß ja nie. In Wien haben sie einfach viel mehr Möglichkeiten, eine Wohnung zu finden, als in vielen Bundesländern. Wie sollen Unternehmen junge Beschäftigte gewinnen, wenn es für die dann keinen leistbaren Wohnraum gibt?
Bilden Unternehmen eigentlich überhaupt noch aus? Wer drei Jahre eine Fachkraft ausbildet, macht dann oft die Erfahrung, dass sie ihm von der Konkurrenz abgeworben wird.
Die Empirie widerspricht da: In den technologischen Feldern, und nicht zuletzt in jenen mit Verbindung zu Ökologie, steigen die Lehrlingszahlen. Was wir teilweise als begrenzend erleben, ist die hohe Auslastung der Unternehmen. Wie schafft man es, noch Lehrlinge auszubilden, wenn eh für alles die Zeit fehlt? Deshalb sage ich, wir müssen die jungen Leute eben selbst ausbilden, zwar in Kooperation mit den Unternehmen, aber in überbetrieblicher Ausbildung. Die Ausbildungseinrichtungen des AMS, die wir fördern und finanzieren, sind super – deshalb sollen die Unternehmen das aber auch nicht abwerten, was immer wieder vorkommt.
Inwiefern?
Draxl: Manchmal herrscht noch die Auffassung vor, dass die Ausbildung im Betrieb irgendwie besser wäre als in einer Ausbildungseinrichtung des AMS.
Das AMS bildet in relevanter Zahl aus?
Gemeinsam mit entsprechenden Trägern, also Institutionen, die von uns unterstützt und langfristig finanziert werden. Einerseits geht es da um junge Lehrlinge, die einfach die mehrjährige Ausbildung machen, andererseits auch um eine Intensivausbildung zu Facharbeiter:innen für Leute über zwanzig.
Gibt es eine Zweiteilung des Arbeitsmarktes – also die, um die sich alle reißen, und sehr unterqualifizierte Menschen, die kaum mehr eine Chance haben? Geht hier auf dem Arbeitsmarkt eine Schere auf?
Diese Zweiteilung hat es natürlich immer schon gegeben. In einer guten Arbeitsmarktsituation mit niedriger Arbeitslosigkeit sind auch die Chancen für Langzeitarbeitslose, für Menschen mit niedrigen Qualifikationen oder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen wesentlich besser. Kostenintensiv ist es immer, denn es braucht gut ausgestattete Programme, um benachteiligte Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Was braucht es, um Menschen, die Langzeitarbeitslosigkeit und damit Dequalifizierung erfahren haben, wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu sichern?
Erstens zunächst die entsprechenden Eingliederungsprogramme – das ist sowieso die Voraussetzung – und zweitens viel Beratung und Begleitung. Bei fast jedem Schritt erleben die Betroffenen Hürden. Es gibt in Wien Programme, ganz ähnlich wie das Experiment in Gramatneusiedl mit der Jobgarantie für Langzeitarbeitslose, die den Menschen über längere Zeit auch ein Gefühl von Sicherheit geben. Man unterschätzt leicht, wie wichtig dieses Sicherheitsgefühl ist. Menschen brauchen ein Netz von Beratung und Unterstützung, etwa dass man sagt: „Wenn du auch eine Schuldnerberatung brauchst, dann können wir dir auch da helfen.“ Die Betroffenen machen den Sprung in Firmen, in eine Gemeinde oder etwa in NGOs. Oft gibt es Aufnahmeverfahren, und für Menschen, die seit Jahren aus all dem raus sind, ist das ein immenser Stress. Ohne Begleitung gibt es vielleicht so viel Stress und Überforderung, dass es die Menschen aus der Kurve werfen würde.
Einfach wieder in eine Art von Struktur hineinzugeraten – damit ist es nicht getan?
Wo immer Sie hinkommen, Sie werden immer auch auf Leute treffen, die nicht alle Zeit der Welt für Sie haben und sagen: ‚Da hast, mach das‘. Es ist empirisch einfach so: Ab sechs Monaten Arbeitslosigkeit gibt es meist einen Knick, ab dem sinkt Ihr Selbstwertgefühl, es wird auch Ihr Know-How abgewertet. Sie können noch so fähig und qualifiziert sein, wenn Sie eine längere Zeit arbeitslos sind, wird man über Sie sagen: ‚Na, so gut kann der nicht sein, sonst hätte er ja was gefunden.‘ In dem Moment trauen Sie sich auch selbst nicht mehr viel zu.
Was bringen Schulungen des AMS? Es gibt ja viel Kritik an sinnlosen Trainings, in denen man die immer gleichen Excel-Tabellen üben muss oder Bewerbungsschreiben, die man eh schon kann…
Draxl: Ich bin absolut überzeugt, dass es keine sinnlosen Schulungen mehr gibt. Da gab es eine Bereinigung. Wir haben auch eine klare Analyse gemacht: Was ist sinnvoll, worauf soll man in Episoden von Arbeitslosigkeit achten? Auch im Zusammenhang mit einer Zuwanderergesellschaft ist klar: Das ist die Basisbildung: Deutschkurse,digitale Kenntnisse, Mathematik, denn ohne schafft man keine Ausbildung in technischen Berufen. Dazu gehört auch kulturelle Bildung. Da investiert das AMS stark. Ich kenne keinen Sinnloskurs mehr.
Es ist doch ohnehin nur pessimistische Schwarzmalerei, so zu tun, als würden sich Menschen gegen Mobilität und Ortsveränderungen wehren.
Petra Draxl, AMS-Vorständin
Wie macht man jemanden, der:die bisher eine harte körperliche Tätigkeit ausgeübt hat, zu einem:einer Pfleger:in?
Wir haben hier ein breites Portfolio, im gesamten medizinisch-pflegerischen Bereich, das ja von der Optikerassistenz über die Laborassistenz bis zur Pflege oder zur Sozialpädagogik reicht. Menschen, die sich dafür interessieren, werden intensiv beraten. Ein Großteil dieser Berufe ist wiederum mit Aufnahmeprüfungen verbunden. Da gibt es sehr viel Interesse. Das reicht von Handelsangestellten bis zu Flugbegleiter:innen. Wir sehen ja, dass wir die Ausbildungsplätze alle füllen. Es ist keineswegs trivial, die nötigen Ausbildungskapazitäten aufzubauen. Jeden Platz können wir mit einem Bewerber oder einer Bewerberin besetzen. Hier reden wir in ganz Österreich von vielen Tausend Menschen. Und auch wenn wir dafür Menschen aus Drittstaaten gewinnen, stellt sich die Frage von Nostrifizierungsverfahren (Anm. d. Redaktion: Anerkennung von ausländischen Prüfungszeugnissen), und auch dafür braucht es die Kapazitäten. Ein Nostrifizierungslehrgang dauert ein halbes oder Dreivierteljahr.
Deutschland ist in einer Rezession, wir haben eine hohe Inflation, den Menschen geht das Geld aus. Ist die günstige Arbeitsmarktlage demnächst Vergangenheit?
Was uns wirklich Sorgen macht, ist die Bauwirtschaft. Das hat stark mit der Zinsentwicklung zu tun, mit den Kostenstrukturen und vielen weiteren Faktoren. Gleichzeitig sehen wir, dass die Arbeitslosigkeit wegen der Demografie und der Arbeitskräftenachfrage stabil bleiben soll – jedenfalls sind das die Prognosen.
Die müssen ja nicht so eintreffen.
Auch wenn der Neubau nach unten geht und der gewerbliche Wohnungsbau zum Erliegen kommt, wird es in der Baubranche natürlich auch künftig extrem viel zu tun geben, von der Sanierung bis zur thermisch-ökologischen Transformation. Das bedeutet wohl, dass man in diesen Branchen auch Qualifizierungen braucht. Da muss man nicht gleich einen neuen Beruf erlernen, aber Qualifizierungen erwerben, die man bisher nicht hatte. Wenn wir das gut hinkriegen wollen, braucht es Programme – in Kooperation mit den Unternehmen.
Ein ewiges Thema ist die Unterprivilegiertheit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Aber kann Bildung und Qualifizierung überhaupt etwas beitragen zur Lösung des Problems? Wir wissen ja: Das Qualifikationsniveau von Frauen ist im Durchschnitt längst leicht über dem der Männer.
Das drängendste Problem ist immer noch – leider – die fehlende Kinderbetreuung. Was wir als Arbeitsmarktservice immer noch machen, ist, Frauen stärker zu fördern als Männer im Verhältnis zu ihrer Betroffenheit von Arbeitslosigkeit.
Sind Frauen von Arbeitslosigkeit stärker betroffen?
Ich frage auch deshalb, da ja in den Corona-Jahren die Frauen stärker von Arbeitslosigkeit betroffen waren, da sie sich schneller vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben.
Für uns als Arbeitsmarktservice ist wichtig, Frauen stärker zu fördern. Etwa in technischen Berufen, damit wir Frauen in eine technische Qualifizierung zu bringen, die sich das vielleicht mit 16 Jahren nicht zugetraut haben. Wir haben einen ganz starken Fokus auf die Förderung migrantischer Frauen, hier gibt es einen signifikant höheren Knick als bei österreichischen Frauen. Die Arbeitsmarktpartizipation von migrantischen Frauen nimmt mit der Geburt von Kindern deutlich stärker ab.
In den populistisch aufgeheizten Debatten sind die Flüchtlinge das größte Problem. Wie sieht da die Realität aus?
Wir hatten ja verschiedene Flüchtlingsbewegungen. Denken wir nur an die Tschetschen:innen: Die allermeisten kamen deutlich vor der jüngsten großen Fluchtbewegung. Da haben wir zu wenig Programme aufgelegt, und das macht uns bis heute Probleme. Dann gibt es die klassische Flüchtlingswelle von 2015. Vieles ist uns gelungen. Wir wissen auch, dass Integration in Ballungsräumen passiert, wie Graz, Wels und natürlich Wien. Menschen ziehen in Ballungsräume, weil es in diesen schon Netzwerke und Communitys gibt. Es sind auch sehr viele Hochqualifizierte gekommen, man denke nur an die 250 Ärzt:innen aus Syrien, die nostrifiziert wurden. Nicht sehr gut ist es gelungen, die Beschäftigungsquote der Frauen zu heben. Die war schon in den Herkunftsländern niedrig, auch bei Höherqualifizierten. Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass es die Flüchtlingsbewegungen nach 2015 gegeben hat. Das sind junge Leute, die ein Potenzial haben, aber da tun wir nicht genug. Ich finde, dass wir hier auch etwas einfordern können. Wir sollten auch nicht vergessen, dass sich die Gruppe geändert hat. 2015 kamen viele junge Menschen, die das gute syrische Bildungssystem durchlaufen hatten. Die neue Gruppe ist ja viel niedriger qualifiziert: Die haben oft jahrelang in Lagern gelebt und haben keine syrische oder irakische Matura.
Und was ist da im Lichte ihrer Erfahrung der beste Weg?
Es gibt in Österreich eine Art soziales Agreement, das Grundkenntnisse der deutschen Sprache voraussetzt, und ohne diese tut man sich überall schwer. Man muss sich unter Kollegen oder mit der Chefin und dem Chef verständigen. Kurzum: Bestimmte Sprachkenntnisse brauchen sie, und dann kann man Arbeitserfahrung erwerben. Für Jugendliche und junge Menschen funktionieren schulähnliche Einrichtungen sehr gut. Oder auch zweisprachige Ausbildungen. Also, simpel gesagt: Ökotechnik, in Deutsch und in Farsi. Bilingualität, wie wir sie im Hochschulbereich und in der AHS gut kennen, müssen wir auch im Lehrberufs- und Pflichtschulbereich einfach als normal ansehen.