Wir sitzen gerade im ÖGB, wo an der Fassade ein großes Transparent „Preise runter“ hängt. Was kann auf europäischer Ebene getan werden, um das Leben für alle wieder leistbarer zu machen?
Was wir jetzt gerade sehen, ist auch eine sogenannte Gierflation. Auf der einen Seite ausgelöst durch den Schock des Kriegs, aber auch durch Trittbrettfahrer, die Preise unverhältnismäßig erhöhen. Offenlegung der Preise ist eine wichtige Geschichte. Da muss man sich Kartelle genauer anschauen. Wir sollten viel stärker reinfahren, was die Konzentration der Lebensmittelanbieter:innen betrifft – ein echter Wettbewerb sieht anders aus.
Ebenso relevant ist die Entflechtung bei den Energiepreisen. Warum ist der Preis für Strom aus dem Verbrauch von Wasserkraft so hoch? Warum schnalzt der in die Höhe, was hat das mit mit der Invasion von Putin in der Ukraine zu tun? Das sind Perversionen, die der sogenannte Kapitalismus eingerichtet hat, und da kann man nur laut und deutlich sagen, was die wenigsten hören wollen: Wenn der Markt versagt, müssen wir in den Markt eingreifen. Und der Markt hat versagt. Der Markt regelt eben nicht alles. Also: Eingreifen! Und zwar nicht zugunsten der Energieanbieter, sondern zugunsten der Menschen.
Die Zahl der armutsgefährdeten und armutsbetroffenen Menschen steigt. Warum ist es wichtig, Mindestlöhne auf EU-Ebene umzusetzen?
Weil es ein riesengroßes Gefälle gibt zwischen Ost und West. Die Löhne in den mittel- und osteuropäischen Staaten sind wesentlich niedriger als bei uns. Das führt zu einem großen Brain- und Menschendrain. Arbeitskräfte mit guter Ausbildung gehen aus osteuropäischen Ländern fort, um dann in wesentlich niedrigeren Qualifikationen zu arbeiten, als 24-Stunden-Betreuerinnen oder in einer Skihütte. Sie sind aufgrund der ökonomischen Umstände gezwungen, zu schlechteren Bedingungen zu arbeiten, als ihnen zustünden. Das ist schlecht für die Länder, aus denen sie kommen, aber auch schlecht für die Länder, in denen sie ankommen, weil so natürlich die Löhne nach unten gedrückt werden. Für die Menschen auf beiden Seiten ist es eine Lose-lose-Situation. Gewinner sind die Unternehmer, die den Reibach einstecken.
Ich möchte aber noch etwas anderes betonen: Es geht natürlich ums Geld, aber es geht auch um die gesamte Gesellschaft. Was bedeutet es für Kinder, wenn Eltern weggehen und sie bei den Großeltern aufwachsen? Was macht das mit der Mama, die traurig ist, weil ihr das Kind fehlt? Was macht das mit dem Mann, der auch irgendwo anders arbeitet? Was macht das mit den Menschen, mit ihrem Leben, mit ihrem Wohlbefinden? Und: Was macht das mit Gesellschaften, wenn die mutigsten, die hellsten, die aktivsten, die kräftigsten Köpfe ihr Glück woanders suchen? Mich wundert es nur teilweise, dass wir in vielen osteuropäischen Staaten ein Erstarken von sehr hässlichen Ideologien haben. Es bräuchte den Widerspruch von denen, die schon weggegangen sind. Also wenn wir über Mindestlöhne sprechen, dann geht es um sehr viel mehr als nur um Geld.
Arbeitgeber glauben zum Teil,
Arbeitskräfte würden auf
den Bäumen nachwachsen.
Evelyn Regner, sozialdemokratische Abgeordnete und Vizepräsidentin zum EU-Parlament
Es gibt immer mehr Menschen, die atypisch, prekär und in Scheinselbstständigkeiten arbeiten. Wie kann man dem begegnen?
Der größte Humbug ist, dass digitale Plattformen als neutrale Intermediäre behandelt werden. Plattformen sind keine Intermediäre, die nur vermitteln. Sie verdienen ihr Geld, indem sie arbeiten lassen. Plattformen sind, und das sage ich laut und deutlich, Arbeitgeber. Dementsprechend haben sie Fürsorgepflicht zu respektieren, ebenso alle Rechte des Arbeitnehmer:innenschutzes. Nur ist das aktuell in den nationalen Rechtsordnungen nicht widergespiegelt. Deshalb ist die EU gefragt. Wir haben zur Plattformarbeit bereits abgestimmt, aktuell verhandeln wir mit den Mitgliedsstaaten. Wenn alles wie geplant kommt, dann muss die Plattform den Beweis erbringen, dass die Person tatsächlich keine Arbeitnehmerin oder kein Arbeitnehmer ist, sondern ein Unternehmen mit allen unternehmerischen Eigenschaften. Die Beweislast wird also umgedreht. Das ist eine kleine Revolution! Beschäftigte von Plattformen sind dann Arbeitnehmer:innen, haben Urlaubsanspruch, geregelte Arbeitszeiten und sind krankenversichert.
Leider ignorieren Nationalstaaten Richtlinien manchmal. Es gibt auch für Österreich zwei Mahnschreiben in Bezug auf die Work-Life-Direktive. Was beinhaltet die Richtlinie?
Mindeststandards, sehr bescheiden für österreichische Verhältnisse. In Österreich ist alles aus der Richtlinie umgesetzt, außer die Väterkarenz. Wenn Österreich sie nicht umsetzt, gibt es eine Klage beim Europäischen Gerichtshof und Österreich wird verurteilt werden und ziemlich viel Geld zahlen. Steuergeld! Und die Verpflichtung umzusetzen bleibt aufrecht.
Mutig in die neuen Zeiten: Um den globalen Herausforderungen gerecht zu werden, benötigen wir den Blick über den nationalstaatlichen Tellerrand auf das große Ganze. Ja zur Europäischen Union zu sagen, wird deshalb immer relevanter. Weil Europa, das sind wir alle.
Jetzt das neue… pic.twitter.com/bVBUiHUIde
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) May 12, 2023
In Österreich gibt es im Moment zwei Initiativen zu einem Lieferkettengesetz. Was tut sich auf EU-Ebene?
Wir verhandeln gerade. Der zweite Schritt zum Thema Berichterstattung wurde schon beschlossen, der erste ist fast fertig. Beim zweiten, bereits beschlossenen Teil, geht es darum, dass Unternehmen berichten müssen, denn kein Mensch möchte Aktien haben von einem Unternehmen, das eine Fabrik in Bangladesch hat, die zusammenbricht und wo Menschen sterben. Bei den Lieferketten selbst geht es um Sorgfaltspflichten. Eigentum berechtigt, aber Eigentum verpflichtet auch. Für jeden Menschen im Alltag ist klar: Wenn ich Schaden verursache, dann hafte ich dafür. Unternehmen müssen gefälligst auch zahlen, wenn sie Schäden verursachen. Diese Haftungsregeln kosten natürlich, aber ist es der Gesellschaft zumutbar, dass Unternehmen Profit dadurch erzielen, dass sie Kinder einsetzen zum Arbeiten? Dass sie den Amazonas-Urwald roden, eine Fabrik bauen, die abbrennt und eineinhalbtausend Leute sterben oder verletzt werden? Das muss illegal sein. Das darf in keiner Gesellschaft zulässig sein. Menschenrechte sind nicht verhandelbar.
& Podcast
Evelyn Regner zu Gast bei Beatrice Frasl