Kampf gegen die weißen Flecken

Foto (C) Arno Burgi/dpa/picturedesk.com

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Die sinkende Tarifabdeckung ließ die deutschen Gewerkschaften für den gesetzlichen Mindestlohn eintreten. Die erste Bilanz ist durchaus positiv.
Am 1. Jänner 2015 war es in Deutschland so weit: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gilt seit diesem Tag ein gesetzlicher Mindestlohn. Doch warum wurde dieser gesetzlich verankert, statt diese Aufgabe wie in Österreich den Sozialpartnern zu überlassen? An sich waren die deutschen Gewerkschaften lange dagegen, den Mindestlohn im Gesetz festzuschreiben. Den Grund sieht Olaf Deinert von der Universität Göttingen darin, dass sie die Lohnfestsetzung „als ihr originäres Geschäft“ verstanden. Dass die Gewerkschaften ihre Position verändert haben, lag daran, dass „weiße Flecken auf der Tariflandkarte immer deutlicher wurden“. Deshalb schlossen sich auch die Gewerkschaften jenen an, die einen gesetzlichen Mindestlohn forderten.

Tarifautonomie stärken

Ein weiteres Motiv war die Stärkung der Tarifautonomie. So paradox dies klingen mag, so einleuchtend wird es, wenn man bedenkt, dass somit Tarifverhandlungen unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns entfallen. Die Gewerkschaften müssen „ihre Kräfte nicht aufwenden, um entsprechende Löhne auszuverhandeln“, erläutert Deinert den Gedanken.

Seit Anfang 2015 haben ArbeitnehmerInnen im Nachbarland somit Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Dieser lag in den ersten zwei Jahren bei 8,50 Euro pro Stunde. Wie kam man auf diesen Betrag? Man orientierte sich dabei an der sogenannten Pfändungsfreigrenze. Bei einem Stundenlohn von 8,50 Euro liegt das Einkommen eines oder einer Alleinstehenden oberhalb dieser Grenze, so der Gedanke. Alle zwei Jahre wird der Mindestlohn angepasst, entsprechend wurde er Anfang dieses Jahres auf 8,84 Euro erhöht. Dafür zuständig ist die Mindestlohnkommission, die paritätisch besetzt ist: Die Spitzenorganisationen von Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen entsenden jeweils drei stimmberechtigte Mitglieder sowie jeweils ein beratendes Mitglied aus der Wissenschaft.

Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang lautet freilich: Wie kann gewährleistet werden, dass der Mindestlohn nicht nur auf dem Papier steht, sondern den Beschäftigten auch tatsächlich bezahlt wird? An sich liegt es an den ArbeitnehmerInnen selbst, aktiv zu werden, sollte dem nicht so sein. Unterstützung können sie sich von den Gewerkschaften holen, auch wenn diese die Beschäftigten nicht vor Gericht vertreten können. Für die Überprüfung zuständig ist die Zollverwaltung. Diese hat laut Deinert „weitreichende Befugnisse wie Zugang zu Grundstücken und Geschäftsräumen, Einsicht in Unterlagen, Verlangen nach Auskünften etc.“.

Zudem müssen ausländische Arbeitgeber bestimmte Meldepflichten erfüllen. Gleiches gilt für deutsche Arbeitgeber, die ArbeitnehmerInnen aus dem Ausland „entleihen“. In jenen Branchen, die „schwarzarbeitsgefährdet“ sind, müssen zusätzlich Aufzeichnungen über die Arbeitszeit geführt werden. Dies gilt etwa für das Bau-, Gast- oder Gebäudereinigungsgewerbe sowie bei geringfügig Beschäftigten. Eine interessante Ausnahme gibt es für MinijobberInnen, die Haushaltsangestellte sind. Die Auftraggeberhaftung wiederum soll verhindern, dass Arbeitgeber ein Subunternehmen beauftragen und sich damit ihrer Verantwortung entziehen. Verstoßen Arbeitgeber gegen das Gesetz, drohen Bußgelder. Sollten diese mehr als 2.500 Euro ausmachen, kann die Firma sogar von öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen werden, bis die Zuverlässigkeit des Unternehmens nachweislich wiederhergestellt ist. Im ersten Halbjahr 2015 wurden laut Deinert rund 300 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Verstöße gegen das Gesetz eingeleitet.

Ausnahmen mit Problemen

An sich gilt das Gesetz für „ArbeitnehmerInnen“. Im Gesetz vorgesehene Ausnahmen sorgten bereits für rechtliche Probleme und werden wohl auch in Zukunft eine Herausforderung bleiben. Vom Mindestlohn ausgenommen sind etwa Auszubildende. Wenn man sich die Besonderheit des Berufsbildungsverhältnisses vor Augen hält, mag dies auch nachvollziehbar sein: Die Wissensvermittlung steht gegenüber der praktischen Arbeit im Vordergrund. Dies ließe sich allerdings grundsätzlich auch auf ein Praktikum übertragen. Um aber eine versteckte Ausnutzung der Arbeitskraft zu verhindern, gilt der Mindestlohn auch für Praktika. Um dem Charakter bestimmter Praktika wiederum gerecht zu werden, sind neuerlich Ausnahmen vorgesehen, beispielsweise für schulische oder hochschulische Pflichtpraktika, Berufs- bzw. Studienorientierungspraktika sowie ausbildungs- bzw. studienbegleitende Praktika bis zu einer Dauer von drei Monaten.

Langzeitarbeitslose müssen in den ersten sechs Monaten einer Beschäftigung nicht nach Mindestlohn bezahlt werden. Damit wollte man ihnen einen Vorteil bei der Arbeitssuche verschaffen. Die Befristungsmöglichkeit eines Arbeitsverhältnisses auf sechs Monate lässt allerdings zumindest einen gewissen Spielraum zur Umgehung des Mindestlohns zu. Für ZeitungszustellerInnen wurde eine Übergangsregelung verankert, wonach der Mindestlohn bis zum 1. Jänner 2018 gestaffelt erhöht werden soll. Begründet wurde dies damit, dass die Existenzgefährdung von Pressebetrieben verhindert werden solle. Somit wartet sowohl auf die Gerichte als auch den Gesetzgeber noch einiges an Arbeit, um den faktischen Umständen gerecht zu werden.

Nachdem der Mindestlohn erst seit wenigen Jahren gilt, sind die bisherigen Entwicklungen natürlich mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Doch selbst die Deutsche Bundesbank, die im Vorfeld noch vor „erheblichen Beschäftigungsrisiken“ gewarnt hatte, räumte schon ein halbes Jahr nach dessen Einführung positive Effekte ein. In ihrem Monatsbericht aus dem August 2015 spricht sie von einer „kräftigen Verringerung der Minijobs“ seit Jahresbeginn und interpretiert dies als „Anpassungsreaktion der Unternehmen“ auf den Mindestlohn. Konkret wurden zwischen September 2014 und 2015 140.000 Minijobs abgebaut. Das bedeutet eine Reduzierung um 3,9 Prozent, wobei ein deutliches Ost-West-Gefälle feststellbar ist: Sank die Zahl der MinijobberInnen in den westlichen Bundesländern um 3,3 Prozent, so waren es in den östlichen ganze 7 Prozent.

Jobwachstum durch Mindestlohn

Auch die massive Zunahme von Jobs in Dienstleistungsbereichen führt die Bundesbank auf den Mindestlohn zurück. So war der Anstieg der Beschäftigungsverhältnisse in den Bereichen Handel, Gastgewerbe, Verkehr, Lagerei und Sonstige Dienstleistungen laut Bundesbank „mehr als doppelt so hoch wie in vergleichbaren Perioden der letzten zwei Jahre“. Die Bundesbank spricht von 60.000 Stellen, die „zusätzlich zum bisherigen Aufwärtstrend geschaffen wurden“. Eine Ursache sieht sie darin, dass viele Minijobs in reguläre Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurden.

Zugleich sind die Löhne teilweise kräftig angestiegen. Die Bundesbank schätzt, dass der Mindestlohn das Lohnniveau in Deutschland um etwa einen halben Prozentpunkt nach oben gezogen hat. Davon profitiert haben insbesondere gering Qualifizierte und Beschäftigte in Niedriglohnbranchen in den östlichen Bundesländern sowie geringfügig Beschäftigte in ganz Deutschland, so die Bundesbank. Die Gewerkschaft ver.di ergänzt: „Vor allem Frauen nützt der Mindestlohn.“ Ihre Löhne seien allein im Osten im Schnitt um 4,2 Prozent gestiegen.

Der befürchtete Arbeitsplatzabbau ist bisher jedenfalls nicht erkenntlich eingetreten. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit nicht gestiegen. Trotz der eher positiven Bilanz wird in der Praxis der Mindestlohn – zum Beispiel durch unbezahlte Überstunden – häufig umgangen. Es ist außerdem zu befürchten, dass vermehrt auf echte oder Schein-Werkverträge zurückgegriffen wird. Für die Gewerkschaften heißt es von daher weiterhin, wachsam zu sein, um zu verhindern, dass auf der Mindestlohnlandkarte weiße Flecken entstehen.

Von
Sonja Fercher und Lisa Dornberger
Chefredakteurin und Rechtsreferendarin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Göttingen

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 3/17.

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