Man würde erwarten, dass der Geruch von Fisch in der Luft liegen sollte, denn Fisch ist überall – selbst am Boden und rasch auch an den Gummistiefeln –, doch dafür ist es zu kalt. Stattdessen ist die Luft erfüllt von Geräuschen: das Surren von Motoren, das Dröhnen von Ventilation, das Plätschern von Wasser und das Krachen von zerstoßenem Eis, metallisches Klappern und der Klang von Schnitten an den Arbeitsplätzen. Diese drängen sich an den Rändern der Halle, und an einem von ihnen – in einer Reihe von Leuchttischen an einem Förderband – sitzt Maria Wiktoria. „Das hier bei Leó Seafood“, sagt sie, „ist ein Arbeitsplatz, wie man ihn sich nur wünschen kann.“
Schneiden, verpacken, Familie und Freizeit: Arbeitsbedingungen in Island
Leó Seafood ist ein fischverarbeitender Betrieb auf Heimaey, der Hauptinsel des Vestmannaeyjar-Archipels im Süden von Island. Hier spielt unsere Reportage über die Arbeitsbedingungen in Island. Das mittelständische Unternehmen hat rund 80 Beschäftigte, in der Fangsaison bis zu 100, bei einem Frauenanteil von 60 Prozent. Maria Wiktoria ist eine von ihnen: Die polnische Handelsakademie-Absolventin ist vor zehn Jahren nach Heimaey gezogen, mit ihrem damals zweijährigen Kind und ihrem Partner, der eine Stelle bei einem anderen Unternehmen antrat. Sie begann bei Leó Seafood zu arbeiten – mittlerweile sind beide hier beschäftigt. Marias Berufseinstieg war „wie bei allen anderen auch: schneiden und verpacken“, mittlerweile ist sie mit Qualitätskontrolle befasst. Was ist es, das die Arbeit hier in ihren Augen trotz der auf den ersten Blick rauen Bedingungen so auszeichnet?
Im lokalen Vergleich mit anderen fischverarbeitenden Betrieben auf der Insel gibt es keine Nachtschicht, das fixe Arbeitsende am frühen Nachmittag sei ein Segen für Familienleben und Freizeit, so Maria. Im internationalen Vergleich sprechen für Island die starken Arbeitnehmer:innenrechte, die soziale Absicherung sowie die Gleichstellung. Maria hat den unkomplizierten Umgang mit Krankenstand und Kinderbetreuung zu schätzen gelernt. Das Karenzmodell gehört zu den progressivsten in Europa und verringert Ungleichheiten zwischen Elternteilen. Dem Gender-Pay-Gap werden gesetzlich laufend mehr Riegel vorgeschoben. Und wenn wir schon beim Thema Bezahlung sind: „Mit dem Geld“, sagt Maria, „gibt es hier keine Probleme.“ Ein entscheidender faktor bei den Arbeitsbedingungen in Island.
Konkurrenzfähig trotz hoher Lohnkosten
Ein wichtiger Faktor in der Produktion sind die Energiekosten. Was die betrifft, ist Island in einer privilegierten Situation. Elektrizität wird hier dank Wasserkraft und Geothermie zu 100 Prozent erneuerbar produziert. Dadurch ist er billiger als in fast allen EU-Staaten. Zudem ist der Bedarf an Kühlung deutlich geringer als in südlicheren Breiten. In der Fischverarbeitungsbranche macht sie fast drei Viertel des Energieverbrauchs aus. Auf einem anderen Blatt steht die Sache mit den Arbeitskosten. In Island betrug das Durchschnittseinkommen im Jahr 2020 laut OECD mehr als 70.000 Euro. „Wir stehen im Wettbewerb mit Unternehmen in Ländern, in denen die Löhne bloß ein Viertel von dem betragen, was wir hier zahlen“, sagt Gunnar Páll Hálfdánsson.
Gunnar Páll ist als Projektleiter im Management von Leó Seafood. Er kam zum Unternehmen, um neue Maschinen zu implementieren, und kümmert sich nun sowohl um Arbeitsabläufe als auch um den Verkauf: „Alle machen das, was gerade gemacht werden muss – wir sind ein familiärer Betrieb.“ Und zwar einer mit substanziellem Output: Jährlich werden hier 7.000 Tonnen an Meerestieren verarbeitet – das ist fast ebenso viel, wie in ganz Albanien gefangen wird, immerhin ein Mittelmeerstaat mit der siebenhundertfachen Einwohner:innenzahl von Heimaey. In ganz Island beläuft sich der jährliche Fang auf knapp 1,1 Millionen Tonnen – und damit auf mehr als in Kanada, Spanien, Frankreich oder dem Vereinigten Königreich.
Fisch-Weltmacht trotz Standortnachteil
Island ist eine Fisch-Weltmacht. Trotz der hohen Lohnkosten, einem Faktor, der bei Leó Seafood überdurchschnittlich zum Tragen kommt: Die hier verarbeiteten Fische – etwa Seelachs, Kabeljau oder Schellfisch – sind Grundfische, der Arbeitsaufwand ist pro Tonne viel höher als bei Freiwasserfischen wie Heringen oder Makrelen. Hat Island einen Standortnachteil? Stehen die gute Entlohnung und die strikten Arbeitnehmer:innenrechte dem ökonomischen Erfolg im Weg? „Was uns beeinträchtigt, ist, wenn die Produktion in anderen Staaten – vor allem in der EU – durch Subventionen künstlich verbilligt wird“, sagt Gunnar Páll: „Wir blicken sicher nicht mit dem Gedanken auf unsere sozialen Errungenschaften, dass sie ein Klotz am Bein sein könnten.“
Diese Einstellung ist in Island tief verankert. Das Land wurde im Frühmittelalter von Wikingern besiedelt, die Natur war feindselig, die Anzahl der Menschen gering – Zusammenarbeit war unumgänglich, Solidarität gesellschaftlich überlebensnotwendig. Dies ist auch ein Erklärungsansatz für den Stellenwert, den die Gewerkschaften haben. Neben Kollektivvertragsverhandlungen, Rechtsberatung und Streikfonds – die allesamt auch den nicht organisierten Erwerbstätigen zugutekommen – bilden die Gewerkschaften eine tragende Säule des Sozialversicherungssystems. Brillen, Zahnersatz, Physiotherapie, Entgeltfortzahlung, psychologische Unterstützung: Die Gewerkschaften springen ein. Der Organisationsgrad ist der höchste aller OECD-Staaten, im Jahr 2020 waren 92,2 Prozent der Arbeitnehmer:innen Mitglieder in den mehr als 200 nationalen und regionalen Vertretungen. Und bei Leó Seafood? „Noch mehr. Hundert Prozent. Jede Arbeiterin, jeder Arbeiter hier ist bei der Gewerkschaft“, sagt Ragnheiður Sigurkarlsdóttir.
Gewerkschaftliche Vertrauensperson ist
nicht etwas, das man werden will,
sondern etwas, das man sein muss.
Ragnheiður Sigurkarlsdóttir, Gewerkschafterin
Probleme gibt es auch in Island
Ragnheiður ist die gewerkschaftliche Vertrauensperson bei Leó Seafood und übernimmt als Sprachrohr und Schlichterin viele Aufgaben einer Betriebsrätin, allerdings ohne direkte betriebliche Mitbestimmung, die in Island nicht in derselben Form wie in Österreich vorgesehen ist. Sie arbeitet seit über 40 Jahren in der Fischverarbeitung – zu Leó Seafood ist sie im Gründungsjahr 2001 gewechselt, wegen der besseren Arbeitsbedingungen durch das Fehlen der sonst üblichen Nachtschicht. Anfangs war sie an einer Maschine tätig, derzeit schneidet sie händisch Fisch.
Als Mitglied hat Ragnheiður von den Leistungen der Gewerkschaft profitiert. Etwa einer Qualifikation zur Staplerfahrerin, die durch die Organisation finanziert wurde und die ihr zu einem breiteren Aufgabengebiet verhalf. Zur Vertrauensperson wurde sie vor drei Jahren gewählt. Warum sie das werden wollte? Ragnheiður denkt kurz nach. „Gewerkschaftliche Vertrauensperson ist nicht etwas, das man werden will“, sagt sie ernst. „Sondern etwas, das man sein muss.“ Die Arbeitsbedinungen in Island und bei seinem Arbeitsgeber sind gut.
Die Belegschaft kommt aus Polen, Litauen, Rumänien, Slowenien und Portugal. Die Mehrheit ist weiblich. Im Produktionsbereich sind hier isländische Männer fast Exoten, und zu ihnen zählt Gabriel Kárason. Gabriel ist seit einem Jahr bei Leó Seafood, wo er den Gabelstapler im Kühlhaus fährt. Die davor gesammelten Arbeitserfahrungen waren sehr vielfältig. „Hier und dort und überall“. Im Alter von 13 oder 14 Jahren hat er als Pizzabäcker begonnen. Später hat er in ganz Island nach Wasser gebohrt, war Schweißer und Automechaniker. In einer Anstellung sei er monatelang nicht entlohnt worden, da das Unternehmen zahlungsunfähig geworden war. In einer anderen wurde ihm das Urlaubsgeld vorenthalten, der Arbeitgeber war nicht mehr für ihn erreichbar. Die Gewerkschaft musste einschreiten, damit Gabriel zu seinem Recht kommen konnte.
Zufrieden dank guter Arbeitsbedingungen in Island
Die Rechte und das Einkommen von Arbeitnehmer:innen können also auch in Island durchaus ein Problemfeld sein. Doch warum scheint dann gerade in einem unter internationalem Konkurrenzdruck stehenden Unternehmen, das in kalten Hallen Fisch zerlegt und verpackt, jede Person Zufriedenheit mit ihrem Arbeitsplatz auszustrahlen? „Das war schon bei der Gründung von Leó Seafood der Leitgedanke“, sagt Bjarni Þór Georgsson. Heute Fotograf, hat er in der Vergangenheit selbst Erfahrungen mit der Fischverarbeitung gesammelt. Nämlich in einem Betrieb, den der spätere Gründer von Leó Seafood im Jahr 2001 verlassen sollte. Er wollte ein Unternehmen nach seinen Vorstellungen aufbauen. Das tat er. Gemeinsam mit weiteren Beschäftigten, wie der ebenfalls dort arbeitenden Mutter von Bjarni Þór oder auch der heutigen gewerkschaftlichen Vertrauensperson Ragnheiður. Und es ist ihm geglückt.
„Diese Firma sollte ein familiärer Ort werden. An dem alle Beteiligten auf Augenhöhe sind und sich wohl fühlen.“ Erinnert sich Bjarni Þór, „Und wenn ich heute darauf blicke, hat sich der Vorsatz offenbar eingelöst.“ Gunnar Páll, der Projektleiter, bekräftigt das. „Unser Anspruch ist, dass unsere Leute ihr ganzes Berufsleben hier verbringen können. Zufrieden und ohne von der Arbeit in Mitleidenschaft gezogen zu werden.“ Dass der Kostenfaktor Arbeit letztlich auch ein Erfolgsfaktor ist, daran erinnert Maria Wiktoria. „Sicherheit, Gesundheit … und gutes Einkommen. Das ist es letztlich, weshalb wir alle hier sind.“