Der 1959 in Graz geborene Wissenschafter studierte zunächst Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien und gelangte über einen Postgraduate-Lehrgang am Institut für Höhere Studien zur Soziologie. Zwischen 1991 und 2013 war Flecker Wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA), wo er weiterhin im Vorstand sitzt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitsorganisation, Arbeitsbeziehungen, Beschäftigungssysteme, Internationalisierung, öffentliche Dienstleistungen sowie Populismus.
Arbeit&Wirtschaft: Sie sprechen sich für eine Arbeitszeitverkürzung – idealerweise auf 30 Stunden – aus. Der Trend geht in eine völlig andere Richtung. Träumen Sie gerne?
Jörg Flecker: Der langfristige Trend der Arbeitszeitverkürzung im 20. Jahrhundert ist in den 1980er-Jahren gestoppt worden. Er geht jetzt eher in Richtung Verlängerung, aber das ist eine Frage der Kräfteverhältnisse und der politischen Dynamiken. Es ist ja nicht ausgemacht, dass es mit langen Arbeitszeiten weitergehen muss.
Wollen die Menschen überhaupt weniger arbeiten?
Ja. Sehr viele, die lange arbeiten, wollen deutlich kürzer arbeiten, und jene, die kurze Teilzeit arbeiten, würden gerne mehr arbeiten, weil sie dann entsprechend mehr verdienen oder vielleicht auch mehr arbeiten wollen. Die durchschnittliche Arbeitszeit, wo es nur wenige gibt, die länger oder kürzer arbeiten wollen, liegt bei 32 Stunden. Wenn es dann Richtung 45, 50 Stunden geht, wollen die Menschen im Durchschnitt viele Stunden weniger arbeiten.
Österreich hat eine hohe Teilzeitquote. Welche Motive spielen dabei eine Rolle?
Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten bei den Frauen ist sehr hoch, er liegt fast bei 50 Prozent. Teilzeitarbeit ist auch nicht immer freiwillig, vor allem, wenn es darum geht: Findet man überhaupt einen Vollzeitjob oder gibt es Kinderbetreuung?
Ich sage immer: Es gibt die freiwillige Teilzeit und die unter Anführungszeichen freiwillige Teilzeit. Es gibt schon jene, die lieber kürzer arbeiten wollen, weil sie eh genug verdienen. Und dann gibt es die, die unter Anführungszeichen freiwillig Teilzeit arbeiten. Sie sind dazu gezwungen, weil das öffentliche Angebot an Kinder-betreuung oder Altenpflege nicht ausreichend ausgebaut ist oder die Öffnungszeiten nicht passen. Ein weiterer Grund sind die unterschiedlichen Einkommen von Männern und Frauen, wo sich das Paar überlegen muss, wie es finanziell über die Runden kommt.
Gilt das selbst bei gleich Qualifizierten?
Ja, auch dann gibt es einen Unterschied. Der Hauptgrund ist aber schon, dass Frauen nicht die gleichen Berufe ausüben. Sie müssen also die Arbeitszeit aufgrund von Verpflichtungen gegenüber Familie und Haushalt verkürzen. Bei den Männern sind eher Weiterbildung und anderes Motive für Teilzeit.
Einerseits arbeiten die Menschen also wegen anderer Verpflichtungen Teilzeit, andererseits schlichtweg wegen höherer Lebensqualität. Bei den Erhebungen über Zeitverwendung kommt raus, dass Frauen, die Teilzeit arbeiten, in Summe – also wenn man die unbezahlte Arbeit zu Hause miteinbezieht – länger arbeiten als Männer, die Vollzeit arbeiten. Da ist es natürlich eine höhere Lebensqualität, wenn man für die Erwerbsarbeit weniger Zeit aufwenden muss – wenn man es sich leisten kann.
Dann gibt es wiederum die Älteren über 50 oder 55, die ganz gerne in Teilzeit sind, weil sie sagen, sie halten die Belastungen in der Arbeit nicht mehr so leicht aus. Die Motive sind also unterschiedlich, aber es gibt recht viele Wünsche in Richtung kürzere Arbeitszeit.
Sie haben einmal gesagt, dass man rein rechnerisch mit Arbeitszeitverkürzung die Zahl der Arbeitslosen halbieren könnte. Warum macht man das dann nicht?
Der Widerstand gegen Arbeitszeitverkürzung kommt primär, wenn nicht ausschließlich, von den Unternehmen und den Verbänden der Arbeitgeberseite. Arbeitszeitverkürzung ist mit Kosten und mit organisatorischem Aufwand verbunden. Die Vorteile, die den Firmen daraus erwachsen, werden da weniger gesehen.
Die Vorteile sind, dass die Leute gesünder sind, dass sie motivierter sind, dass bei der Arbeit möglicherweise mehr rauskommt. Aber das wird in der Diskussion eher ausgeblendet. Es gibt ja Versuche, wo Firmen bewusst auf einen Sechsstundentag gehen und damit ganz gute Erfahrungen machen, weil sie weniger Krankenstände haben und die Leute ausgeruhter sind. Die Kosten von Krankenständen können also reduziert werden und die Leute sind produktiver – trotzdem sind die Arbeitszeiten für die Firmen teurer.
Und doch würden Sie dies den Firmen abverlangen wollen?
Es ist immer die Frage, wie der gesellschaftliche Reichtum verteilt werden soll. Das sind gesellschaftspolitische Entscheidungen oder normative Fragen, das ist wissenschaftlich nicht zu beantworten. Man kann aus wissenschaftlicher Sicht nur darauf hinweisen, dass es Irrationalitäten gibt, Widersprüche in der Gesellschaft: Dass man auf der einen Seite Leute hat, die sehr lange arbeiten und dadurch krank werden, und auf der anderen Seite viele Leute, die arbeitslos sind und deswegen krank werden. Das ist ein Zustand, der gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht befriedigend ist.
Zugleich wird Druck noch deutlich erhöht. Wem bringt das was?
Das ist eine Frage der Verteilung. Der private Reichtum wächst, während die niedrigen Einkommen eher zurückgehen und die Leute Schwierigkeiten haben, bei steigenden Lebenshaltungskosten über die Runden zu kommen. Die nicht mehr weitergeführte Arbeitszeitverkürzung heißt ja auch eine Umverteilung hin zu den Reichen. Denn Firmen sparen sich dadurch Kosten und damit wachsen die Gewinne. Die Arbeitszeitverkürzung war immer eine Verteilungsfrage und ist normalerweise eine Umverteilung.
Gilt das auch für Flexibilisierung?
Die Flexibilisierung bringt eine Umverteilung hin zu den Gewinneinkommen zulasten der Löhne und Gehälter.
Ist mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt denn automatisch schlecht?
Flexibilisierung ist ein schwieriges Wort, denn es klingt zunächst einmal positiv. Man muss genauer schauen, was damit gemeint ist. Eigentlich ist damit gemeint, und in der Praxis wird es auch so gehandhabt, dass Arbeitskräfte dann eingesetzt werden, wenn es betrieblich notwendig oder gewünscht ist. Das heißt, dass die Arbeitszeit schwanken kann, je nach Bedarf.
So können Kosten eingespart werden, weil man im Durchschnitt weniger Leute braucht. Dann arbeiten alle aber immer am Anschlag. Das heißt zugleich höhere Belastung und weniger Planbarkeit der Arbeitszeit, und das ist ein großes Problem für die Vereinbarkeit. Es wird immer so getan, als wären flexible Arbeitszeiten nützlich für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das kann im Einzelfall stimmen, aber die Planbarkeit ist wesentlich wichtiger. Damit sind starre Arbeitszeiten hilfreicher, um die Kinderbetreuung arrangieren zu können. Nur wenn man sich selber die Arbeitszeit wirklich nach privaten Bedürfnissen einteilen kann und das tut, bringt die Flexibilität Vorteile für die Vereinbarkeit. Das ist jedoch die Ausnahme.
Firmen klagen, der Arbeitsmarkt in Österreich sei so starr. Stimmt das so?
Im internationalen Vergleich nicht. In Österreich ist in hohem Ausmaß Arbeitszeitflexibilität möglich, über Bandbreitenmodelle, über Gleitzeit. Es gibt verschiedene Formen, die auf Kollektivvertragsebene oder Betriebsebene noch ausgeweitet werden können. Darüber hinaus gibt es weitere Flexibilitätsmöglichkeiten über Überstunden. Nur diese kosten etwas. Es geht in der Auseinandersetzung nicht wirklich um Flexibilität, sondern darum, ob Flexibilität etwas kostet.
Und dann ist die Frage: Gibt es einen wirtschaftlichen Anreiz für die Unternehmen, vorauszuplanen und zu vermeiden, dass die Leute auf Abruf arbeiten müssen, oder ist das egal? Dazu kommt die Konkurrenz. Die Firmen sagen ja: Ich habe bessere Chancen, einen Auftrag zu bekommen, wenn ich einen kürzeren Fertigstellungstermin versprechen kann. Das heißt, ich muss die Beschäftigten in der Zeit, in der der Auftrag abgearbeitet wird, länger einsetzen können. Da hat der einzelne Betrieb Recht, wenn er sagt, dass das auch Arbeitsplätze sichert. Aber wenn ein Betrieb einen kürzeren Fertigstellungstermin verspricht, dann müssen das die anderen auch. Im Endeffekt entsteht kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz, es arbeiten nur alle länger und unter mehr Druck.
Daher muss es Begrenzungen geben, und diese werden heute als wirtschaftlich schädlich hingestellt. Das sind sie aber nicht, sondern sie sind auch für die Unternehmen vorteilhaft, weil sie sich nicht ruinös konkurrenzieren müssen. Und für die Arbeitenden sind Arbeitszeitgrenzen buchstäblich lebensnotwendig. Nur wird dieses Denken immer mehr verdrängt.
Eigentlich spricht man heute in der öffentlichen Diskussion meist über die Interessen einer kleinen Minderheit, nämlich über die, die ein Unternehmen führen oder Kapitaleinkommen besitzen. Die überwiegende Mehrheit von über 90 Prozent, zu der auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehören, kommt da kaum mehr vor.
Das Ende der Arbeit wurde schon oft prognostiziert. Ist damit überhaupt noch zu rechnen?
Na schon. Wir haben vor 20, 30 Jahren die Diskussion über die Automation in der Industrie gehabt, und die Industriearbeitsplätze sind weniger geworden. Der Dienstleistungsbereich ist gewachsen, aber in vielen Sektoren gibt es massive Rationalisierungen – denken wir an die Banken, wo viele Filialen geschlossen werden. Im Handel geht es jetzt wieder massiv in Richtung Rationalisierung. Noch dazu machen die Konsumentinnen und Konsumenten viel mehr selber als früher und arbeiten unbezahlt für Firmen, aber auch für den öffentlichen Dienst. Auch im öffentlichen Bereich haben wir schon längere Zeit die Austeritätspolitik und den damit verbundenen Aufnahmestopp im öffentlichen Dienst.
Aber ist es wirklich ein Verlust, wenn Menschen nicht mehr an der Kasse sitzen müssen?
Na ja, es ist ein großer Verlust, wenn die Person stattdessen arbeitslos ist und Arbeitslosigkeit in der Gesellschaft stigmatisiert ist, mit zu wenig Geld und mit zu viel Zeit einhergeht. Wenn man in der Zeit was Sinnvolles tun kann, genug Geld zur Verfügung hat und gesellschaftlich anerkannt ist, schaut es anders aus. Aber das ist nicht der Fall. Damit ist für die meisten ein entfremdeter Arbeitsplatz an der Kasse im Supermarkt besser als keiner. Das ist das Problem. Dieser Arbeitsplatz müsste ja auch nicht so ausschauen wie jetzt, er könnte menschenwürdiger sein.
Auch im Zusammenhang mit Industrie 4.0 und Digitalisierung heißt es dann: Der Mensch wird frei für kreative Tätigkeiten. Das hat es vor 50 Jahren auch schon geheißen. Aber das ist nicht Sinn und Zweck der Übung. Sinn und Zweck der Übung ist es, Kosten einzusparen, und nicht die Arbeit zu humanisieren. Das wäre eigentlich eine Forderung der Gewerkschaften.
Der Punkt ist immer, dass alle diese Themen – die Arbeitszeit, die Arbeitsgestaltung – umkämpft sind, seit es den Kapitalismus gibt. Und der Ausgang ist immer ein Ergebnis von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, von Kämpfen. Insofern ist die Frage, wie Digitalisierung die Arbeit verändert, falsch gestellt. Die Digitalisierung verändert einmal gar nichts, sondern da gibt es Akteure, die Entscheidungen über den Einsatz von Technik treffen, über ihre Gestaltung und Entwicklung. Das sind in Wirklichkeit hochpolitische Entscheidungen.
Und diese haben entsprechende Folgen, die auch dadurch beeinflusst werden, was die Wirtschaftsseite durchsetzt und was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchsetzen, einzeln oder gemeinsam. In der politischen Situation in Österreich im Moment habe ich den Eindruck, dass da etwas wenig von den Gewerkschaften und Arbeiterkammern zu hören und zu spüren ist.
Ist Arbeitslosigkeit wirklich die Hängematte, als die sie oft dargestellt wird?
Das ist völlig absurd. Die Arbeitslosigkeit entsteht ja nicht dadurch, dass Leute nicht arbeiten wollen, sondern dass es zu wenige Arbeitsplätze gibt. Bei steigender Arbeitslosigkeit haben wir immer die Diskussion gehabt, dass die Leute nicht arbeiten wollen. Das dient wohl auch dazu, diesen gesellschaftlichen Skandal der Arbeitslosigkeit zu verdecken. Jetzt hat man diese Diskussion bei sinkender Arbeitslosigkeit noch dazu.
Ich habe das Gefühl, dass die Politik der jetzigen Regierung generell in die Richtung geht, Public Relations zu betreiben und nicht Politik zu machen. Dafür werden dann auch Maßnahmen gesetzt, die Probleme suggerieren. Zum Beispiel werden Maßnahmen gesetzt, die sich gegen Arbeitslose richten, um zu suggerieren, dass die Arbeitslosen ein Problem wären. Dabei ist der Druck schon in den letzten 10, 15 Jahren erhöht worden. Jetzt wird noch einmal Druck gemacht, um primär Stimmung zu machen.
Das bringt für die Gesellschaft keinen Vorteil. Insgesamt wäre es günstiger, wenn sich die Arbeitslosen besser aussuchen könnten, welche Arbeit sie annehmen. Das wäre volkswirtschaftlich sinnvoller, weil eher die richtigen Leute auf den richtigen Arbeitsplatz kommen und die Qualifikationen genutzt werden. Durch mehr Druck werden Qualifikationen mutwillig zerstört, weil man die Leute auf Arbeitsplätze setzt, wo ihr Wissen und ihre Erfahrungen nicht gefragt sind. Damit geht das Wissen aber auch verloren.
Sonja Fercher
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 3/18.
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