Am 24. Mai 2018 erscheint Stephan Schulmeisters erstes und nach seiner Aussage einziges Buch „Der Weg zur Prosperität“. In seinem Lebenswerk, an dem er rund 30 Jahre arbeitete, erklärt er den „marktreligiösen“ Charakter der neoliberalen Theorien und entwirft eine neue „Navigationskarte“ für den Weg zur Prosperität in einem gemeinsamen Europa..
Arbeit&Wirtschaft: Die türkis-blaue Regierung will den wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort in die Verfassung heben. Wie bewerten Sie dieses Vorhaben?
Stephan Schulmeister: Eher sehr kritisch, denn in die Verfassung gehören die grundlegenden Ziele unseres Gemeinwesens. Viel eher würde für mich das Prinzip der Sozialstaatlichkeit als Grundsatz in die Verfassung gehören. Wirtschaft ist ein unglaublich wichtiger Bereich des gesellschaftlichen Lebens, der unserem Wohlergehen dienen soll. Aber sie ist letztlich nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um gutes Leben zu ermöglichen. Daher bin ich dagegen, den Wirtschaftsstandort als Staatsziel in die Verfassung zu nehmen. Aber wie es scheint, werden sie ohnehin dafür keine Verfassungsmehrheit bekommen.
Falls doch, würde das negative Auswirkungen für ArbeitnehmerInnen haben?
Kann sein, aber das halte ich für eher unwahrscheinlich. Es handelt sich dabei um eine Art von „Wischiwaschi-Bestimmung“, denn in dieser Allgemeinheit kann man nicht so ohne Weiteres ganz konkrete Schlussfolgerungen ziehen. Es ist eher eine ideologische Botschaft: Für uns ist die Wirtschaft etwas ganz Hochrangiges. Genau aus diesem Grunde würde ich vorschlagen, man möge den Grundsatz der Sozialstaatlichkeit in die Verfassung nehmen. Denn Sozialstaatlichkeit ist etwas, das tatsächlich einen Eigenwert hat. Da geht es darum, dass die Absicherung gegen die fundamentalen Risken des menschlichen Lebens – wie Krankheit, Unfall, Armut im Alter, Behinderung, Arbeitslosigkeit – durch die Solidargemeinschaft zu erfolgen hat. Wenn man dieses Prinzip in der Verfassung verankern würde, dann würde sehr bald klar sein, dass dieses Ziel höherwertiger ist als zum Beispiel jenes eines hohen Wirtschaftswachstums.
Ein weiterer großer Punkt auf der Agenda der Bundesregierung ist der Bürokratieabbau und die Deregulierung für Unternehmen. Welche Wirkung hat das auf den Wirtschaftsstandort?
Es kommt immer darauf an, welche Einzelmaßnahmen entsprechend dieser Leitlinie gesetzt werden. Wenn die Regierung zum Beispiel unter dem Vorwand, man wolle den bürokratischen Aufwand in der Sozialversicherung reduzieren, de facto die Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger reduzieren würde, dann wäre offenkundig, dass diese Regierung mit dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit auf Kriegsfuß steht. Beispiel: Man kann unter dem Titel Bürokratieabbau von der AUVA fordern, sie möge 500 Millionen Euro einsparen. Aufgrund der konkreten Ausgabenstruktur ist aber klar, dass ein solches Einsparungsziel nicht durch Bürokratieabbau erreicht werden kann, sondern nur indem Leistungen für die Versicherten geschmälert werden. Damit werden gleichzeitig die Unternehmer entlastet, weil sie die AUVA ausschließlich allein finanzieren.
Wie würden Sie das Regierungsprogramm im Allgemeinen bewerten?
Aus meiner Sicht kann man generell sagen, dass das Regierungsprogramm ganz klar neoliberale Züge trägt. Aber in der Vermarktung und Verpackung wird alles vermieden, um diesen an sich richtigen Anschein zu erwecken. Das heißt, in den Formulierungen bekennt man sich immer wieder zu „unserem Sozialstaat“, man spricht von „wir alle miteinander“, „gemeinsam“ und so weiter. Die Sprache ist sehr stark darauf ausgerichtet, Solidarität zu vermitteln. Die konkreten Inhalte sind aber so, dass geradezu systematisch Menschen umso mehr benachteiligt werden, je schlechter ihre soziale Stellung ist. Das beginnt bei den Kürzungen bei Flüchtlingen und Asylberechtigten. Hier muss man immer wieder betonen: Wer heute in Österreich Asyl bekommt, der hat schon Schreckliches mitgemacht.
Flüchtlinge befinden sich in der gesellschaftlichen Rangordnung am unteren Ende. Dann kommen die GeringverdienerInnen, mehrheitlich Österreicherinnen und Österreicher, die bis zu einem Monatseinkommen von etwa 1.400 Euro brutto von den Steuersenkungen oder Senkungen des Arbeitslosenversicherungsbeitrages nichts haben. Und je weiter wir nach oben bis zu den Besitzern der Kapitalgesellschaften gehen, desto größer werden die Vergünstigungen, siehe die angekündigte Senkung der Körperschaftssteuer. Das Schlaue – würde ich fast sagen – ist, dass diese systematische Verschärfung der sozialen Ungleichheit sehr geschickt in eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen verpackt wird. Daher ist sie nicht so ohne Weiteres für die allgemeine Öffentlichkeit erkennbar.
Ist es nicht auch zynisch, Menschen vorzuwerfen, dass sie sich nicht gut genug um eine neue Arbeit bemühen, und ihnen jegliche Absicherung zu nehmen, wenn es auf der anderen Seite offensichtlich nicht genug Jobs für alle gibt?
Natürlich ist das zynisch, aber das ist quasi das Wesen einer neoliberalen Politik. Das haben bedauerlicherweise schon die deutschen Sozialdemokraten und Grünen vor etwa 15 Jahren umgesetzt und damit die neoliberale Grundannahme übernommen. Die Grundvorstellung lautet: Zwischen dem Apfelmarkt und dem Arbeitsmarkt gibt es keinen Unterschied. Wenn der Apfelhändler auf seinem Angebot sitzen bleibt, dann hat er eben einen zu hohen Preis für die Äpfel verlangt. Und wenn die Arbeitslosen auf ihrem Angebot sitzen bleiben, dann sind sie eben zu teuer. Und damit man Lohnsenkungen durchsetzen kann, muss man zuallererst das Arbeitslosengeld senken.
Wie meinen Sie das?
Ein Gedankenexperiment: Würde man jedem Arbeitslosen 1.000 Euro zahlen, dann würde niemand bereit sein, für weniger als 1.000 Euro zu arbeiten. Das ist, wenn man so will, der wirtschaftstheoretische Hintergrund dieser ganzen Debatten. Als eine Partei, die früher auch mal christlich-soziale Wurzeln hatte, hat die ÖVP natürlich ein Problem, diesen unsozialen Charakter zu verdecken. Das tut sie mit einer Sprache, die bei den Rechtspopulisten den Begriff „Sozialschmarotzer“ umfasst. Dieses Wort würde der Sebastian Kurz nie in den Mund nehmen, und so spricht man halt abgemildert von „Durchschummlern“.
Man unterstellt die ganze Zeit, wenn die Leute sich nur bemühen würden, könnten sie eine Arbeit haben. Das ist vollkommen falsch. Die über 50-Jährigen sind dafür geradezu exemplarisch. Die Regierung hat es geschafft hat, eine wirklich vernünftige Aktion – die Aktion 20.000 für Personen über 50 – nicht mal ins Laufen kommen zu lassen, ohne dass ihr bisher daraus ein größerer politischer Schaden erwachsen wäre.
Macht die Regierung das Gleiche in puncto Arbeitszeitflexibilisierung und 12-Stunden-Arbeitstag?
Ja, natürlich. Der Witz der neoliberalen Wirtschaftstheorie besteht ja darin, dass sie allgemeine Gesetze behauptet, um partikuläre Interessen durchzusetzen. Das gilt generell für den Sozialstaat. Man argumentiert, dass, wenn die Sozialleistungen zu großzügig sind, die Menschen zu wenig Anreiz haben, arbeiten zu gehen. Daher müsse man das Arbeitsrecht, den Kündigungsschutz und die Arbeitszeitregelungen – Stichwort Zwölfstundentag – lockern. Alle diese Argumente dienen im Konkreten einer Umverteilung zugunsten der Unternehmer. Dabei kann man durchaus argumentieren, dass es in bestimmten Situationen, etwa bei besonderen Auftragsspitzen, zweckmäßig erscheint, auf einen Zwölfstundentag zu gehen. Wenn das aber gleichzeitig mit längeren Durchrechnungszeiträumen verknüpft ist, dann wird einfach die Arbeitskraft effizienter eingesetzt. Wenn es dann nicht zusätzliche Leistungen für die Arbeitnehmer gibt, etwa zusätzlich eine Urlaubswoche, bedeutet das, dass per saldo die Unternehmer gewinnen werden.
Wenn Sie das im Ganzen analysieren: Wie wirken sich die Pläne der Regierung auf die Verteilung aus?
Wenn wir die verschiedenen Maßnahmen – angefangen von der Kürzung der Mindestsicherung über die Streichung der Aktion 20.000, die Streichung des Beschäftigungsbonus, die mögliche Einführung des Arbeitslosengeldes neu bzw. die Streichung der Notstandshilfe bis hinauf zur Senkung der Körperschaftssteuer – im Ganzen betrachten, ist ganz offensichtlich, dass hier die Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen, aber auch der Lebenschancen erhöht wird. Das ist umso problematischer, als gleichzeitig fundamentale Bedingungen, um überhaupt für junge Menschen eine Entfaltung, ein selbstständiges Leben zu ermöglichen, immer weniger gewährleistet sind.
Von welchen Bedingungen sprechen Sie hier?
Damit meine ich den zweiten wichtigen Bereich für junge Menschen. Das ist neben der Arbeit das Wohnen. Es wäre unglaublich dringend notwendig, den gemeinnützigen Wohnbau massiv zu fördern, egal ob in Form von sozialem Wohnbau der Gemeinden oder in Form von Wohnungsgenossenschaften. Denn anders können wir den Anstieg der Mieten nicht in Grenzen halten. Wien war und ist im internationalen Vergleich deshalb noch immer eine relativ günstige Stadt zum Wohnen, weil der Anteil der Gemeindewohnungen in keiner europäischen Großstadt größer ist als in Wien.
Aber statt den gemeinnützigen Wohnbau zu fördern, hat die Regierung bisher nur einen einzigen Akt gesetzt, den ich tatsächlich als Bosheits-Akt bezeichnen würde: Der Finanzminister hat erklärt, eine Haftung des Bundes für 500 Millionen Euro an Wohnbaukrediten nicht mehr zu geben, also zurückzuziehen. Dabei hätte das den Bund überhaupt nichts gekostet. Das geht in die Richtung – und das ist die Gefahr, die ich sehe –, dass die private Immobilienwirtschaft zulasten des gemeinnützigen Wohnbaus begünstigt wird. Und das wiederum steht vermutlich und bedauerlicherweise in Zusammenhang mit der Liste der Spender für den Wahlkampf von Sebastian Kurz.
Diese Ungleichheit, die Sie angesprochen haben, hat die ein Geschlecht?
Die Ungleichheit hat ganz viele verschiedene Dimensionen: Inländer, Ausländer, Ungleichheit in unterschiedlichen Berufsgruppen, Stichwort Landwirte, Besitzer von Kapitalgesellschaften, und eine ganz wichtige Dimension ist natürlich die des Geschlechts. Es ist ja unbestritten, dass wir in der Bezahlung zwischen Männern und Frauen keine Gleichheit haben. Frauen verdienen für die gleiche Arbeit deutlich weniger als Männer. Es gibt einen Bereich, wo das nicht ausgeprägt ist, das ist der öffentliche Dienst. Aber auch da soll eher eingespart werden, statt in die Sozialarbeit, die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund, in Kindergärten, Volksschulen, das mittlere und höhere Bildungssystem zu investieren. In all diesen Bereichen werden keine expansiven Maßnahmen gesetzt, obwohl sie gerade dort besonders wichtig wären. Das wird natürlich indirekt und langfristig auch die Ungleichheit erhöhen.
Gibt es ein Instrument, das der Ungleichheit entgegenwirken könnte? Was würden Vermögenssteuern bringen?
Das liegt in der Natur der Sache, dass eine Vermögenssteuer die Ungleichheit verringern würde. Ideologisch ist das bei dieser Regierung natürlich nicht zu erwarten. Zu den faszinierendsten Dingen, die meiner Ansicht nach noch viel zu wenig beachtet werden, gehört, dass die FPÖ, also die Partei, die sich immer als jene im Dienste der kleinen Leute versteht, sich schon seit Jahren an den Empfehlungen des österreichischen Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek orientiert. Der wiederum ist einer der Vordenker des Neoliberalismus gewesen. Ich bin immer verblüfft, dass die Präsidentin des Hayek-Instituts, Frau Dr. Barbara Kolm, von der freiheitlichen Partei für alle möglichen Funktionen von der Rechnungshofpräsidentin bis zur Gutachterin in Sachen Budget herangezogen oder jedenfalls vorgeschlagen wird.
Die neoliberale Ausrichtung zeigt sich natürlich auch bei ganz konkreten Vorschlägen wie jenen einer Vermögenssteuer, gegen die die Partei der kleinen Leute immer schon eingetreten ist, obwohl sie ganz offensichtlich den kleinen Leuten nützen würde. Denn man würde sich alle möglichen Einsparungen im Sozialbereich ersparen, wenn die wirklich Vermögenden einen nennenswert höheren Beitrag zum Gemeinwesen leisten würden.
Welche Rolle spielt der Sozialstaat? Spielt er überhaupt noch eine Rolle?
Der Sozialstaat ist vielleicht das beste Beispiel für diese sehr geschickte Strategie, die ich anfangs angesprochen habe: das Marketing, die Werbung, in der die Verpackung ganz anders gestaltet wird als der Inhalt. Das war schon beim Wahlprogramm des Sebastian Kurz so, aber auch bei den Freiheitlichen. Dort wird geradezu ein hohes Lob auf den Sozialstaat gesungen und man bekennt sich zum Sozialstaat, aber die konkreten Maßnahmen bis hin zur drohenden Auflösung der AUVA weisen genau in die Gegenrichtung. Denn was ist Sozialstaatlichkeit anderes als institutionalisierte Solidarität? Ich möchte daran erinnern, dass der Begriff der Krankenkasse aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt. Warum? Weil die Krankenkasse eine Kassa war. Das war eine Schachtel, wo jeder Arbeiter im Unternehmen jede Woche ein paar Pfennige oder Heller eingezahlt hat. Sie haben sich also selber organisiert, damit für den Fall, dass einer von ihnen krank wird, er daraus eine kleine Unterstützung bekommen kann. Das ist der Ursprung von Sozialstaatlichkeit.
Ab den 1880er-Jahren hat man diesen Grundgedanken institutionalisiert und die allgemeine Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die Pensionsversicherung etc. geschaffen. Und es gibt nichts, was dem neoliberalen Denken unangenehmer wäre als der Sozialstaat. Aber hier sehen wir, wenn man so will, das Schlaue der Regierung, dass sie auf der Ebene der Propaganda, der Werbung eben nicht zur Praxis ihrer Politik steht. Fürs Schaufenster hält sie immer gute Worte für den Sozialstaat bereit, aber in den konkreten Maßnahmen möchte sie den Sozialstaat schwächen.
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/18.
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