Interview: Sozialstaat – Der Dorn im Auge der Neoliberalen

Inhalt

  1. Seite 1 - Wirtschaftsstandort als Staatsziel in die Verfassung?
  2. Seite 2 - Das Regierungsprogamm
  3. Seite 3 - Ungleichgewicht und wie man ihm entgegenwirken könnte
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Der Ökonom Stephan Schulmeister über ein Regierungsprogramm, das den Sozialstaat schwächen will, und eine Regierung, die in ihrer Propaganda genau das Gegenteil zu vermitteln weiß.

Wie würden Sie das Regierungsprogramm im Allgemeinen bewerten?

Aus meiner Sicht kann man generell sagen, dass das Regierungsprogramm ganz klar neoliberale Züge trägt. Aber in der Vermarktung und Verpackung wird alles vermieden, um diesen an sich richtigen Anschein zu erwecken. Das heißt, in den Formulierungen bekennt man sich immer wieder zu „unserem Sozialstaat“, man spricht von „wir alle miteinander“, „gemeinsam“ und so weiter. Die Sprache ist sehr stark darauf ausgerichtet, Solidarität zu vermitteln. Die konkreten Inhalte sind aber so, dass geradezu systematisch Menschen umso mehr benachteiligt werden, je schlechter ihre soziale Stellung ist. Das beginnt bei den Kürzungen bei Flüchtlingen und Asylberechtigten. Hier muss man immer wieder betonen: Wer heute in Österreich Asyl bekommt, der hat schon Schreckliches mitgemacht.

Flüchtlinge befinden sich in der gesellschaftlichen Rangordnung am unteren Ende. Dann kommen die GeringverdienerInnen, mehrheitlich Österreicherinnen und Österreicher, die bis zu einem Monatseinkommen von etwa 1.400 Euro brutto von den Steuersenkungen oder Senkungen des Arbeitslosenversicherungsbeitrages nichts haben. Und je weiter wir nach oben bis zu den Besitzern der Kapitalgesellschaften gehen, desto größer werden die Vergünstigungen, siehe die angekündigte Senkung der Körperschaftssteuer. Das Schlaue – würde ich fast sagen – ist, dass diese systematische Verschärfung der sozialen Ungleichheit sehr geschickt in eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen verpackt wird. Daher ist sie nicht so ohne Weiteres für die allgemeine Öffentlichkeit erkennbar.

Ist es nicht auch zynisch, Menschen vorzuwerfen, dass sie sich nicht gut genug um eine neue Arbeit bemühen, und ihnen jegliche Absicherung zu nehmen, wenn es auf der anderen Seite offensichtlich nicht genug Jobs für alle gibt?

Natürlich ist das zynisch, aber das ist quasi das Wesen einer neoliberalen Politik. Das haben bedauerlicherweise schon die deutschen Sozialdemokraten und Grünen vor etwa 15 Jahren umgesetzt und damit die neoliberale Grundannahme übernommen. Die Grundvorstellung lautet: Zwischen dem Apfelmarkt und dem Arbeitsmarkt gibt es keinen Unterschied. Wenn der Apfelhändler auf seinem Angebot sitzen bleibt, dann hat er eben einen zu hohen Preis für die Äpfel verlangt. Und wenn die Arbeitslosen auf ihrem Angebot sitzen bleiben, dann sind sie eben zu teuer. Und damit man Lohnsenkungen durchsetzen kann, muss man zuallererst das Arbeitslosengeld senken.

Wie meinen Sie das?

Ein Gedankenexperiment: Würde man jedem Arbeitslosen 1.000 Euro zahlen, dann würde niemand bereit sein, für weniger als 1.000 Euro zu arbeiten. Das ist, wenn man so will, der wirtschaftstheoretische Hintergrund dieser ganzen Debatten. Als eine Partei, die früher auch mal christlich-soziale Wurzeln hatte, hat die ÖVP natürlich ein Problem, diesen unsozialen Charakter zu verdecken. Das tut sie mit einer Sprache, die bei den Rechtspopulisten den Begriff „Sozialschmarotzer“ umfasst. Dieses Wort würde der Sebastian Kurz nie in den Mund nehmen, und so spricht man halt abgemildert von „Durchschummlern“.

Man unterstellt die ganze Zeit, wenn die Leute sich nur bemühen würden, könnten sie eine Arbeit haben. Das ist vollkommen falsch. Die über 50-Jährigen sind dafür geradezu exemplarisch. Die Regierung hat es geschafft hat, eine wirklich vernünftige Aktion – die Aktion 20.000 für Personen über 50 – nicht mal ins Laufen kommen zu lassen, ohne dass ihr bisher daraus ein größerer politischer Schaden erwachsen wäre.

Macht die Regierung das Gleiche in puncto Arbeitszeitflexibilisierung und 12-Stunden-Arbeitstag?

Ja, natürlich. Der Witz der neoliberalen Wirtschaftstheorie besteht ja darin, dass sie allgemeine Gesetze behauptet, um partikuläre Interessen durchzusetzen. Das gilt generell für den Sozialstaat. Man argumentiert, dass, wenn die Sozialleistungen zu großzügig sind, die Menschen zu wenig Anreiz haben, arbeiten zu gehen. Daher müsse man das Arbeitsrecht, den Kündigungsschutz und die Arbeitszeitregelungen – Stichwort Zwölfstundentag – lockern. Alle diese Argumente dienen im Konkreten einer Umverteilung zugunsten der Unternehmer. Dabei kann man durchaus argumentieren, dass es in bestimmten Situationen, etwa bei besonderen Auftragsspitzen, zweckmäßig erscheint, auf einen Zwölfstundentag zu gehen. Wenn das aber gleichzeitig mit längeren Durchrechnungszeiträumen verknüpft ist, dann wird einfach die Arbeitskraft effizienter eingesetzt. Wenn es dann nicht zusätzliche Leistungen für die Arbeitnehmer gibt, etwa zusätzlich eine Urlaubswoche, bedeutet das, dass per saldo die Unternehmer gewinnen werden.

Wenn Sie das im Ganzen analysieren: Wie wirken sich die Pläne der Regierung auf die Verteilung aus?

Wenn wir die verschiedenen Maßnahmen – angefangen von der Kürzung der Mindestsicherung über die Streichung der Aktion 20.000, die Streichung des Beschäftigungsbonus, die mögliche Einführung des Arbeitslosengeldes neu bzw. die Streichung der Notstandshilfe bis hinauf zur Senkung der Körperschaftssteuer – im Ganzen betrachten, ist ganz offensichtlich, dass hier die Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen, aber auch der Lebenschancen erhöht wird. Das ist umso problematischer, als gleichzeitig fundamentale Bedingungen, um überhaupt für junge Menschen eine Entfaltung, ein selbstständiges Leben zu ermöglichen, immer weniger gewährleistet sind.

Foto (C) ÖGB-Verlag | Michael Mazoh

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