Interview mit Maurice Höfgen
Arbeit&Wirtschaft: Was ist eigentlich Inflation? Dass Preise steigen, dafür kann es ja verschiedenste Gründe geben.
Maurice Höfgen: Wir benützen den Inflationsbegriff inflationär. Klar, der Alltag wird teurer, und es ist für Oma Erna oder den Normalverbraucher erst einmal egal, ob der Begriff richtig gebraucht ist. Aber wenn man politisch etwas dagegen unternehmen will, benötigt man eine gute Diagnose, so wie ein Arzt, der kann ja auch nicht sagen: Sie sind krank, da machen wir eine Chemotherapie. Die typische Inflation ist: Die Wirtschaft läuft gut, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Unternehmen investieren, die Löhne steigen, die Gewerkschaften sind mächtig, das führt wiederum zu höheren Kosten der Unternehmen, und zu steigenden Preisen. Und das ist dann ein sich selbst verstärkender Prozess, wo höhere Preise wiederum zu noch höheren Preisen führen. Dann gibt es den Fall, dass einzelne Preise steigen, andere fallen. Das hat ja wiederum gar nichts mit Inflation zu tun. Und was wir jetzt sehen, ist auch keine klassische Inflation.
Sondern?
Was wir erleben, ist ein Preisschock. Ausgelöst wurde der durch zwei wichtige Preise, den Preisen von Energie und Rohstoffen. Das frisst sich dann durch die ganze Wirtschaft. Der Preisschock vergeht aber wieder, Gas etwa ist im Preis wieder gefallen. Diese Diagnose ist wichtig, wenn man darauf politisch reagieren will.
Nun sind die Preise um zehn, fünfzehn Prozent gestiegen, und viele Menschen haben massive Reallohnverluste und sehr viel Angst, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Es ist objektiv ein massives Problem, ökonomisch und psychologisch.
Absolut! Und die Unsicherheit wird noch verschärft, weil wir sehr ungeübt sind, Statistiken richtig zu lesen. Wenn im nächsten Monat die Preise verglichen mit heute fallen würden, würde das Statistische Zentralamt dennoch melden: ‚Verglichen mit dem Vorjahr sind die Preise um sieben Prozent gestiegen.‘ Wir haben dann das Gefühl, die Inflation geht immer weiter, sogar dann, wenn das nicht mehr der Fall ist.
Auch wenn die Inflation durch einen Preisschock ausgelöst worden ist, könnten wir aber mittlerweile doch in eine klassische inflationäre Spirale hineingeraten sein.
Wenn sechs, sieben zentrale Produkte – Energie, Rohstoffe – dramatisch teurer werden, dann steigen faktisch alle Preise. Danach versuchen alle, die heiße Kartoffel weiterzureichen. Sogar der kleine Friseur wird die Preise erhöhen, obwohl der ja nicht so extrem energie- oder rohstoffintensiv arbeitet. Aber er selbst muss ja von seinen Einnahmen leben, und seine Lebenshaltungskosten sind gestiegen. Deswegen frisst sich die Inflation durch die gesamte Wirtschaft durch.
Manche sprechen auch von Gierflation, und das ist nicht nur ein polemischer Begriff, sondern wird ja durch Untersuchungen gestützt, etwa der Nationalbanken. Die Preise werden durch Profite hochgetrieben.
Ich denke, das ist übertrieben. Die Gewinnmargen sind nicht gestiegen. Auch wenn die Profite gestiegen sind. Wenn die Margen gleich bleiben, die Preise aber nominell steigen, dann steigen auch die Profite nominell. In absoluten Zahlen steigen die Profite, aber nicht die Margen. Das hat einen bemerkenswerten Effekt. Allein, dass Unternehmen ihr Margenziel stabil halten wollen, führt zu profitgetriebener Inflation. Klar ist, die Unternehmen haben es leichter als die Beschäftigten, die Kosten weiterzugeben. Die Löhne steigen ja nicht in dem Maße. Und daher haben wir ein Verteilungsproblem.
Wie dramatisch ist das?
Das statistische Zentralamt weist für das Jahr 2022 einen Reallohnverlust von vier Prozent aus. Vier Prozent! Und das ist ja der Durchschnitt, was heißt: Bei einigen ist das weniger schlimm, bei anderen dafür noch sehr viel schlimmer. Die Betroffenheiten können da sehr, sehr schlimm sein, und sehr ungleich.
Was hätte man eigentlich besser machen können?
Man hat, etwa in Deutschland, immer versucht, so wenig wie möglich zu machen, aber nicht mehr. Und all das verteilt auf einen riesigen Blumenstrauß von Einzelmaßnahmen. Man hätte konsequenter agieren müssen. Mein Ratschlag wäre: Wenn der Wald brennt, dann schickt die Löschflugzeuge. Deswegen ist auch die Wirtschaft in Deutschland in einer sehr angespannten Situation. Im Frühjahr war der preisbereinigte Umsatz im Einzelhandel um zehn Prozent geringer als im Vorjahr. Zehn Prozent! Die Leute geben deutlich weniger aus, weil sie das Geld zusammenhalten müssen. Insolvenzen sind auf einem Rekordhoch.
Hat man zu wenig getan, um die Preise zu stabilisieren?
In Deutschland sind heute laut Umfragen 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr in der Lage, Rücklagen zu bilden und viele brauchen ihre Rücklagen gerade auf. Aber man muss schon sagen, dass die Regierungen pragmatischer waren als sie es sonst sind. Eine Preisbremse bei Strom und Gas, das war nicht nichts. Es wurde einiges gemacht, aber zu wenig.
https://twitter.com/MauriceHoefgen/status/1631661835718983680
Österreichs Finanzminister sagt, die Bekämpfung der Inflation sei Sache der Zentralbank, auch andere sehen das so. Die Zentralbank hat die Zinsen erheblich erhöht. Ist das ein Schuss ins Knie?
Wenn wir eine klassische Inflation hätten, also eine überhitzte Wirtschaft, dann könnte man mit Zinserhöhungen dagegen ankämpfen. Denn höhere Zinsen verteuern Investitionen, jeder Häuselbauer würde neu rechnen, so mancher Auftrag an Bauunternehmen würde nicht ergehen. Und so wird die Wirtschaft dann etwas abgekühlt und der Preisauftrieb nimmt ab. Aber höhere Zinsen machen Gas und Öl und Rohstoffe nicht billiger. Man kann sich aus einem Angebotsschock schwer raussparen, man muss eher versuchen, das Angebot zu erweitern oder ein alternatives Angebot zu schaffen. Höhere Zinsen heißt aber jetzt auch, dass jede Investition in Windkraft, Solarenergie usw. teurer wird. Und damit der Umstieg erschwert. Das ist absurd, wenn wir die hohen Energiepreise bekämpfen wollen. Wenn wir schon mehr Windkraft, Solar hätten, wäre der Strompreis nie so explodiert. Häuselbauer, die eine Anschlussfinanzierung brauchen, haben entweder sehr viel höhere Finanzierungskosten oder bekommen die Finanzierung überhaupt nicht mehr hin. Wir sehen also: Zinserhöhungen haben sehr viele massive Nebenwirkungen, aber kaum direkten nützlichen Einfluss auf das Problem. Im Grunde hat man die Zentralbank dazu gedrängt, die falschen Maßnahmen zu setzen. Das ist wie bei einem Maler, der kommt, und den Auftrag hat, die Wände anzustreichen, der aber nur Hammer und einen Nagel hat. Da wird er schwer die Wände anstreichen können. Auch die EZB hat keine guten Werkzeuge, um diese Inflation zu bekämpfen.
Liegt das Schlimmste noch vor uns? Kommt eine Wirtschaftskrise?
Bei der Inflation liegt das Schlimmste hinter uns, aber jetzt droht eine Wirtschaftskrise. Deshalb ist ein Sparpaket jetzt das Falscheste. In Deutschland verhindert der Finanzminister einen Industriestrompreis, den man temporär braucht, um die energieintensive Industrie zu stabilisieren. Das ist jetzt keine Austeritätspolitik mit der Brechstange, aber gemessen an dem, was nötig wäre, ist es falsch.