Arbeit&Wirtschaft: Alle zehn Jahre befragen Sie Beschäftigte und Betriebsrät:innen zum Thema Mitbestimmung. Gibt es in der aktuellen Auswertung überraschende Ergebnisse?
Eva Zeglovits: Wir haben 2.700 Belegschaftsvertreter:innen und 2.500 Arbeitnehmer:innen befragt, wie sie Partizipation im beruflichen Umfeld erleben. Zunächst hat es mich überrascht, wie groß der Wunsch nach einer betrieblichen Interessenvertretung tatsächlich ist. Vor allem in Firmen, wo es derzeit keinen Betriebsrat gibt, sehen die Beschäftigten den Bedarf. Die Daten zeigen, dass demokratische Mitbestimmung am Arbeitsplatz bei allen Beteiligten einen sehr hohen Stellenwert hat. Weiters hat mich überrascht, mit welcher unglaublichen Vielfalt an Inhalten und Themen unsere Betriebsrät:innen tagtäglich zu tun haben, und welche Bandbreite an Aktivitäten und Aufgaben sie erfüllen müssen.
Wo liegen die Herausforderungen?
Mit der Covid-Pandemie sind zu zahlreichen bestehenden Herausforderungen viele neue arbeitsrechtliche Themen hinzugekommen, mit denen sich Belegschaftsvertreter:innen auseinandersetzen müssen, beispielsweise passende Homeoffice-Regelungen, Datenschutz oder Kurzarbeit. Die Betriebsrät:innen brauchen heute eine breite sachliche Expertise, die in Körperschaften mit wenigen Mitgliedern nicht immer gut aufteilbar ist – das kann dann schon eine Herausforderung werden, denn die Erwartungshaltung der Belegschaft an die betriebsrätlichen Lösungskompetenzen ist durchgängig hoch.
Gibt es bestimmte Branchen, die auffallend selten über einen Betriebsrat verfügen?
In unseren Auswertungen zeigen sich gewisse Muster, beispielsweise, dass Personen in kleinen Betrieben oder Arbeitnehmer:innen mit Migrationshintergrund seltener in einer Firma mit Betriebsrat beschäftigt sind als andere. Das liegt aber vielfach an der Beschäftigtenstruktur gewisser Branchen und der Tatsache, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger in prekären oder schlecht abgesicherten Arbeitsverhältnissen stehen. Aus diesen Kausalitäten können wir ablesen, dass Betriebrät:innen instabile Beschäftigungsverhältnisse verhindern oder zumindest dagegenhalten können.
Sollte ein Betriebsrat so ähnlich zusammengesetzt sein wie die Belegschaft?
Nicht unbedingt, aber es ist zentral wichtig, dass Betriebsratskörperschaften so divers wie möglich sind. Die gesamte Belegschaft fühlt sich dann am besten vertreten, wenn der Betriebsrat bunt und unterschiedlich zusammengesetzt ist. Unsere Auswertungen zeigen, dass sich alle Gruppen von arbeitenden Menschen am besten vertreten sehen, wenn die Belegschaftsvertreter:innen ein breites Abbild unserer Gesellschaft darstellen. Optimalerweise sollte sich die Körperschaft also aus Frauen und Männern, aus Migrant:innen und Österreicher:innen sowie aus jungen und alten Kolleg:innen zusammensetzen. Je breiter der Betriebsrat aufgestellt ist, desto besser fühlen sich alle vertreten. Es ist auch demokratiepolitisch wichtig, Vertreter:innen aller Bevölkerungsschichten und Altersgruppen in die aktive Beteiligung hereinzuholen. Eine gute Durchmischung des Betriebsrats bringt eindeutig eine inhaltliche Schärfung, weil Kompetenzen und Wissen in einer großen Bandbreite vorhanden sind.
Sind unsere Betriebsräte bunt gemischt?
Nein, leider. Rund zwei Drittel sind Männer, rund die Hälfte ist über 50 Jahre alt. Frauen, Migrant:innen, Junge, Teilzeitkräfte und Menschen mit kurzer Beschäftigungsdauer sind in den Belegschaftsvertretungen unterdurchschnittlich vertreten. Frauen sind in vielen Bereichen der politischen Beteiligung, beim Besetzen von Ämtern oder Funktionen eher dazu bereit, kurzfristig mitzumachen. Langfristige Verantwortung wollen sie seltener übernehmen als Männer. Das kann damit zusammenhängen, dass Frauen ihr Wissen schlechter einschätzen als Männer, obwohl es objektiv gesehen nicht schlechter ist. Manche trauen sich die Vertretungsarbeit eventuell nicht zu, andere wägen ab, wie viel an unbezahlter Care-Arbeit sie bereits außerhalb der bezahlten Arbeit leisten, oder wie wichtig ihnen der Arbeitsplatz insgesamt ist. Junge Arbeitnehmer:innen sind zu Beginn ihrer Karriere häufig mit Wechseln und Unsicherheiten konfrontiert.
Man muss jungen Beschäftigten auch Zeit geben, um Erfahrungen zu sammeln, Problemstellungen zu erkennen und Lust für die Vertretungstätigkeit zu entwickeln. Für befristet Angestellte oder noch in Ausbildung Stehende ist es nicht immer sinnvoll, langfristige Verpflichtungen wie eine Kandidatur zum Betriebsrat einzugehen. Das überlegen sich viele erst dann, wenn sie in einem Betrieb „angekommen“ sind und vorhaben, zu bleiben. Betriebsrat wird man nicht „im Vorbeigehen“, das ist eine längerfristige Verpflichtung. Migrant:innen arbeiten oft in Branchen mit niedrigem Organisationsgrad. Sie brauchen eine gewisse Berufserfahrung, damit die Bedeutung der Belegschaftsvertretung für sie greifbar wird, weil viele von ihnen in Betrieben sozialisiert wurden, in denen Mitbestimmung kaum gelebt wird. Migrant:innen sind vielfach dazu bereit, für den Betriebsrat zu kandidieren, oft scheitert ihre Wahl an äußeren Umständen oder der Beschäftigtenstruktur. Wichtig ist, dass aktive Betriebsrät:innen erkennen, welche Gruppen in ihrem Gremium unterrepräsentiert sind und dann versuchen, diese zur aktiven Mitarbeit zu motivieren.
Wirkt betriebsrätliche Partizipation über die Arbeitswelt hinaus?
Ja, mit Sicherheit. Wir sehen beispielsweise, dass in Betrieben, wo der Betriebsrat für die Arbeiterkammerwahlen firmeninterne Wahlsprengel organisiert, die Wahlbeteiligung deutlich höher ist als in Bereichen, wo lediglich Unterlagen für die Briefwahl zugeschickt werden. Wo über die Wahl gesprochen wird, gehen viele Beschäftigte zusammen zur Wahl. Die höhere Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen ist messbar und demokratiepolitisch höchst bedeutsam. Menschen, die erfahren haben, dass sie durch Partizipation mitbestimmen können, geben ihre Stimme auch bei den Arbeiterkammerwahlen öfter ab, als unorganisierte Beschäftigte.
In Branchen oder Unternehmen mit Betriebsrat sehen wir
weniger instabile oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
Wie steht es um die Zufriedenheit der Betriebsrät:innen?
Der beste Indikator für eine hohe Zufriedenheit ist die Bereitschaft zur Wiederkandidatur, und die bildet sich in unserer Studie in einem sehr hohen Ausmaß ab. Ablesbar ist auch ein Mix zwischen hohem Zeitdruck und breiten thematischen Belastungen, denen die Betriebsrät:innen ausgesetzt sind. Dennoch bleiben die meisten bei ihrer Verpflichtung und legen das Mandat erst ab, wenn sie in Pension gehen. Betriebsrät:innen stehen unter hohem Druck, sie befinden sich häufig in leicht konfliktbeladenen Situationen, müssen verhandeln und hinnehmen, dass man bei der hohen Komplexität vieler Themen nicht jede Antwort oder Lösung gleich parat haben kann. Manche müssen mit der Geschäftsleitung um jeden Millimeter kämpfen, wenn es darum geht, neue Regelungen abzustecken. Viele erleben das als konstruktiv, manche fühlen sich aber überfordert und haben das Gefühl, sprichwörtlich Wände einreißen zu müssen. Das macht es manchmal schwieriger, Lösungen zu erzielen, mit denen man zufrieden ist.
Woher beziehen Betriebsrät:innen ihr Fachwissen?
Die Basisschulungen durch Gewerkschaft und Arbeiterkammern haben einen sehr hohen Stellenwert. Sie werden als Wertschätzung und echter Wissensgewinn empfunden, die eigene berufliche Stellung dadurch gefestigt und verbessert. Betriebsrät:innen zeigen eine hohe Bereitschaft, sich Inhalte selbst zu erarbeiten und anzueignen. Wichtig sind auch verlässliche Kontakte zu Fachexpert:innen in den Gewerkschaften und Arbeiterkammern, die bei kurzfristigen Fragen beratend zur Seite stehen. Ebenfalls wichtig ist der Austausch mit anderen Betriebsrät:innen.
Sind Beschäftigte mit ihren Betriebsrät:innen zufrieden?
Grundsätzlich ja, diese Zufriedenheit ist aber sehr flüchtig. Menschen sind sehr anspruchsvoll und suchen eine rasche Lösung für individuelle Probleme. Je mehr Probleme im Betrieb wahrgenommen werden, desto unzufriedener ist die Belegschaft mit dem Betriebsrat. Betriebsrät:innen müssen gute Lösungen für große Teile der Belegschaft ausverhandeln, aktuell stehen passende Arbeitszeitvereinbarungen ganz oben auf der Wunschliste. Es ist nicht immer leicht, alle Wünsche mit den Gegebenheiten im Betrieb unter einen Hut zu bringen.
Was treibt Betriebsrät:innen an?
An erster Stelle steht das altruistische Motiv, anderen zu helfen und sich für die Anliegen von Kolleg:innen einzusetzen. Viele wollen aber auch an den Herausforderungen wachsen. Oft wird als Motiv angegeben „gefragt worden zu sein“. So funktioniert Partizipation, der Rückhalt der Kolleg:innen und das Gefühl, als Beste oder Bester ausgewählt worden zu sein, sind wichtige Faktoren für eine Kandidatur.
Wo es einen Betriebsrat gibt, werden auch
andere Formen der Mitbestimmung intensiver ausgelebt.
Wo gibt es Probleme bei der Betriebsratsgründung?
Die Vertretungsdichte nimmt mit der Betriebsgröße zu. Dort, wo ein Großteil der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert ist, finden wir auch eine viel höhere Zustimmung zur Belegschaftsvertretung. Die Beschäftigten in kleinen Betrieben identifizieren sich meist stärker mit der Geschäftsleitung und sehen sich eher als deren Partner und nicht als Gegner. Dort, wo Partizipation bereits stattfindet, werden auch andere Formen der Mitbestimmung aktiver gelebt und stoßen auf höhere Akzeptanz. So existieren in Betrieben mit Belegschaftsvertretung weit häufiger zusätzliche Formen des strukturierten Inputs, wie Ideenbriefkästen oder andere Formen von strukturierter Rückmeldung. Die Belegschaft kann Vorschläge machen und beide Seiten haben ein Interesse an einer guten Zusammenarbeit.
Es bestätigt sich nicht, dass andere Formen der Mitwirkung vor allem dann Platz greifen, wenn es keinen Betriebsrat gibt. Es ist im Gegenteil so, dass Betriebsrät:innen als Personen mit einer partizipativen Grundhaltung häufig weiterführende demokratische Prozesse in den Betrieben anstoßen und organisieren. Das hat mit dem Bewusstsein zu tun, dass es normal ist, Meinungen einzuholen und diese zu reflektieren.