Arbeit&Wirtschaft: Bei welcher bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistung – Ausgleichszulage, bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS), Notstandshilfe etc. – sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Karin Heitzmann: Änderungen wären in mehreren Bereichen angebracht. Die Ausgleichszulage etwa ist derzeit eine Fürsorgeleistung, die man dann erhält, wenn die Pensionsansprüche – unter Berücksichtigung des Partnereinkommens – entsprechend niedrig sind. Hier bin ich für eine echte Mindestpension, unabhängig vom Einkommen des Partners.
Und auch unabhängig von Versicherungsleistungen, denn es gibt immer noch Frauen, die so wenige Versicherungszeiten haben, dass überhaupt kein Pensionsanspruch besteht. Diese Frauen sind heute auf die Mindestsicherung zurückgeworfen, die mit entsprechenden Auflagen verbunden ist. Ich frage mich, ob wir es uns nicht leisten können, dass jeder Mensch ab einem gewissen Alter Anspruch auf eine Mindestpension hat, die dann bedingungslos ausbezahlt wird.
Ab welchem Alter?
Ab 65, 68 oder auch 70 – jedenfalls bedingungslos. Wer einen höheren Pensionsanspruch hat, bekommt eben entsprechend mehr. Bei Notstandshilfe und Arbeitslosengeld könnte man sich eine Deckelung nach unten überlegen.
Derzeit gibt es ja nur die Deckelung nach oben. Wer zu wenig vom AMS bekommt, kann über die Mindestsicherung aufstocken, die extra beantragt werden muss. Diese Menschen werden zwischen zwei Systemen hin- und hergeschoben.
Bedeutet bedingungslos auch, dass MindestpensionistInnen dazuverdienen dürften?
Genau, vergleichbar einem Grundeinkommen ab einem gewissen Alter. Die Verwaltung wäre einfacher als heute und ein Stück weit würden dadurch die BMS-Töpfe entlastet. Und es wäre für Menschen ohne Pensionsansprüche weniger entwürdigend, weil sie nicht mehr alles offenlegen müssten. Bei der BMS gibt es aktuell ja einigen Reformbedarf. Ende 2016 ist die 2010 geschlossene 15a-Vereinbarung ausgelaufen – derzeit gibt es also keine bundesweit einheitliche Regelung mehr, ähnlich wie vor dem Jahr 2010. Damals gab es einige regionale Wildwüchse. Ich hoffe auf eine baldige bundesweite Regelung oder man entwickelt das Ganze überhaupt in Richtung Grundeinkommen.
Diesbezüglich gäbe es wohl einigen Gegenwind …
Wenn man sich die Realität anschaut, dann gibt es den unserem Sozialversicherungssystem zugrunde liegenden Lebenslauf – 40 Jahre durchgehende Beschäftigung womöglich bei einem Arbeitgeber – fast nicht mehr. Typischer sind Lücken und Brüche im Arbeitsleben, da muss man sich ohnehin etwas Neues überlegen. Im Grunde ist auch das Prinzip „Nur wer einbezahlt hat, erhält eine Pension, und wer mehr verdient hat, bekommt mehr“ auch nur eine Norm. Genauso könnte man sagen, alle Bürger und Bürgerinnen haben das Recht auf eine gewisse Absicherung – wobei es mir vor allem um die Untergrenze geht, damit die Menschen sich nicht wie Almosenempfänger vorkommen. Das sind wir zwar nicht gewohnt, aber die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt werden sich weiter verändern und das Alleinverdiener-Modell wird durch neue Familienkonstellationen obsolet.
Wie dringend besteht Handlungsbedarf?
Man sollte bald was tun. Denn die neuen Herausforderungen bestehen ja schon länger und das Sozialversicherungssystem muss sich entsprechend anpassen. Damit sich die Jungen von heute darauf verlassen können, dass sie überhaupt noch eine Pension bekommen. Derzeit bezweifeln das viele. Es wird zwar immer wieder angesprochen, dass das Sozialversicherungssystem nicht mehr nachhaltig ist, aber letztendlich wird dann doch an zu wenigen Schrauben gedreht, um es so nachhaltig zu gestalten, dass man weiß, es hat in 30 oder 40 Jahren auch noch Bestand.
Wie kann das angesichts demografischer Veränderungen und stagnierenden Arbeitsvolumens finanziert werden?
Momentan finanzieren wir vieles über die Lohnsumme. Doch es gibt immer mehr prekäre Beschäftigung und Teilzeitjobs. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten ist seit dem Jahr 2000 um 75 Prozent gestiegen. Wir haben zwar ein Jobwachstum, aber kein Arbeitswachstum. Was die weitere Digitalisierung bringen wird, weiß niemand so genau. Man wird sich also eine neue Art der Finanzierung überlegen müssen, bei der die Wertschöpfung miteinbezogen wird. Woher kommt das Wachstum, wer hat das Kapital? Wenn wir weiterhin so etwas wie einen Sozialstaat wollen, brauchen wir alternative Finanzierungsquellen.
Stichwort Asylberechtigte und Mindestsicherung: Wie groß ist die Belastung tatsächlich?
Die BMS-BezieherInnen werden mehr, doch das ist nicht nur auf die Asylberechtigten zurückzuführen. Allgemein ist schon länger zu bemerken, dass das erste soziale Netz immer häufiger nicht mehr ausreicht. Durch wiederholte Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung usw. sind Familieneinkommen oft so niedrig, dass das Arbeitslosengeld einfach nicht reicht oder trotz Arbeit aufgestockt werden muss. Die Mindestsicherung wird so zum ersten sozialen Netz, wofür sie nie gedacht war. Im Übrigen macht die Mindestsicherung nur rund ein Prozent der gesamten Sozialleistungen aus. Wobei nicht übersehen werden darf, dass die Belastung der Gemeinden zum Teil sehr wohl hoch ist, denn sie müssen für Menschen, die nach Österreich geflüchtet sind, Wohnraum schaffen, den Schulbesuch der Kinder organisieren etc. Doch vielleicht sollte man das alles weniger als Kosten und mehr als Investition in zukünftige, wertvolle Arbeitskräfte sehen. Häufig wird argumentiert, dass die Menschen wegen unserer Sozialleistungen nach Österreich kommen. Aber die Mindestsicherung ist eben kein Grundeinkommen, sondern an Bedingungen geknüpft. Und ähnlich wie bei der Notstandshilfe wird hier auch vermehrt kontrolliert, ob tatsächlich Bedarf besteht.
Von Asylberechtigten abgesehen: Wie viel Kontrolle ist nötig, um zu überprüfen, ob überhaupt ein Anspruch auf Mindestsicherung besteht?
Erstens: Es ist nicht so, wie oft dargestellt, dass sich Betroffene entscheiden können, ob sie Mindestsicherung beantragen oder arbeiten gehen. Tatsächlich muss ja, wer BMS bezieht und arbeitsfähig ist, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Ich denke, da kursieren viele Geschichten, und ich vermute auch, dass es für manchen BMS-Bezieher einfacher ist, für sich das Narrativ zu haben: „Ich will ja eh nicht und ich trickse die Behörden aus“, als der Realität ins Auge zu sehen. Tatsächlich haben die meisten keine Wahl. Zweitens: Kontrolle ist schwierig, obwohl wir ohnehin immer mehr zum gläsernen Menschen werden. Da die BMS als Fürsorgeleistung gedacht ist, sind meiner Meinung nach entsprechende Überprüfungen auch legitim.
Anders wäre es, wenn man in Richtung garantiertes Grundeinkommen gehen würde. Ich bin bezüglich bedingungslosen Grundeinkommens ja immer ziemlich skeptisch gewesen. Meine Bedenken sind, dass dann viele andere Sozialleistungen gestrichen werden. Man weiß aber, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Diese sind vom Gesundheitszustand, Alter, Wohnort – Großstädte sind eben teurer –, Bildungsstand etc. abhängig. Ich bin eher dafür, darauf zu schauen, dass die Grundbedürfnisse abgedeckt sind.
Wenn jemand beispielsweise im geerbten Haus lebt, dann muss er oder sie das nicht verkaufen, kann dort wohnen und erhält eben weniger Geldleistungen?
Prinzipiell wäre ich eher für individuell abgestimmte Sachleistungen. Manche brauchen von Anfang an mehr Unterstützung, andere im Alter oder im Krankheitsfall. Dazu zählt natürlich auch der Bildungsbereich, wo Chancengleichheit anzustreben ist, also Benachteiligungen möglichst früh ausgeglichen werden sollten.
Zum Thema Erben: Vermögen sind hierzulande – und auch im internationalen Vergleich – höchst ungleich verteilt und diese Ungleichheit steigt von Generation zu Generation. Erbschaften bzw. Vermögen sollten besteuert werden, um einen Ausgleich zu ermöglichen.
Unter den Langzeitarbeitslosen sind Menschen über 50 auffallend stark vertreten …
Nicht zuletzt durch die De-facto-Abschaffung der Invaliditätspension sind mehr Ältere auf Jobsuche. Diese Menschen können nach Jahrzehnten den erlernten Beruf nicht mehr ausüben, haben gesundheitliche Probleme und sind schwer für eine andere Ausbildung zu motivieren. Noch dazu wurden sie bisher von Organisationen betreut, deren Angebot für diese Zielgruppe gar nicht gedacht war – immerhin sind für diese Gruppe jetzt Maßnahmen geplant. Es ist durchaus sinnvoll, wenn hier der öffentliche Sektor einspringt: Der zweite Arbeitsmarkt ist eine gute Möglichkeit, sogenannte arbeitsmarktferne Personen wieder sanft an den ersten Arbeitsmarkt heranzuführen. Denn was wäre die Alternative? Die Menschen finden doch sonst keine Arbeit oder nur prekäre, vorübergehende Beschäftigung. Und dann werden sie noch kränker, gestresster oder depressiver.
Entsteht eine Spirale nach unten, wenn jemand mehrmals arbeitslos wird – auch, weil in letzter Zeit die Zumutbarkeitsbestimmungen bei der Jobsuche gelockert wurden?
Ich sehe eher eine Auseinanderentwicklung: hier die Hochqualifizierten, deren Jobs nach wie vor sehr sicher sind, und dort der Niedriglohnsektor. Wobei ich glaube, dass Österreich an sich einen klügeren Weg gegangen ist als etwa Deutschland, wo der Niedriglohnsektor in den vergangenen Jahren stark ausgeweitet worden ist.
Deutlich mehr Frauen als Männer sind armutsgefährdet …
Österreich ist hier eher konservativ, das Modell des männlichen Ernährers hat sich erst in den vergangenen 20 Jahren verändert. Für Frauen ist der Sozialstaat besonders wichtig, weil er sie von Betreuungsaufgaben entlasten kann. Mein persönlicher Eindruck ist allerdings, dass sich junge Frauen wieder stärker mit traditionellen Gender-Rollen anfreunden. Hochwertige Kinderbetreuung, die theoretisch mehr Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, wird zudem meist von den gut ausgebildeten und besser verdienenden Frauen genützt. Das zweite verpflichtende Kindergartenjahr sehe ich als wertvollen Beitrag, um auch Kindern in bildungsfernen Haushalten von Anfang an eine gute Ausbildung und damit mehr Chancen zu ermöglichen. Beim Thema Frauen fällt mir aber auch ein, dass es – nicht zuletzt angesichts der demografischen Entwicklungen – viel zu wenige Langzeit-Pflegeplätze gibt. Es ist ja einerseits zu begrüßen, dass der Trend dazu geht, dass alte Menschen möglichst lange zu Hause leben. Aber bei vielen besteht irgendwann Pflegebedarf und hier sollte es mehr flexible Angebote geben, damit diese Aufgaben nicht letzten Endes wieder den weiblichen Familienmitgliedern zufallen. Aus meinem Bekanntenkreis kenne ich viele Geschichten, dass Senioren sagen: „Wenn ich einmal nicht mehr kann, dann geh ich in ein Heim.“ Aber wenn es dann so weit ist, wollen sie doch unbedingt noch weiter daheim leben. Hier sollte es mehr und durchlässigere Zwischenstufen geben. Tageszentren, betreutes Wohnen und Ähnliches sind gute Ansätze, aber zum Teil allgemein auch noch zu wenig bekannt.
Oder zu teuer, denn einen Platz in einem Seniorenwohnheim können sich die meisten ja nur dann leisten, wenn sie Pflegegeld bekommen. Einfach nur alt und vergesslich zu sein reicht nicht …
Stimmt, seit einiger Zeit bekommt man zudem vielfach nur ab einer gewissen Pflegestufe einen Platz, einfach weil nicht genug Raum vorhanden ist. Dabei würde mehr Durchmischung in diesen Einrichtungen nicht schaden, also wenn dort auch jüngere, fittere SeniorInnen wohnen würden.
Kennen Sie persönlich einen Langzeitarbeitslosen, eine Mindestsicherungsbezieherin oder Ähnliches?
Ja, und ich weiß, dass diese Situation sehr schwierig ist. Unsere Welt ist sehr leistungsorientiert. Längere Zeit nicht erwerbstätig zu sein ist aus vielen Gründen stressig. Man ist ständig damit beschäftigt, wie man mit dem knappen Geld zurechtkommt. In der Regel bleibt da kaum mehr Zeit und Energie für Dinge wie Weiterbildung oder um irgendwelche Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Und die Situation ist auch mit viel Scham behaftet, weil man „es nicht geschafft hat“. Wenn sie es sich aussuchen könnten, dann würden wohl die meisten lieber arbeiten gehen, um ökonomisch unabhängig zu sein und ein stärkeres Gefühl der Teilhabe zu haben.
Und rundherum erzählen die NachbarInnen vom Urlaub oder dem neuen Auto. Ist es nicht so, dass vor allem der Vergleich mit den Bessergestellten unzufrieden macht – sowohl im Kleinen als auch global betrachtet?
Ja, das ist auch durch Studien erwiesen. Aber die Welt ist nicht nur kleiner geworden, sondern tatsächlich auch ungerechter – vor allem, was die Vermögen betrifft. Man merkt ja, dass die Menschen unzufrieden sind. Wobei mir beim Thema Konsumgesellschaft einfällt, dass hier Bildung sehr viel bewirken kann. Nicht nur, weil man dann Zusammenhänge besser durchschauen kann, bietet Bildung auch die Basis, um etwa etwa über Nachhaltigkeit nachzudenken, den Konsumzwang zu hinterfragen und zu überlegen, was die eigenen Handlungen möglicherweise bewirken und welche Prioritäten man im Leben setzen möchte.
Linktipp:
Studie zu Armut
Astrid Fadler
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/17.
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