Arbeit&Wirtschaft: Sie haben sich vor 40 Jahren der Wissenschaft verschrieben. Wie definieren Sie Ihre Aufgabe als Wissenschafterin?
Birgit Sauer: Als Wissenschafterin habe ich den Auftrag, das Wissen, das ich aus der Forschung gewinne, wieder in die Gesellschaft hineinzutragen und damit Gesellschaften in Richtung mehr Gleichheit und Gleichberechtigung voranzutreiben. Das Wissen soll also eine gewisse gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. Diese Wissensverbreitung erfolgt zum Beispiel über die Lehre an der Universität. Die ist ganz wichtig, weil man ganz viel Wissen aus der eigenen Forschungsarbeit an nächste Generationen weitergibt. Ich kann Wissen aber auch über Medien vermitteln. Oder es gibt viele Organisationen und NGOs, die gleichstellungsorientiertes Wissen nachfragen. Dort kann ich beispielsweise Wissen in Form von Fortbildungen vermitteln.
Das Bild von den Wissenschaften ist nach wie vor männlich, obwohl mittlerweile mehr Frauen ein Studium beginnen als Männer. Warum gehen den Wissenschaften in höheren Positionen die Frauen verloren?
Naja, es ist ein langer Weg von der Studentin zur Professorin. Beim Master- oder Diplomabschluss sind die Studierenden etwa Mitte zwanzig und dann stehen schon Lebensentscheidungen im Raum: Will ich Kinder oder nicht? Will ich mich weiterqualifizieren und eine Dissertation schreiben? Und da fängt es bereits an, dass geschlechterselektive Mechanismen greifen. Um überhaupt auf die Idee zu kommen, eine Dissertation zu schreiben, muss man ermutigt werden. Da zeigt die Forschung: Die Ermutigungsstruktur bevorzugt eher junge Männer, zu promovieren. Zudem gibt es wenige Stipendien in Österreich. Eine Promotion erfolgt also meistens über eine Praedoc-Stelle der Universitäten. Da verengt sich der Flaschenhals. Auf diesen Praedoc-Stellen sind zwar immer noch etwa 30 Prozent Frauen, das sind aber schon weniger, als Abschlüsse gemacht haben – einfach weil die Selektionsmechanismen so sind, dass Frauen nicht auf diese Stellen kommen. Um eine universitäre Position zu erreichen, auch das sagen Forschungen, braucht es ganz bestimmte informelle Netzwerke. Weil Professoren mehrheitlich männlich sind, ist es häufig so, dass diese informellen Netzwerke auch auf einer männlichen Kultur basieren.
Das berühmte „Bier danach“?
Genau. Ein Austausch beim Bier danach oder nach dem Kolloquium oder auf Tagungen. Diese Netzwerke sind tendenziell noch immer homosozial. Andererseits haben Frauen es viel schwerer aufgrund ihres ansozialisierten Habitus, der sie nicht gleich losschreien lässt: „Ich bin auch noch da! Ich bin auch toll!“ Männer machen das viel eher. Die sind einfach viel lauter und trauen sich mehr, sich in den Vordergrund zu stellen. Sie werden vor allem weniger negativ sanktioniert für ein solches Verhalten. Das sind feine Mechanismen, durch die Frauen ausgeschlossen werden oder einen schwereren Zugang haben.
Wie sehen solche Ermutigungsstrukturen aus?
Die Forschung hat gezeigt, dass zum Beispiel sehr viel über Ähnlichkeit läuft. Ein Ähnlichkeitsmerkmal ist Geschlecht, das heißt, dass männliche Professoren viel leichter Zugang finden zu jungen männlichen Wissenschaftern. Auch die „Kameraderie“ ist in männlichen Netzwerken viel einfacher. Eine wissenschaftliche Karriere ist also auch eine Frage von Role Models. Je mehr Frauen Professorinnen sind, umso mehr trauen sich Frauen zu sagen: „Vielleicht kann ich das ja auch!“
Es gibt doch Gesetze und eine Quotenregelung …
Ja, wir haben in Österreich ein Bundesgleichbehandlungsgesetz. Das Gesetz sagt: Bei gleicher Qualifikation dürfen Frauen bei Stellenbesetzungen bevorzugt werden. Durch diese Regelung ist die Anzahl von Professorinnen bereits gestiegen. Der springende Punkt ist aber: Was ist eigentlich gleiche Qualifikation? In den letzten zehn Jahren hat sich viel im Wissenschaftsbereich verändert. Es wird ganz viel auf die Quantifizierung von wissenschaftlichen Leistungen abgezielt. Das heißt: Ich veröffentliche nicht einen Artikel und der hat einen klugen Gedanken, der überall diskutiert wird und vielleicht innovativ ist. Nein, ich veröffentliche einen Artikel und der hat eine Maßzahl, den Impact-Faktor.
Obwohl man meinen kann, das ist ja ganz objektiv, zeigt sich: Da fallen Frauen raus, weil die Publikationskartelle männlich sind und Frauen eher rausdrängen – nicht, weil Frauen schlechter wären, sondern weil es wieder auf die Netzwerke ankommt. Als junge Forscherin kann ich kaum allein in ein hoch geranktes Journal reinkommen, da brauche ich einen Mentor oder eine Mentorin. Da haben wiederum männliche Jungwissenschafter eher einen Mentor.
Zieht man dies in Betracht bei Berufungsverfahren für Professuren, dann braucht es in den Berufungskommissionen Menschen mit einem „Gleichbehandlungsführerschein“, die also für geschlechterdiskriminierende Strukturen sensibilisiert sind. Man darf doch auf der Straße auch nicht einfach so rumgondeln ohne Führerschein. Warum soll man also Karrieren gefährden durch Menschen, die gar nicht für Gleichbehandlung sensibilisiert sind?
Sie selbst sind eine Pionierin, ein Role Model in den Wissenschaften. Welches Rezept haben Sie für andere Frauen?
Mein Rezept war immer: Netzwerke! Netzwerke von Frauen. Und das war total wichtig für meine eigene Biografie. In den Netzwerken kann man sich vieles geben, was man aus dem männlichen Umfeld eher nicht bekommt. Man kann sich selbst Ermutigung, Feedback und Zuspruch geben. Man kann sagen: „Das ist toll, was du da gemacht hast.“ Oder: „Bewirb dich da unbedingt!“ In weiterer Folge kann man über so ein Netzwerk selbst in eine Machtposition kommen, wo man entscheiden kann und Frauen fördern kann. Und in Netzwerken können auch Alternativen zum Wissenschaftsbetrieb entwickelt werden.
Macht ist ein wichtiges Stichwort. In populistischen Regierungen, in den USA aber auch in Europa, werden wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend als alternative Fakten verleumdet. Wie mächtig sind solche Angriffe auf die Wissenschaft?
Ich sehe durchaus, dass die Sozialwissenschaften potenziell bedroht sein können. Sozialwissenschaften sind eher „weiche“ Wissenschaften – sie arbeiten also ganz viel qualitativ –, und die sind in Zeiten von Quantifizierung und Vermessung stärker von finanziellen Streichungen betroffen. Allerdings trifft es derzeit auch „harte“ Naturwissenschaften, wenn PolitikerInnen den Klimawandel leugnen und die Daten dazu als manipuliert darstellen.
Aber ich glaube, alle Wissenschaften, die sich mit sozial- und gesellschaftspolitischen Themen beschäftigen, sind gefährdet. Denn sie generieren Wissen, um zu verändern, was sie für problematisch halten – sei dies Erderwärmung oder Klimawandel oder steigende Ungleichheit zwischen Arm und Reich oder zwischen Frauen und Männern. Sobald Wissenschaft den Anspruch hat, gesellschaftsveränderndes Wissen zu Verfügung zu stellen, kommt die Keule: „Das ist alles nur Fake. Das sind ja alles nur alternative Fakten, das müssen wir nicht glauben. Und wir müssen nichts ändern.“
Wie steht die neue Regierung zur Wissenschaft? Weht jetzt ein anderer Wind?
Ich will es nicht hoffen, ich befürchte es aber leider. Man hat es ja teilweise schon in den Wahlprogrammen mitbekommen: Worüber gesprochen wurde, waren eher naturwissenschaftliche Initiativen oder technologische Entwicklungen. Angesichts einer weiteren Knappheit von finanziellen Mitteln für Forschung und für Universitäten ist zu befürchten, dass Gelder tatsächlich umgeleitet werden und für die Sozialwissenschaften möglicherweise weniger Geld zur Verfügung stehen wird.
Was bedeutet es für eine Gesellschaft und eine Demokratie, wenn ich bestimmten Studienfächern Geld abziehe, nur weil sie nicht dem Geschmack der Regierung entsprechen?
Eine lebendige Demokratie kann nur existieren, wenn sie immer wieder Möglichkeiten zur eigenen Reflexion zur Verfügung stellt, also immer wieder auch darüber nachdenkt: Wie sind jetzt die Verfahren in der Demokratie? Funktionieren sie so, wie sie funktionieren sollen? Um ein Beispiel zu geben: In Österreich gibt es immer wieder die Debatte um ein Mehrheitswahlrecht anstelle des Verhältniswahlrechts. Dazu habe ich schon vor langer Zeit auch mit anderen Feministinnen gesagt: Das ist ein Problem, denn das Mehrheitswahlrecht fördert Männer in der Politik. Es hat eine Weile gedauert, bis Juristen, die sich damit beschäftigten, gesagt haben: Das leuchtet uns ein. Jetzt suchen wir eben nach Mehrheitswahlmöglichkeiten, die strukturelle Minderheiten, wie es Frauen sind, nicht von vornherein benachteiligen. Das ist nur ein Beispiel, aber es zeigt, dass wir Institutionen oder Normen wie das Wahlrecht immer wieder reflektieren müssen und dass dadurch zum Beispiel Wahlsysteme gendergerechter und frauengerechter konturiert werden können. Dazu braucht es Wissenschaft.
Ein weiteres Beispiel sind Fragen von Migration und Integration. Das ist ein schwieriges Feld, für dessen Erforschung viel mehr Gelder nötig wären. Wenn es zu wenige Forschungsgelder gibt – und das ist leider zu befürchten –, dann wissen wir über ganz viele Bereiche der Migration nicht Bescheid und produzieren Ausschluss. Eine Demokratie kann so nicht wirklich gut funktionieren.
Wie objektiv ist die Wissenschaft tatsächlich?
Es gibt sowohl für quantitative als auch für qualitative Forschung ein riesiges Methodeninstrumentarium – Standards, um mögliche Verzerrungen im Forschungsprozess zu reflektieren. Es gibt also ganz viele objektivierende methodische Maßnahmen. Darauf basiert auch die Forschung in Österreich. Zudem ist eine große Zahl der wissenschaftlichen Publikationen peer-reviewed, also qualitätsgesichert. Da den Vorwurf zu machen, das sei alles nur subjektive Meinung, ist wirklich nur politische Mobilisierung mit dem Ziel, Wissenschaft zu diskreditieren. Es entbehrt aber jeglicher Grundlage. Dennoch: DIE Objektivität gibt es nicht. DIE Wahrheit kann es nicht geben. Aber Wissenschaftlichkeit heißt Nachvollziehbarkeit von Ergebnissen.
Das sagt ja auch die kritische Wissenschaft. Was bedeutet kritische Wissenschaft für Sie?
Kritische Wissenschaft verstehe ich wirklich im Sinne der kritischen Theorie der Frankfurter Schule: eine Wissenschaft, die ihre eigenen Grundlagen immer wieder infrage stellt und reflektiert. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Instrumente, mit denen ich eine empirische Realität zu erfassen versuche, zu hundert Prozent objektiv sind. Ich muss die Instrumente und Ergebnisse daher immer wieder infrage stellen, auch immer wieder korrigieren. Die Instrumentarien sind auch deshalb nicht objektiv, weil kritische Wissenschaft immer in gesellschaftliche Verhältnisse eingreift. Kritische Wissenschaft ist auch eine Wissenschaft, die sagt: Ich will mit meinem Wissen Gesellschaft und Politik verändern in Richtung mehr Gleichheit.
Worin liegen die größten Herausforderungen für die Wissenschaft in den nächsten Jahren?
Für die Politikwissenschaft würde ich schon sagen, dass der Trend hin zu rechten und autoritären Parteien eine sehr große Herausforderung ist. Da muss noch viel mehr Ursachenforschung betrieben werden. Ich unterstelle WählerInnen rechter Parteien nicht automatisch, Nazis oder Rassisten zu sein. Aber zu sagen: „Naja, das ist jetzt mal eine Protestwahl. Warten wir ab bis zur nächsten Wahl“, hilft uns nicht weiter. Weil ich schon denke, dass sich mit dem neoliberalen Umbau der letzten 20 bis 30 Jahre, der ja in Osteuropa ganz brutal gekommen ist, gesellschaftliche und politische Verhältnisse dramatisch geändert haben. Dies hat die Menschen verunsichert und Ängste provoziert, was den eigenen Wohlstand oder den Wohlstand der Kinder angeht. Rechte Akteure schlagen vor, diesen Ängsten mit nationaler Abschottung zu begegnen. Wir sind aber im Zeitalter der Globalisierung. Da ist es unmöglich, Grenzen zu schließen. Wer nationale Lösungen vorschlägt, macht also den Bürgern und Bürgerinnen etwas vor. Man muss demgegenüber ganz andere Politikformen entwickeln. Der Klimawandel beispielsweise hält sich sowieso nicht an Nationalstaatsgrenzen. Aber das Bewusstsein über notwendige Maßnahmen gegen Klimaveränderungen ist nicht sehr hoch, obwohl wir das doch jetzt schon mit den Stürmen und mit den Überschwemmungen merken, aber das wird irgendwie verdrängt. Da wäre es interessant herauszufinden, woran das liegt und welche Strategien man entwickeln kann, damit Leute sehen: Da muss was gemacht werden! Und die Initiativen, die es gibt, müssen auch durchsetzbar sein. Wir haben ja bereits Politiken gegen den Klimawandel, nur geschieht da nichts. Weil Leute wie Herr Trump sagen: „Das ist ja völliger Quatsch. Alles nur alternative Fakten.“
Im November haben Sie den österreichischen Wissenschaftspreis für Parlamentarismus und Demokratie für Ihr wissenschaftliches Gesamtwerk verliehen bekommen. Auf welche Errungenschaften sind Sie stolz? Was möchten Sie noch erreichen in Ihrer Wissenschaftskarriere?
Klarerweise freue ich mich über diese ganz individuelle Auszeichnung. Aber worauf ich wirklich stolz bin, ist, dass ich ein Netzwerk von ForscherInnen etablieren und fördern konnte – ein Netzwerk in Österreich, in Deutschland, ein internationales Netzwerk. Das hat einiges an Energie gekostet, aber das war auch wirklich lustvoll. Dieses Netzwerk ist das, was mir am meisten Spaß gemacht hat und wo ich sagen kann: Da habe ich einen wichtigen Beitrag geleistet. Zukünftig will ich weiterhin gute und kritische Studierende fördern, solange ich an der Universität bin. Und ich möchte weiterhin den Finger in Wunden legen, wo ich denke, da ist etwas gesellschaftlich und politisch nicht in Ordnung. Das sind zum Beispiel Prozesse der Entdemokratisierung und der Autoritarisierung sowie steigender Ungleichheit. Da möchte ich Wissen zur Verfügung stellen, damit es die Möglichkeit gibt, dies zu verändern.
Irene Steindl
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/17.
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