Arbeit&Wirtschaft: Ist es höchste Zeit für die nächste Arbeitszeitverkürzung?
Claudia Sorger: Auf jeden Fall, die letzte gesetzlich beschlossene Arbeitszeitverkürzung war 1975, ist also schon sehr lange her. Seitdem hat sich viel verändert. So ist die Frauenerwerbsquote stark gestiegen, die Beschäftigtenstruktur sieht heute anders aus und die Anforderungen am Arbeitsplatz haben sich verändert. Es ist also tatsächlich höchste Zeit. Denn es ist zwar in manchen Bereichen zu geringfügigen Arbeitszeitverkürzungen gekommen, aber auf breiter gesetzlicher Basis besteht schon lange Aufholbedarf.
Haben Sie einen Erklärungsansatz, warum sich die 40-Stunden-Woche so hartnäckig hält?
Die Kräfteverhältnisse haben sich verändert, ArbeitnehmerInnenvertretungen sind schon länger verstärkt in der Defensive, haben also weniger Durchsetzungsstärke. Und von gewerkschaftlicher Seite wurden auch andere Schwerpunkte gesetzt, bei KV-Verhandlungen standen vor allem Lohnerhöhungen im Vordergrund. Allgemein ist die Arbeitszeitverkürzung erst seit der Wirtschaftskrise wieder ein Thema. Davor – und ich beschäftige mich ja schon sehr lange damit – wurde das einfach nicht diskutiert beziehungsweise als abgehandelt betrachtet.
Welche Auswirkungen erwarten Sie von Arbeitszeitverkürzungen?
Einerseits ist da das beschäftigungspolitische Argument, also kürzere Normalarbeitszeit, um Arbeitsplätze zu schaffen. Da stellt sich dann aber die entscheidende Frage: Wie gestalte ich das? Gibt es zum Beispiel vollen Lohnausgleich, Personalausgleich und andere Maßnahmen? Wenn man die Arbeitszeit nur um einige Stunden reduziert und keine weiteren Maßnahmen setzt, dann würde das nicht automatisch Arbeitsplätze schaffen. Denn es käme lediglich zu einer Verdichtung, die einzelnen ArbeitnehmerInnen müssten dann in weniger Stunden genauso viel leisten wie davor. Wie viele zusätzliche Arbeitsplätze letztendlich entstehen würden, dazu gibt es einige Berechnungen, doch im Prinzip ist das nicht exakt einschätzbar.
Außer dem beschäftigungspolitischen Aspekt gibt es auch gesundheitspolitische Motive. Erkrankungen, die auf hohen Arbeitsdruck und lange Arbeitszeiten zurückgehen, sind im Zunehmen, etwa psychosomatische Erkrankungen oder Beschwerden des Bewegungsapparats. Mit weniger Wochenstunden könnten vor allem Ältere länger – und höchstwahrscheinlich auch gesünder – im Arbeitsprozess bleiben. Denn häufige lange Arbeitstage haben nachweislich negative Effekte auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Doch eine Arbeitszeitverkürzung, die diese Aspekte berücksichtigt, muss politisch gewollt sein, denn das typisch österreichische Klein- und Mittelunternehmen wird dieses Konzept in der Regel nicht alleine umsetzen können.
Von wie vielen Wochenstunden reden wir?
Es gibt verschiedene Ansätze, neben einer gesetzlich verankerten 38-Stunden-Woche wird die 35-Stunden-Woche gefordert und auch die 30-Stunden-Woche. Dabei wird praktisch immer von einer stufenweisen Reduktion ausgegangen. Ich bin allerdings für eine möglichst rasche Kürzung auf 30 Stunden. Selbstverständlich gäbe es dann ähnlich wie jetzt die Möglichkeit, in speziellen Fällen den Arbeitstag zu verlängern. Prinzipiell stellt sich auch die Frage, ob die derzeit üblichen 40 oder 38 Stunden in manchen Berufen nicht ohnehin zu viel sind. In Pflegeberufen können sich viele jüngere und ältere Arbeitskräfte nicht vorstellen, bis zur Pension durchzuhalten. Mit 23 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen ist die Teilzeitquote im Gesundheits- und Sozialbereich überdurchschnittlich hoch. Wobei Teilzeit natürlich Einkommenseinbußen bedeutet.
Auf der Arbeitszeitkonferenz in Linz im vergangenen Jänner haben Sie mehrere Konzepte für eine andere Gestaltung der Arbeitszeit vorgestellt. Welche Konzepte gibt es hier?
Prinzipiell geht es auch um grundsätzliche Fragen. Bei der Vier-in-einem-Perspektive etwa wird nicht nur zwischen bezahlter Arbeit und Freizeit unterschieden, sondern die Menschen sollten genügend Zeit für unterschiedliche Lebensbereiche zur Verfügung haben – Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesenarbeit und individuelle Entwicklung. Ich persönlich beschäftige mich auch viel mit der sogenannten geschlechtergerechten Arbeitszeit, bei der es um die gerechte Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit geht. Faktisch hat ein Großteil der weiblichen Erwerbstätigen eigentlich jetzt schon eine Arbeitszeitverkürzung, denn 48 Prozent arbeiten Teilzeit. Mütter leisten deutlich weniger bezahlte Arbeit als andere Frauen, während Väter durchschnittlich mehr Zeit am Arbeitsplatz verbringen als andere Männer. 67 Prozent der Frauen mit Kindern unter 15 sind Teilzeitbeschäftigte. Wenn Männer Teilzeit arbeiten, dann meist nicht wegen der Kinder, sondern wegen einer Ausbildung. Das in Österreich nach wie vor übliche Modell des „male breadwinner“ ist keineswegs ein Muss, und es gibt ja auch Länder, wo das anders ist.
Wo kann man ansetzen?
Eine Möglichkeit zur Steuerung gibt es zum Beispiel durch das Kinderbetreuungsgeld. Derzeit beträgt die Mindestdauer für den Kinderbetreuungsgeld-Bezug zwei Monate, die meisten Männer beschränken sich auch tatsächlich auf diese Zeit. Diese Mindestdauer zu erhöhen könnte die Beteiligung der Väter an der Kindererziehung steigern. Wir haben in Zusammenhang mit unserer aktuellen Studie zur Vereinbarkeit aber auch festgestellt, dass es teilweise Informationsmankos gibt. So wussten viele Eltern nicht, dass Elternteilzeit von beiden Elternteilen gleichzeitig in Anspruch genommen werden kann.
Wie stehen Sie zur Idee einer Familienarbeitszeit wie in Deutschland?
Ein Vorschlag der deutschen Familienministerin sieht vor, dass es eine staatlich geförderte Familienarbeitszeit geben sollte, also die Arbeitszeit auf 32 bis 25 Stunden gekürzt wird. Im Anschluss an 14 Monate Kinderzeit könnten beide Eltern in Teilzeit arbeiten, der Lohnausgleich käme zum Teil durch den Staat. Dieser Vorschlag für eine phasenweise Arbeitszeitverkürzung, die zumindest teilweise finanziell ausgeglichen wird, wäre auf jeden Fall ein Fortschritt – auch in Richtung mehr Partnerschaftlichkeit in der Aufteilung der Betreuungsarbeit.
Welche Erfahrungen gibt es in Österreich mit verkürzten Arbeitszeiten?
Hier gibt es eigentlich nur die Erfahrungen mit der krisenbedingten Kurzarbeit und mit der Freizeitoption. Nach der Kurzarbeit war es leider teilweise so, dass auch bei deutlich besserer Auftragslage kaum neue Mitarbeiter eingestellt wurden. Andererseits war es gerade in den betroffenen, stark männerdominierten Branchen für viele Beschäftigte eine positive Erfahrung, einmal mehr Zeit zu haben, für sich, die Familie oder was auch immer. Es gab die Idee, die Kurzarbeit auch in frauendominierten Branchen einzuführen. Allerdings ist man davon wieder abgekommen, weil die Entlohnung dort so niedrig ist, dass kaum eine Arbeitnehmerin auf einen Teil des Einkommens verzichten kann. Die Freizeitoption gibt es seit 2013 in der Elektroindustrie, seit 2015 in der Metallindustrie. Sie wird hauptsächlich von Männern in Anspruch genommen, was natürlich auch branchenbedingt ist.
Gibt es im Ausland dazu mehr Beispiele?
Ja, in Schweden gibt beziehungsweise gab es hier einiges. Auf der Arbeitszeit-Konferenz im Oktober 2015 in Wien hat der Vizebürgermeister von Göteborg über einen zweijährigen Versuch mit 6-Stunden-Tagen in einem Pflegeheim berichtet. Die verkürzten Arbeitszeiten haben sich deutlich positiv auf die Gesundheit und die Motivation der Beschäftigten ausgewirkt. Spannend war auch, dass zu diesem Projekt Anfragen aus aller Welt kamen, das Interesse war sehr groß. Sichtlich ist das Thema Arbeitszeitverkürzung doch für viele interessant. Bei einem weiteren schwedischen Projekt wurden 1989 in der häuslichen Krankenpflege 6-Stunden-Tage eingeführt. Nach 16 Jahren wurde das Projekt aufgrund politischer Veränderungen eingestellt. Es gibt aber auch aktuelle Beispiele von Arbeitszeitverkürzung, etwa in einem Krankenhaus.
Stichwort Flexibilisierung: Wie kann sie funktionieren?
Meiner Meinung nach ist die aktuelle Debatte eine Scheindiskussion. Es geht schlicht darum, die Kosten für Überstundenzuschläge und Ähnliches zu sparen. Dabei gibt es sogar viele Unternehmer und ArbeitgebervertreterInnen, die der Ansicht sind, dass keine weitere Flexibilisierung mehr nötig ist. Durch die vergangenen Novellen ist das Arbeitszeitgesetz ohnehin schon sehr flexibel geworden. Und wenn man sich die Argumente anschaut, dann sind diese seit Jahrhunderten die gleichen, da wird mit dem Standort argumentiert und der Niedergang der Wirtschaft heraufbeschworen. Wichtig wäre es bei diesem Thema, eine europäische Allianz für gute Arbeitsbedingungen mit kürzeren Arbeitszeiten zu bilden. Und Österreich hat ja auch im europäischen Vergleich eher hohe Arbeitszeiten. Es gibt einige Länder, wo nicht nur die durchschnittliche Wochenarbeitszeit kürzer ist, sondern auch die Jahresarbeitszeit. Man könnte auch sagen: Okay, wir gleichen uns hier einmal an.
Die Flexibilisierung in Kombination mit den Möglichkeiten der Digitalisierung birgt ja schon jetzt einige Risiken für die Beschäftigten.
Es muss eine gewisse Balance zwischen den Anforderungen seitens des Unternehmens und der Zeitautonomie und den Bedürfnissen der Beschäftigten bestehen. Man braucht einen Rahmen, der Schutz bietet, aber auch individuellen Gestaltungsspielraum. So kann Flexibilisierung Vorteile für alle haben: Denn unter anderem ermöglicht sie die bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Aber es gibt auch Gefahren: Wir wissen ja auch aus der Neurobiologie, dass rund um die Uhr arbeiten, die ständige Erreichbarkeit und Arbeiten auf Abruf letztendlich Stress bedeuten und es irgendwann zu Erschöpfungszuständen kommt. Das Wochenende als gemeinsamer Freizeitblock hat eine wichtige Bedeutung, auch wenn es das jetzt schon für manche Berufsgruppen nicht gibt. Wenn man sich die Diskussion um die Ladenöffnungszeiten anschaut, die ebenfalls schon seit Jahrzehnten mit den gleichen Argumenten abläuft, dann geht es auch darum, abzuwägen, wie weit Sonntagsarbeit tatsächlich erforderlich ist und ob man tatsächlich jederzeit alles einkaufen können muss.
Wobei es ja heute auch durchaus sein kann, dass die Menschen zwar sonntags frei haben, aber trotzdem arbeiten.
Genau, diese Gefahr besteht. Doch da gibt es auch schon einzelne Gegenbewegungen. Es gibt ja mittlerweile Unternehmen, die abends und am Wochenende ihren Server abschalten, damit in der Freizeit nicht gearbeitet wird. Manche Menschen machen das ja auch mehr oder weniger freiwillig. Kürzlich gab es ein interessantes Interview mit dem Neurobiologen Bernd Hufnagl, der erzählte, dass Lob vom Chef das Beziehungshormon Oxytocin freisetzt und wir auch deshalb gewisse Erwartungen erfüllen. Aber dann gibt es natürlich auch noch andere Einflüsse wie etwa einen Schneeballeffekt, wenn man sieht, dass KollegInnen noch spätabends Mails verschicken.
Es wird ja sehr viel über Digitalisierung und neue Arbeitswelt geredet und geschrieben. Wo steht Österreich hier tatsächlich?
Ich denke, bei uns dominiert nach wie vor eine sehr starke Anwesenheitskultur: Wer lange am Arbeitsplatz ist, demonstriert Leistungswillen und Einsatzbereitschaft. Daher gibt es auch Vorbehalte beim Thema Homeoffice. Wir haben uns kürzlich anlässlich unserer aktuellen Studie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer zehn Unternehmen in männerdominierten Branchen angeschaut und wie dort mit Vereinbarkeit umgegangen wird. Oft ist es so, dass Homeoffice zwar prinzipiell möglich ist, aber dann tatsächlich nur gegen starken Widerstand durchgesetzt werden kann. Hier gibt es also noch viele Vorbehalte. Wobei auch beim Homeoffice Regelungen durchaus sinnvoll sind, um eine ausreichende Abgrenzung zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit zu ermöglichen.
Wo Vollzeit üblich ist, dort ist es schon sehr schwierig, diese Vollzeitkultur zu durchbrechen, um zumindest phasenweise weniger zu arbeiten.
Väter gehen zwar jetzt öfter in Karenz, doch die meisten wie gesagt nur zwei Monate, und es bleibt bei der üblichen Aufteilung, dass die Frau ihre Arbeitszeit reduziert und hauptsächlich sie sich um die Kinder kümmert. Männer finden die zwei Monate mit den Kindern zwar toll, aber dann beginnen sie über die Konsequenzen nachzudenken: Wenn ich jetzt länger wegbleibe, was bedeutet das für mich am Arbeitsplatz? Es muss eine Ersatzarbeitskraft engagiert werden, mein Arbeitsplatz ist gefährdet etc.
Doch im Prinzip gelten diese Überlegungen genauso für Frauen, aber da ist das ganz selbstverständlich, dass sie diese Nachteile in Kauf nehmen. Immerhin kommt es jetzt langsam auch in männerdominierten Branchen zu einer Bewusstseinsänderung.
Wo sehen Sie noch Forschungsbedarf zum Thema Arbeitszeit?
Es gibt in Österreich leider kaum Studien zu den sozialen, persönlichen und gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitszeitverkürzung, also etwa zu den Auswirkungen der Kurzarbeit oder der Freizeitoption. Was ich persönlich spannend fände, wäre mehr Gewerkschaftsforschung zu machen. Dazu gibt es in Österreich kaum etwas. Interessant wäre zu erforschen, wie Entscheidungsprozesse in den Gewerkschaften ablaufen. Das System Sozialpartnerschaft etwa ist ja sehr komplex, da gäbe es sicher spannende Erkenntnisse. In anderen Ländern sehe ich auch mehr Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft.
Astrid Fadler
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 7/17.
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