Interview: „Europas Wettbewerbsfähigkeit steht nicht am Abgrund“

„Ich warne davor, dass der Standort Europa als krank hingestellt wird“, sagt Oliver Röpke, Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses. | © Markus Zahradnik
Der Wettbewerb zwischen Europa, den USA, China und anderen aufstrebenden Mächten verschärft sich zunehmend - ein Grund zur Sorge? Oliver Röpke, Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), bezieht klar Stellung: Europas Fundament ist nach wie vor stark genug.
Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise steht Europa unter Druck, die Zukunft des Standorts, des Handels und der Wettbewerbsfähigkeit sind Dauerthemen. Doch wie steht es wirklich um den Standort? Und wie kann ein sozialverträgliches Europa aussehen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich kürzlich die Betriebsrät:innen-Konferenz der GPA in St. Pölten. Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), Oliver Röpke, hielt dazu einen Impulsvortrag. Seine Botschaft: „Wir dürfen keinesfalls zu einem Europa zurückkommen, das nur eine große Freihandelszone ist.“

Zur Person
Oliver Röpke, geboren 1971, Jurist, seit April 2023 Präsident des EWSA und damit erster österreichischer Gewerkschafter an dessen Spitze.

Arbeit&Wirtschaft: Herr Präsident, manche Ökonomen und EU-Regierungen setzen im weltweiten Wettbewerb nur auf die Stärkung des Binnenmarktes. Warum ist das Zusammenführen von Markt und sozialen Rechten für Sie so wichtig und kein Widerspruch?

Oliver Röpke: Wenn wir als EU die geopolitischen Herausforderungen der Zukunft stemmen wollen, dann reicht es nicht, nur den Binnenmarkt, die Freizügigkeit von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital zu haben. Wir brauchen auch ein Level Playing Field, ein Konzept der Fairness. Wettbewerb funktioniert nur über soziale Regelungen, die in allen Mitgliedstaaten gelten. Der frühere italienische Premierminister Enrico Letta hat kürzlich einen Bericht über die „Zukunft des Binnenmarktes“ vorgelegt. Eine seiner Hauptforderungen ist das sogenannte „Freedom To Stay“, das Recht zu bleiben und die Einhaltung sozialer Standards.

Porträt Oliver Röpke
„Wir brauchen auch ein Level Playing Field, ein Konzept der Fairness“, meint Oliver Röpke, Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA). | © Markus Zahradnik

Worum geht es bei Freedom To Stay genau?

Es geht dabei um ein Modell, bei dem Arbeitnehmer:innen Unternehmen nicht nachreisen müssen. Wir haben es in den vergangenen Jahrzehnten in Osteuropa gesehen. In diesen Regionen gab es einen Brain Drain, ganze Landstriche wurden entvölkert, und es kam zu starken sozialen Verwerfungen. Um das zu verhindern, brauchen wir eine Politik, die den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt stärkt. Es geht darum, die Annäherung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in ganz Europa voranzutreiben.

Vor welchen Herausforderungen steht der Standort Europa?

Die Forderung nach stärkerer Wettbewerbsfähigkeit, die ich unterstütze, darf nicht zu einer Reihe von Deregulierungen zulasten der Beschäftigten und der Gewerkschaften führen. Das muss verhindert werden. Ich warne davor, dass der Standort Europa als krank hingestellt wird und sich eine Mentalität des Kahlschlags breitmacht, nach der es auf europäischer Ebene keine sozialen Regelungen mehr geben darf. Insgesamt ist die Entwicklung der EU positiv und Österreich profitiert davon.

Ich betone nochmals: Wir sind nicht am Abgrund, was die Wettbewerbsfähigkeit Europas angeht. Wir müssen einige Maßnahmen einleiten, Korrekturen vornehmen, endlich wieder Investitionen ankurbeln statt künstliche Schuldenbremsen einzuführen, aber die Basis Europas ist nach wie vor stark. Es gebe keinen Grund zu einer Dramatisierung, sagt auch WIFO-Chef Gabriel Felbermayr. Wir dürfen keinesfalls zu einem Europa zurückkommen, das nur eine große Freihandelszone ist.

Porträt Oliver Röpke
Oliver Röpke ist überzeugt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Europas nicht auf der Kippe steht. | © Markus Zahradnik

Umstritten ist derzeit der Handelspakt der EU mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela. Wie stehen Sie als Gewerkschafter dazu?

Im EWSA und in der Gewerkschaft ist niemand gegen Handel oder Handelsverträge. Wir brauchen Handel, um unsere Industrie zu stärken. Wir brauchen aber eine neue Generation von Handelsverträgen. Die Frage ist, wie diese Handelsverträge ausgestaltet sind. Sie dürfen sich nicht nur auf den reinen Handel beschränken. Es braucht starke Nachhaltigkeitskapitel mit sozialen Rechten, die ILO-Kernarbeitsnormen müssen verankert und diese verbindlich und einklagbar sein. Nur damit begegnen wir der Gefahr sozialen Dumpings – im Übrigen auf beiden Seiten.

Sie waren vor wenigen Wochen in Brasilien und haben Präsident Lula da Silva getroffen. War der Handelspakt ein Thema?

Wir waren uns einig, dass es wichtig ist, dass Lateinamerika, auch Brasilien, ein starker Partner Europas bleibt und nicht nur im BRICS-Verbund agiert. Wir brauchen faire Bedingungen und das schließt ein, dass Arbeitsrechte und Kernarbeitsnormen verbindlich und verpflichtend verankert sein müssen. Natürlich versuchen wir auch, unsere politischen Forderungen im Kampf gegen die Klimakrise unterzubringen, Stichwort Entwaldung in Brasilien. Hier würde ich für Fairness plädieren. Präsident Lula bemüht sich, dieser schädlichen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Er muss die Bevölkerung hinter sich bringen. Nicht Belehrung, sondern Kooperation ist gefragt. Wir müssen mit diesen Ländern auf Augenhöhe zusammenarbeiten.

Oliver Röpke und Präsident Lula da Silva geben sich die Hand.
Oliver Röpke traf den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva: „Wir brauchen faire Bedingungen und das schließt ein, dass Arbeitsrechte und Kernarbeitsnormen verbindlich und verpflichtend verankert sein müssen.“

Das System der Sozialpartnerschaft, des Dialogs und des Interessensausgleichs gilt weltweit als Modell. Zuletzt kam es aber immer wieder zu einer Blockadehaltung der Arbeitgeberseite. Warum?

Ich halte es für gefährlich, wenn man den sozialen Dialog auf europäischer Ebene aufs Spiel setzt. Die Ziele der Europäischen Säule sozialer Rechte müssen weiter verfolgt und umgesetzt werden. Sie sind Teil der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Leider hat der Arbeitgeberverband „Business Europe“ die im April verabschiedete Deklaration von La Hulpe (ein Vorort von Brüssel, Anm.) für ein sozialeres Europa nicht unterschrieben. Für mich ist klar, dass sich der soziale Dialog von Lobbyismus unterscheiden muss. Sozialer Dialog heißt auch Kompromissfähigkeit. Aus meiner Sicht ist die Deklaration von La Hulpe ein Kompromiss. Leider haben auch die österreichische und schwedische Regierung das Dokument nicht unterzeichnet.

Porträt Oliver Röpke
„Wir brauchen eine neue Generation von Handelsverträgen“, sagt Oliver Röpke. | © Markus Zahradnik

Ich trete dafür ein, dass der soziale Dialog und die Sozialpartnerschaft ein Kriterium für den EU-Beitritt der Kandidatenländer sein sollten.

Wie bringt sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschusses in den Europa-Wahlkampf ein?

Der EWSA spielt eine extrem aktive Rolle und arbeitet eng mit dem EU-Parlament zusammen. Mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola haben wir ein „Memorandum of Understandig“ unterzeichnet. Wir haben sehr viele Aktivitäten auf nationaler Ebene geplant, zum Beispiel Veranstaltungen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden und der Zivilgesellschaft. Wir machen keine parteipolitische Werbung, sondern Werbung für das Modell Europa. Ganz wichtig ist für uns auch, gegen Desinformation zu kämpfen. Starke Sozialpartner und eine starke Zivilgesellschaft sind das beste Mittel gegen Desinformation.

Was sind die Forderungen des EWSA an das neu gewählte Parlament und die Kommission?

Neben dem Green Deal muss es auch den Blue Deal geben, das Grundrecht auf Wasser. Die Versorgung mit Wasser wird immer problematischer, sie ist nicht mehr sichergestellt. Das sehen wir an den Dürren und am Klimawandel. Hier brauchen wir eine europäische Strategie mit öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur. Für diese Investitionen sollte es auch eine Sonderbehandlung bei den Schuldenregeln geben, das heißt Ausnahmen.

Wir verlangen vom Parlament und der Kommission die vollständige Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte und den Aktionsplan sowie die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Zur Wettbewerbsfähigkeit und zur Zukunft des Standortes Europa gehören für mich auch eine starke Sozialpartnerschaft, Tarifverträge, eine sichere und leistbare Energieversorgung, soziales Wohnen und vor allem nachhaltige Investitionen.

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Über den/die Autor:in

Margaretha Kopeinig

Margaretha Kopeinig ist freie Journalistin, Autorin und Brüssel-Korrespondentin für den Kurier. Ihre universitäre Ausbildung führte sie nach Wien und Bogotá, wo sie sich mit den Schwerpunkten Politik, Soziologie und Geschichte beschäftigte.

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