Interview: Ein zivilisierter Staat braucht gerechte Steuern

Vienna, Austria - September 16, 2019: Arbeit & Wirtschaft - Interview mit Alois Guger. Alois Guger (* 3. September 1944) ist ein österreichischer Wirtschaftswissenschafter. WIFO / Austrian Institute of Economic Research / Arsenal Objekt 20 / 1030 Wien. Photo: Matt Observe.
(C) Matthias Obergruber

Inhalt

  1. Seite 1 - Was ein gutes Leben ausmacht
  2. Seite 2 - Wohin sich Österreich entwickelt
  3. Seite 3 - Ungleiches Einkommen und Vermögen
  4. Seite 4 - Vermögensverteilung hinkt
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Alois Guger, emeritierter Wissenschafter am WIFO, über ein gutes Leben aus ökonomischer Sicht und was sich in Zukunft ändern muss, wenn weiterhin viele Menschen am Wohlstand teilhaben sollen.
Zur Person
Alois Guger ist Ökonom und Consultant emeritus im Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). Nach dem Studium der Volkswirtschaft an der Johannes Kepler Universität in Linz wurde er Universitätsassistent am Institut für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik der Technischen Universität Wien. Von 1981 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2009 arbeitete er am WIFO als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Zwischen 1998 und 2002 gehörte er zum WIFO-Leitungsteam. Er ist einer der renommiertesten Wirtschaftsforscher des Landes und lehrte an der Johannes Kepler Universität Linz, an der Technischen Universität Wien und an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Arbeit&Wirtschaft: Was macht eigentlich ein gutes Leben aus: Geht´s ums Geld?

Alois Guger: Die meisten Kriterien korrelieren relativ eng mit dem Einkommen, das aber nicht an der ersten Stelle gereiht wird. Dort finden sich Partnerbeziehung, Jobzufriedenheit und Jobstabilität – sie stehen sehr stark im Vordergrund.

Was ist wichtiger: Job oder Beziehung?

Das Wichtigste für Menschen ist die Partnerbeziehung: Eine Scheidung trifft die Menschen mehr als der Verlust des Arbeitsplatzes. Ein sicherer, stabiler Arbeitsplatz ist freilich aus Sicht der politischen Möglichkeiten ganz wichtig.

Eine Scheidung trifft die Menschen mehr als der Verlust des Arbeitsplatzes. Ein sicherer, stabiler Arbeitsplatz ist freilich aus Sicht der politischen Möglichkeiten ganz wichtig.

Welche Rolle spielt der Sozial- und Wohlfahrtsstaat beim guten Leben?

Der Sozialstaat bezieht sich in erster Linie auf die Risiken des Lebens, wie Behinderung, Alter, Armut. Wenn der moderne Staat auch für die Bildung Verantwortung übernimmt, wird vom Wohlfahrtsstaat gesprochen. Den gibt es in Mitteleuropa, aber vor allem in den skandinavischen Ländern. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass er in bestimmten Bereichen nicht nur Sicherheit bietet, sondern auch Angst nimmt und damit den Menschen auch Stärke gibt.

Für die Arbeitswelt …

… und auch sonst für das gesellschaftliche Leben. Der Mensch ist heute kein Bittsteller und Almosenempfänger mehr, er hat einen Rechtsanspruch auf sozialen Schutz.

Sozialstaat ist nicht gleich Sozialstaat. Welche Unterschiede gibt es?

In den Ländern, wo der Schwerpunkt nur auf die Armutsbekämpfung gelegt wird, gibt es wesentlich mehr Arme als unter anderem in Österreich und Skandinavien, wo alle Einkommensschichten vom Sozialstaat profitieren. Außerdem sind egalitäre Gesellschaften gesünder, Menschen haben eine höhere Lebenserwartung, das breit gestreute Bildungsniveau kurbelt auch die Produktivität der Wirtschaft an, und die öffentliche Sicherheit ist deutlich höher.

In den Ländern, wo der Schwerpunkt nur auf die Armutsbekämpfung gelegt wird, gibt es wesentlich mehr Arme als unter anderem in Österreich und Skandinavien, wo alle Einkommensschichten vom Sozialstaat profitieren.

Woran liegt das?

In Ländern, in denen nur eine kleine Schicht profitiert, ist es schwieriger, den Sozialstaat zu finanzieren. Aber es geht nicht darum, dass alle mitfinanzieren: Es ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung, dass die Kinder der Reichen die gleichen Schulen besuchen wie die Kinder der Armen und alle Kranken die gleichen Krankenhäuser. Denn: Public services only for the poor are poor services.

So ist etwa der soziale Zusammenhalt in den USA nicht groß, und die Gesellschaft wird als ungleich betrachtet, weil viele Menschen auch nicht ins Wir-Gefühl eingeschlossen sind.

„Es ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung, dass die Kinder der Reichen die gleichen Schulen besuchen wie die Kinder der Armen und alle Kranken die gleichen Krankenhäuser.“
Alois Guger

Wie sollte sich Österreich weiterentwickeln?

Aktuell brauchen wir einen Umbau von stark monetären Transferleistungen hin zu sozialen Dienst- oder Sachleistungen und höhere Mindeststandards. Unser Sozialmodell beruht auf der klassischen Industriegesellschaft, dem vollbeschäftigten Mann, dem so genannten „Breadwinner“, und der Frau in einer dauerhaften Beziehung, die zu Hause die Kinder erzieht. Das ist freilich nicht mehr zeitgemäß.

Darüber wird schon lange geredet …

Der Übergang vom „Male Breadwinner“ zum „Gender Equality“-Modell ist dringend notwendig. Denn aus der Perspektive der breiten Ausbildung beider Geschlechter und einer alternden Gesellschaft wollen und müssen in Zukunft möglichst alle Erwachsenen erwerbstätig sein. Das erfordert entsprechende öffentliche Institutionen, die die Bildungs- und Betreuungsverantwortung (auch für pflegebedürftige alte Menschen) wirklich abdecken – also eine sehr frühe, leistbare und hochwertige Kinderbetreuung, auch um ein hohes Bildungsniveau für alle Bevölkerungsschichten zu gewährleisten.

Aus der Perspektive der breiten Ausbildung beider Geschlechter und einer alternden Gesellschaft wollen und müssen in Zukunft möglichst alle Erwachsenen erwerbstätig sein.

Was muss sich ändern?

Wir müssen umdenken und eine neue Frauen- und Kinderpolitik machen, viel mehr in Kinder investieren. Der Soziologe Gøsta Esping-Andersen hat das „Gender Equality“-Modell in den Mittelpunkt gestellt. Ferner müssen die Mindeststandards erhöht werden, damit Leistungen deutlich über der Armutsgrenze liegen und niemand in die Armut absinkt. Eines muss klar sein: Die stabilen Beschäftigungsverhältnisse, an denen in unserem System ausreichender sozialer Schutz hängt, wird es in Zukunft nicht mehr geben.

Eine Umwälzung für …

… Männer. Denn die Work-Life-Balance im „Gender Equality“-Modell bedeutet unter anderem eine tägliche Arbeitszeitverkürzung, damit beide Elternteile Betreuungspflichten übernehmen und Mann wie Frau alle Berufe wählen können. Momentan arbeiten die Männer zu viel, ihre Überstundenanzahl ist zu hoch. Im EU-Vergleich steht Österreich in puncto Männergesundheit bei den über 50-Jährigen am zweitschlechtesten da.

Im EU-Vergleich steht Österreich in puncto Männergesundheit bei den über 50-Jährigen am zweitschlechtesten da.

Und die Frauen?

Die haben derzeit eine sehr hohe Teilzeitquote mit sehr wenigen Stunden, davon können viele nicht leben und haben eine schlechte Pensionsabsicherung.

Arbeiten und arm sein: ein weibliches Schicksal?

Das hängt auch mit der Teilzeitarbeit zusammen und, ja, da sind besonders Frauen betroffen. Daneben fallen auch MigrantInnen und AlleinerzieherInnen unter die „Working Poor“, also Erwerbsarmen. Bisweilen hat es auch mit geringer Bildung zu tun, aber keinesfalls immer: Eine Alleinerzieherin oder ein Alleinerzieher kann auch über gute Bildung verfügen und der Kinder wegen auf keine ausreichende Arbeitszeit kommen.

In Zahlen …

… heißt das: In Österreich haben wir 300.000 Menschen, die zu den „Working Poor“ zählen – also ganze acht Prozent aller Erwerbstätigen. Das liegt nur etwas unter dem europäischen Durchschnitt von 9,6 Prozent, in Deutschland sind es neun Prozent. Die Definition: „Working Poor“ sind Menschen, die im erwerbsfähigen Alter sind, Voll- oder Teilzeit arbeiten und während eines Jahres trotzdem mindestens sechs Monate lang unter der Armutsgrenze liegen.

In Österreich haben wir 300.000 Menschen, die zu den „Working Poor“ zählen – also ganze acht Prozent aller Erwerbstätigen.

Woran liegt das?

Die Mindeststandards entsprechen nicht unserem Sozialstaatsniveau. Sie sind eben relativ tief angesetzt, die meisten Werte liegen unter der Armutsgrenze. Deshalb habe ich zuvor gesagt: Wir müssen zeitgemäß umdenken und auch die Mindeststandards anpassen. Das gilt freilich auch für die bedarfsorientierte Mindestsicherung. Asylberechtigte Menschen erhalten übrigens noch weniger.

„Ein zukunftsfitter Staat sollte die Geldleistungen erhöhen und seine Dienstleistungen ausbauen – es wird nicht anders gehen.“

Was verhindert dann eine Änderung?

Das Problem aus neoliberaler Sicht: Die Staatsquote darf nicht steigen. Doch ein zukunftsfitter Staat sollte die Geldleistungen erhöhen und seine Dienstleistungen ausbauen – es wird nicht anders gehen. Neben den Herausforderungen einer unsicheren Arbeitswelt sind auch große Teile der Leistungen, die früher in den Familien erbracht wurden, auf den Staat ausgelagert worden.

Und die Finanzierung?

Der britische Ökonom Anthony Atkinson sagte: Ein zivilisierter Staat braucht heute eine hohe Steuerquote und einen ausgebauten Sozialstaat. Generell brauchen wir für die Reform des Sozialstaates eine breitere Finanzierungsbasis des Sozialsystems. Denn derzeit ruht alles auf dem Faktor Arbeit, der ziemlich unter Druck steht. Die Lohnquote fällt seit Jahrzehnten, die Finanzierungsbasis des Sozialsystems wird völlig ausgehöhlt. Alle Einkommensteile sollten daher zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen werden. Damit meine ich auch die Zinseinkommen und Vermögenserträge.

Ein zivilisierter Staat braucht heute eine hohe Steuerquote und einen ausgebauten Sozialstaat. Generell brauchen wir für die Reform des Sozialstaates eine breitere Finanzierungsbasis des Sozialsystems.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn auf Zinserträge auch Krankenversicherungsbeiträge fällig wären, würde das eine ordentliche Summe ergeben. Außerdem ist nicht einzusehen, dass von der öffentlichen Pension normale Krankenversicherungsbeiträge zu zahlen sind, aber von einer Privatpension kein Cent dazugezahlt werden muss. Das ist völlig unlogisch und nur eine Ausnahme für die Privilegierten.

Privilegierte zur Kasse bitten?

Die Einkommen über der Höchstbeitragsgrundlage sind in den letzten Jahrzehnten doppelt so schnell gewachsen wie Einkommen darunter. Allerdings wandert nichts von dem, was über der Höchstbeitragsgrenze liegt, in das Sozialversicherungssystem. In Schweden gibt es auf Arbeitgeberseite keine Höchstbeitrags-, aber eine Höchstbemessungsgrundlage. Wenn MitarbeiterInnen über der Höchstbemessungsgrundlage verdienen, muss das Unternehmen Geld in den Steuertopf einzahlen. Auch in Österreich sollten wir die Höchstbeitragsgrundlage für Firmen aufheben. Denn bisher gilt: Bei den Sozialabgaben kommen hochqualifizierte ArbeitnehmerInnen das Unternehmen im Verhältnis billiger.

Die Einkommen über der Höchstbeitragsgrundlage sind in den letzten Jahrzehnten doppelt so schnell gewachsen wie Einkommen darunter. Allerdings wandert nichts von dem, was über der Höchstbeitragsgrenze liegt, in das Sozialversicherungssystem.

Weshalb sind unsere Einkommen so ungleich?

In den vergangenen zehn Jahren ist die Lohnquote gefallen, doch die Vermögenserträge, die noch ungleicher verteilt sind als die Erwerbseinkommen, sind explodiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Einkommensverteilung für rund 20 Jahre egalitärer. Bereits seit den 1970er-Jahren wird die Verteilung mit zunehmendem Tempo ungleicher.

Das gilt noch mehr für die Vermögen …

Mit der sinkenden Kinderzahl wird das Vermögen immer stärker konzentriert, aus den Vermögenseinkommen wird mehr gespart, und hohe Vermögen schaffen auch höhere Erträge. Neben der Vererbung sind auch die fehlenden Vermögenssteuern dafür verantwortlich. In den USA waren die Vermögenssteuern nach dem Krieg hoch, die Progression bei den Einkommenssteuern war enorm, sie lag bei 60 bis 70 Prozent.

Auch der politische Mainstream hat sich verändert.

Durch die neoliberale Wende ist seit 30 Jahren eine hohe Dominanz des Shareholder-Value-Prinzips in den Kapitalgesellschaften zu sehen. Sprich: Aus den Gewinnen wird sehr viel an die Aktionäre ausgeschüttet. Die Verteilung hat sich geändert, Lohneinkommen sind zurückgeblieben und Gewinne und die Vermögenserträge stark gestiegen; aber nicht die Investitionstätigkeit.

Durch die neoliberale Wende ist seit 30 Jahren eine hohe Dominanz des Shareholder-Value-Prinzips in den Kapitalgesellschaften zu sehen.

Wer profitiert?

Mit dem Shareholder-Value-Prinzip ist auch die Entlohnung der Manager rasant gestiegen. Sie bekommen zum Teil Boni in Aktien ausbezahlt und versuchen durch Aktienrückkäufe den Aktienwert zu steigern, um dann ihre eigenen Aktien zu verkaufen. In den USA lag das Einkommensverhältnis zwischen der Führungsebene und den durchschnittlichen ArbeitnehmerInnen 1965 bei 20 zu 1, 1995 belief sich das Verhältnis auf 123 zu 1 und heute liegt es bei 300 zu 1!

„Ganze 90 Prozent
der Menschen haben zwischen 2000 und 2016 real verloren.“

Und wer verliert?

Robert B. Reich, US-Arbeitsminister unter Clinton, hat 1991 in seinem Buch „The Work of Nations“ prognostiziert: Wir werden zwischen drei Erwerbstätigenkategorien zu unterscheiden haben: die RoutinearbeiterInnen, wie sie in der Industrie und Sachgüterproduktion beschäftigt sind, Menschen in persönlichen Dienstleistungen, wie Hotel, Gewerbe, Pflege, und jene Gruppe von Arbeitenden, die ein ausgesprochenes Abstraktionsvermögen und symbolisch analytische Fähigkeiten mitbringen müssen, etwa Forscher, Architekten oder Ingenieure. Reich erklärte: Die ersten beiden werden verlieren.

Weshalb?

Er meinte, Routinearbeit wird durch Automaten ersetzt, persönliche Dienstleistungen werden von Zuwanderern erledigt. Doch die Analytiker werden enorme Einkommenszuwächse haben. Eine stärkere Ungleichheit bei den Lohneinkommen sei die Folge. 2016 hat sich Reich aber korrigiert: Denn die von ihm einst prognostizierte Entwicklung ist wesentlich schneller und auch extremer.

Was meinen Sie?

Auch die meisten „Oberen“ werden durch künstliche Intelligenz ersetzt. Es bleibt nur eine kleine Schicht übrig, die enorm verdient. Und wenn es so weitergeht mit der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz, dann wird sich das Vermögen noch ungerechter verteilen.

Auch die meisten „Oberen“ werden durch künstliche Intelligenz ersetzt. Es bleibt nur eine kleine Schicht übrig, die enorm verdient.

Die Vermögensverteilung hinkt bereits.

Ganze 90 Prozent der Menschen haben zwischen 2000 und 2016 real verloren. Nur die obersten 10 Prozent haben leicht zugelegt. Dafür hat das oberste Prozent sehr viel dazugewonnen. Und heute verdienen die 80 reichsten Menschen so viel wie die 40 Prozent darunter.

Was bedeutet ein gutes Leben für Sie selbst?

In meinem Alter bildet natürlich die Gesundheit schon einen zentralen Aspekt eines guten Lebens, um den eigenen Interessen noch nachgehen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dazu kommt die gute Beziehung zu meiner Partnerin und unseren Kindern und deren Gesundheit. Wir reisen viel und hoffen, noch viel unternehmen zu können. Bei jungen Menschen werden andere Aspekte im Vordergrund stehen.

Von
Sophia Fielhauer-Resei und Christian Resei

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/19.

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aw@oegb.at

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