Arbeit&Wirtschaft: Seit rund einem halben Jahr sind Sie an der Spitze der Arbeiterkammer – jener Organisation, die manchen VertreterInnen der Wirtschaft, Industrie und Politik ein Dorn im Auge ist. Wie sind die politischen Angriffe auf die AK einzuordnen?
Renate Anderl: Das größte Problem derzeit ist, dass wir keine sehr gute Gesprächsbasis mit der Regierung haben. Termine werden immer wieder verschoben oder abgesagt. Vieles erfahren wir nur über die Medien. Dass die Regierung ihre Pläne zu einer Kürzung der Kammerumlage auf Eis legt zum Beispiel, habe ich in der Zeitung gelesen. Das macht die Arbeit natürlich schwierig, da wir uns auf unsicherem Boden bewegen und eigentlich nie genau wissen, ob und in welcher Form ein Angriff auf die AK kommt.
Was mir schon auffällt ist, dass die AK deutlich öfter und schärfer kritisiert wird als die WKÖ oder andere Kammern wie Ärztekammer, Notariatskammer usw. Da liegt natürlich der Verdacht nahe, dass eine Regierung, deren Maßnahmen bis jetzt ausgesprochen unternehmerfreundlich waren, einfach nicht will, dass die ArbeitnehmerInnen eine starke Partnerin an ihrer Seite haben. Die wiederkehrenden abfälligen Bemerkungen diverser Regierungsmitglieder über unsere Arbeit und die der Gewerkschaften verstärken diesen Verdacht. Wir sind natürlich Sand in diesem wenig sozialen Getriebe.
Was will die Arbeiterkammer dem entgegenhalten?
Wir haben beschlossen das Angebot der AK insofern zu reformieren, dass wir noch mehr Service für die Mitglieder anbieten wollen, ohne die Umlage zu erhöhen. Gemeinsam mit den Länderkammern haben wir ein Paket geschnürt – das „Zukunftsprogramm“. Ein wesentlicher Schwerpunkt darin ist die Digitalisierungsoffensive. Bis jetzt ist es so, dass öffentliche Förderungen in diesem Bereich sich entweder auf technologische Innovation beschränken oder Unternehmensförderungen sind. Wir wollen hier bewusst einen Kontrapunkt setzen und die ArbeitnehmerInnen dabei unterstützen, damit sie auch in Zeiten technologischer Umbrüche mithalten können, etwa durch Weiterbildung.
Ebenfalls im Zukunftsprogramm enthalten ist die Intensivierung der Beratung zum Thema Wohnen oder zum Nachholen eines Pflichtschulabschlusses. Abgesehen davon werden wir natürlich die Menschen weiterhin darüber informieren, was die AK alles leistet.
Ende August fand das erste Treffen mit Bundeskanzler Kurz statt. Die Chefs der vier Sozialpartnerorganisationen wurden zum Sozialversicherungsgipfel ins Bundeskanzleramt eingeladen. Wie ist das zu bewerten?
Grundsätzlich ist es positiv, dass die Regierung sich erstmals seit ihrem Antritt mit den Spitzen von ÖGB und AK getroffen hat. Ob und inwiefern unsere Expertise bei der geplanten SV-Reform tatsächlich einfließen wird, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich ist bei mir schon der Eindruck entstanden, dass sich die Regierung zwar um eine gute Atmosphäre bemüht, aber eigentlich nicht gewillt ist, die Einwände der ArbeitnehmerInnen in dem Ausmaß zu berücksichtigen, wie es notwendig wäre.
Gemeinsam mit den Gewerkschaften und anderen Organisationen hat sich die Arbeiterkammer gegen einen 12-Stunden-Tag ausgesprochen. Nun ist dieser Realität, seit 1. September gilt das neue Arbeitszeitgesetz. Was bedeutet das für die Beschäftigten?
Wir befürchten schon, dass es zu deutlichen Verschlechterungen für die Beschäftigten kommen wird. Es wird zwar von der Arbeitgeberseite gerne betont, dass ganz bestimmt niemand das neue Gesetz ausnützen wird, aber die Realität sieht dann doch anders aus. Wir hatten bereits vor dem 1. September zahlreiche Fälle in der Beratung – teilweise mit haarsträubenden Arbeitszeitvereinbarungen. Es haben mich auch immer wieder E-Mails von ArbeitnehmerInnen erreicht, die erzählten, dass ihre Chefs ihnen schon davor verkündet haben, dass sie nun 12 Stunden arbeiten müssten und dass jeder, dem das nicht passt, gerne gehen kann.
Es gab auch Fälle, wo Vorgesetzte ganz offen gesagt haben, dass sie jetzt ein paar Mitarbeiter entlassen können, weil sie den Rest der Belegschaft länger arbeiten lassen dürfen. Es steht also zu befürchten, dass der Druck auf die Beschäftigten insgesamt steigen wird. Was wir ebenfalls noch nicht wissen ist, wie es mit den bestehenden Betriebsvereinbarungen aussehen wird. Hier wird der Druck auf die Betriebsräte enorm steigen, da viele Unternehmer es als „Wettbewerbsnachteil“ betrachten werden, wenn es einen Betriebsrat gibt, der darauf besteht, dass gesetzliche Regelungen eingehalten werden. Ich kann an ArbeitnehmerInnen wirklich nur appellieren, sich in der Arbeiterkammer beraten zu lassen. Wir werden alle Fälle sehr sorgfältig dokumentieren und die Regierung wissen lassen, was ihr Gesetz in der Praxis für Auswirklungen hat.
Gar nicht oder nicht korrekt bezahlte Überstunden zählen bereits jetzt zu den häufigsten Problemen, mit denen sich ArbeitnehmerInnen an die Arbeiterkammer wenden. Erwartet die AK durch die Gesetzesänderung nun noch mehr Überstunden-Fälle?
Ja, vor allem bei Gleitzeit und was die Zuschläge betrifft. Hier wurden schon Fälle an uns herangetragen, wo in der Gleitzeitvereinbarung explizit steht, dass Überstunden erst ab der 12. Stunde fällig werden und als Zeitausgleich konsumiert werden müssen – damit fallen die Betroffenen natürlich um ihre Zuschläge um.
Wo kann man ansetzen? Was braucht es statt einer Arbeitszeitflexibilisierung bzw. überlangen Arbeitszeiten?
Also, zuerst möchte ich festhalten, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Österreich bereits sehr flexibel sind. Und die AK ist sicher keine Gegnerin von flexiblen Arbeitszeiten, aber die Frage ist schon: auf wessen Kosten? Eine Flexibilisierung, die ausschließlich den Beschäftigten Anpassung abverlangt, kann’s ja wohl nicht sein. Flexibilisierung bedeutet auch die Möglichkeit, weniger arbeiten zu können. Extrem unflexibel sind die Arbeitgeber übrigens, was die leichtere Erreichbarkeit der 6. Urlaubswoche betrifft. Das ist insofern verwunderlich, als es ja genau an der Flexibilität der ArbeitnehmerInnen liegt, dass sie öfter den Job wechseln. Wer arbeitet denn heutzutage noch mehr als 25 Jahre im selben Betrieb?
Hier sollte auch die Arbeitgeberseite einmal im 21. Jahrhundert ankommen. Was mich an der ganzen Diskussion aber wirklich stört ist, dass es auf der Hand liegt, dass mittelfristig kein Weg an der Arbeitszeitverkürzung vorbeiführt. Die letzte gesetzliche Arbeitszeitverkürzung hatten wir 1975 – da war von Computern und Internet noch keine Rede. Da hat die Technologie natürlich enorm viel verändert, die Produktivität ist durch den Einsatz von Computern enorm gestiegen. Wir werden also über eine neue Verteilung von Arbeit und Arbeitszeit reden müssen. Stattdessen führen wir eine Diskussion über den 12-Stunden-Tag, der eigentlich ein Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert sein sollte.
Frauen in Österreich verdienen nach wie vor weniger als Männer. Wie kann man gegen diese Lohnungleichheit vorgehen?
Da muss man an mehreren Schrauben gleichzeitig drehen. Der erste Ansatz wäre bereits in der Schule zu suchen. Mädchen sollten von Anfang an dazu motiviert werden, auch technische Berufe zu ergreifen. Es ist leider noch immer so, dass viele Niedriglohnbranchen Frauenbranchen sind. In den Kollektivverträgen selber ist zwar jedwede Lohndiskriminierung beseitigt, aber das nützt halt nicht viel, wenn in einer Branche grundsätzlich eher schlecht gezahlt wird, in der vor allem Frauen arbeiten. Da muss einfach noch mehr Bewusstseinsarbeit geleistet werden.
Ein weiterer Punkt sind verpflichtende Quoten für Führungspositionen. Es ist mittlerweile hinlänglich bewiesen, dass Frauen als Führungskräfte dazu beitragen, dass es auch für andere Frauen leichter wird, Spitzenpositionen zu erreichen und die gläserne Decke zu durchbrechen. Das führt natürlich auch zu mehr Lohngerechtigkeit.
Die Einkommensberichte sind auch so ein Schräubchen, an dem gedreht werden muss. Hier fordern wir, dass diese Berichte auch sämtliche Gehaltsbestandteile wie Zulagen oder Prämien enthalten müssen. Sie sollten auch nicht einfach einen Zustand beschreiben und dann passiert nichts mehr. Wir möchten, dass, sollte es in einem Betrieb eine weit geöffnete Lohnschere geben, auch entsprechende Gegenmaßnahmen erarbeitet werden. Ganz wichtig wäre außerdem die innerbetriebliche Transparenz – also, dass innerhalb einer Firma jede Kollegin weiß, was die Kollegen verdienen.
Welche Benachteiligungen für Frauen drohen durch das neue Arbeitszeitgesetz?
Da werden vor allem jene Frauen benachteiligt, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen müssen. Nur zehn Prozent der Kindergärten in Österreich haben zwölf oder mehr Stunden geöffnet. Das wird dazu führen, dass viele Frauen sich dazu entschließen – teilweise entschließen müssen –, daheim zu bleiben. Das kann sich in einer bestimmten Lebensphase auch als die goldrichtige Entscheidung erweisen. Aber jeder Frau sollte klar sein: Eine lange Absenz vom Arbeitsmarkt wirkt sich eben auch negativ auf die weitere Karriere und die Höhe der Pension aus.
Die Bundesregierung agiert schnell und beschließt Gesetze, ohne mit den Sozialpartnern, die die Sorgen und Ängste der Beschäftigten kennen, zu sprechen. Ist die Sozialpartnerschaft in Österreich bald passé oder zumindest gefährdet?
Gefährdet möglicherweise, wenn die Regierung sie weiterhin beharrlich ignoriert. Meine Gesprächsbasis mit den anderen Sozialpartnerpräsidenten (Harald Mahrer/WKÖ, Josef Moosbrugger/LWK und Wolfgang Katzian/ÖGB, Anm.) ist zwar eine gute, aber derzeit sind die Vertreter der Wirtschaft schwer einzuschätzen. Ich wäre jederzeit bereit, mich an den Verhandlungstisch zu setzen – die Signale der Arbeitgebervertreter diesbezüglich sind allerdings eher durchwachsen.
Stichwort Gold-Plating: Insgesamt 489 Gesetze haben IV und WKO an die Bundesregierung gemeldet, die aus Sicht der Wirtschaft in Österreich übererfüllt werden und korrigiert werden sollten. Was sagt die AK dazu?
Für die AK ist klar, dass wir in Standortfragen die Qualitätsleiter hinauf- und nicht die Preisleiter hinunterklettern wollen. Wir sind stolz, wenn österreichische Unternehmen an der Weltspitze mitmischen. Schließlich bedeutet das, dass die Beschäftigten dieser Betriebe spitze sind. Einen Standortwettbewerb, der da lautet „runter mit den Löhnen, runter mit den Arbeitsbedingungen und nur rauf mit dem Profit“ darf es aus unserer Sicht nicht geben.
Wir wollen Gold und nicht Blech, wenn es um die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. Ich werde dafür kämpfen, dass es beim österreichischen Arbeitsrecht, das in vielen Bereichen besser ist als die EU-Mindestnormen, keinen Rückschritt gibt. Dass Arbeitnehmerinteressen, Schutzvorschriften oder Umweltstandards den Profitinteressen von Konzernen untergeordnet werden, ist für mich eigentlich indiskutabel.
Was sind die Schwerpunkte der Arbeiterkammer in den kommenden Monaten?
Die nächste Zeit ist sicher den Auswirkungen des neuen Arbeitszeitgesetzes und der Reform der Sozialversicherung gewidmet. Hier schauen wir der Regierung besonders genau auf die Finger. Auch das Thema Wohnen und die Forderung nach einem fairen neuen Mietrecht, das eine Abschaffung von Befristungen und Maklergebühren vorsieht, möchte ich weiterverfolgen.
Außerdem würde ich gerne eine breite Diskussion über Arbeitszeitverkürzung und intelligente Arbeitszeitmodelle in Gang setzen – ich halte das für ein ganz wichtiges Zukunftsthema und auch eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Darüber hinaus werde ich auch in nächster Zeit möglichst viele Betriebsbesuche absolvieren. Das sind Termine, bei denen ich besonders viel lerne. Ich suche ja ganz bewusst das Gespräch mit Beschäftigten und kann mir dadurch ein klares Bild von Arbeitsbedingungen oder etwaigen Problemen machen. Bei jedem einzelnen Betriebsbesuch bin ich wirklich beeindruckt, zu sehen, welche Leistungen die Menschen täglich erbringen und mit welchem Einsatz sie – teils unter schwierigen Bedingungen – arbeiten.
Im nächsten Jahr steht die AK-Wahl an, die natürlich enorm wichtig für uns ist. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen auch von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und damit zeigen, dass sie hinter der AK stehen. Das ist aber mit sehr viel Vorbereitung verbunden.
Ein weiterer Schwerpunkt hängt von der Regierung ab: Sollte sie der AK den Kampf ansagen, um die Vertretung der ArbeitnehmerInnen zu schwächen, dann werden wir dem ganz entschieden entgegentreten – das wird dann sicher eine Herausforderung, die wir mit vollem Einsatz angehen müssen.
Auf welche Erfolge kann die Arbeiterkammer blicken?
Ich denke, die Erfolge der Arbeiterkammer lassen sich ganz gut in unserer Bilanz ablesen. Im Vorjahr hat die AK mehr als 500 Millionen Euro für ihre Mitglieder erstritten. Außerdem haben die AK-ExpertInnen österreichweit rund zwei Millionen Beratungen in den Bereichen Arbeit, Soziales, Insolvenz, Konsumentenschutz, Steuerrecht und Bildung durchgeführt. Ich bin sehr stolz, einem Haus vorstehen zu dürfen, in dem es dermaßen viel Know-how bei politischen Themen gibt. Im Vorjahr wurden hunderte Gesetze und Verordnungen auf Landesebene und mehr als 300 auf Bundesebene begutachtet und Stellungnahmen dazu abgegeben. So konnten auch auf dem Gesetzesweg Verbesserungen erreicht werden.
Abgesehen davon hat es die AK geschafft, dass die Berufsgruppen „Kanalarbeiter“, „Montagetischler“ und „Hilfsarbeiter in Mühlen“ in die Schwerarbeitsliste aufgenommen wurden. Stolz sind wir auch auf die Einführung der sogenannten Wiedereingliederungsteilzeit – sie ermöglicht es Beschäftigten, nach langer Krankheit schrittweise wieder in den Job zurückzukehren. Hier geht es auch darum, Kündigungen im Krankenstand bestmöglich zu vermeiden. Die Liste ließe sich jetzt noch länger fortführen, aber das sprengt vermutlich den Rahmen.
Wo gibt es Verbesserungsbedarf?
Den gibt es natürlich immer, wobei ich jemand bin, der seinen Blick vor allem auf positive Aspekte richtet. Was ich aber forcieren möchte ist, dass wir als Institution noch näher an unsere Mitglieder rücken, dass noch mehr Beschäftigte wissen, dass es uns gibt und was wir tun. Ich denke, dass jene Menschen, die von der AK wissen, vielleicht auch selbstbewusster auftreten können, wenn sie ungerecht behandelt werden, weil sie wissen, da gibt es jemanden, der steht hinter mir und kämpft für mich, wenn es sein muss.
Amela Muratovic
Freie JournalistInnen
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 7/18.
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