Arbeit&Wirtschaft: Wir erleben gerade die größte Arbeitsmarktkrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Woran krankt es am Arbeitsmarkt?
Gernot Mitter: Salopp ausgedrückt: Es gibt einfach zu wenig Arbeit im Moment. Das ist eine unmittelbare Folge der Corona-Pandemie. Dazu kommt: Wir sind am Beginn eines deutlichen Strukturwandels. Ich möchte dazu drei D einführen: Wir haben die Digitalisierung. Wir haben die demografische Veränderung – die Alterung der Erwerbsbevölkerung und die Tatsache, dass sich durch Zuwanderung die Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung ändert. Das dritte D nenne ich Dekarbonisierung, das ist die dringende sozial-ökologische Wende. Und schließlich zeigt die aktuelle Arbeitsmarktkrise sehr deutlich: Wir haben auf dem österreichischen Arbeitsmarkt Diskriminierungsprobleme. Frauen sind systematisch benachteiligt, und wir erleben eine Diskriminierung älterer Arbeitnehmer*innen und von Kolleg*innen mit nicht-deutscher Muttersprache.
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Kurzarbeit ist ein erfolgreiches Instrument, um Menschen in Beschäftigung zu halten. Dieses Modell soll Ende März auslaufen. Wie geht’s danach weiter?
Es wird weiterhin Kurzarbeit geben bis 30. Juni. Bis dahin werden die Regierung und die Sozialpartner darüber verhandeln, wie es danach weitergehen kann. Es wird ein „Phasing-out“ brauchen. Ein Ansatz dafür wäre, einen Selbstbehalt der Unternehmen einzuführen.
Alle, die meinen, Arbeitslosen ginge es zu gut, sollten mal hinschauen, wie hoch ihr Risiko ist, selbst arbeitslos zu werden. Und wie viel Geld sie dann zur Verfügung haben.
Gernot Mitter, Arbeitsmarktexperte der AK
Arbeitnehmer*innen haben ja einen Selbstbehalt. Sie bekommen zwischen 10 und 20 Prozent weniger Einkommen auf Basis des Grundgehalts vor der Kurzarbeit, also ohne Überstunden oder Trinkgelder. Im Moment werden den Unternehmen 100 Prozent ihrer Kosten durch die öffentliche Hand abgedeckt.
Kurzarbeit hilft unmittelbar in der Krise. Wie kann man aber mittel- und langfristig Menschen in Beschäftigung halten?
Hier gibt es einen einfachen Slogan: Aus der Krise in eine sozial-ökologische Erneuerung der österreichischen Wirtschaft investieren. Wir haben gesehen, wie kritisch Infrastrukturen in Schulen werden und wie defizitär hier auch die personelle Ausstattung ist, nicht nur bei den Lehrer*innen, auch in der Sozialarbeit, in der Administration etc. Da gibt es überall Investitionsmöglichkeiten: in bessere soziale und öffentliche Dienstleistungen, in eine ökologische Wende, in die Unterstützung zur Bewältigung des digitalen Wandels. Es braucht Investitionen, die verbunden sind mit neuen Beschäftigungsmöglichkeiten und mit dem Erfordernis massiver Qualifikation und Requalifikation von Arbeitnehmer*innen. Dann gibt es eine Chance, bis Mitte des Jahrzehnts aus der Arbeitsmarktkrise herauszukommen.
Ein großes Problem ist Langzeitarbeitslosigkeit. Für Betroffene bedeutet das oft Verarmung, soziale Isolation, gesundheitliche Probleme. Wie kann man verhindern, dass diese Menschen völlig ausgegrenzt werden?
Es ist ein Unterschied, ob jemand langzeitarbeitslos geworden ist, weil dahinter massive gesundheitliche Probleme stehen oder aufgrund der angesprochenen Diskriminierungen. Also braucht man hier mehrere Instrumente. Ein Instrument, das meine Mitarbeiter*innen entwickelt haben, ist die Weiterentwicklung der „Aktion 20.000“. Es gibt genug Beschäftigungsmöglichkeiten – in bürgernahen, sozialen, kulturellen, ökologischen Diensten; also öffentlich geförderte Beschäftigung für langzeitarbeitslos gewordene Personen. Das würde den Staatshaushalt 1,5 Milliarden Euro brutto für 40.000 Menschen kosten. Wahnsinnig viel Geld auf den ersten Blick! Wenn man die Rückflüsse abzieht, bleiben 270 Millionen Euro übrig. Das ist ein vertretbares Investment des Staates, um 40.000 Langzeitarbeitslosen ein Jobangebot zu machen.
Wie sehr reicht das Einkommen von Arbeitslosen zur existenziellen Absicherung?
Die Arbeiterkammer und die Gewerkschaften treten seit Langem für ein höheres Arbeitslosengeld ein. Arbeitslosigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Alle, die meinen, Arbeitslosen ginge es zu gut, sollten mal hinschauen, wie hoch ihr Risiko ist, selbst arbeitslos zu werden. Selbst Haushalte mit relativ gutem Einkommen sind nach drei bis vier Monaten Arbeitslosigkeit am Ende ihrer finanziellen Leistungskraft. Die haben ihre Ersparnisse aufgebraucht, sind im familiären Bereich verschuldet und müssen bei den Kindern sparen. Dann beginnt die Armutsgefährdung. Jetzt sollte man die Nettoersatzrate dauerhaft auf 70 Prozent erhöhen. Es wird immer gesagt, ein zu hohes Arbeitslosengeld würde die Leute abhalten, einen Job anzunehmen. Das ist eine ideologische Behauptung, die empirisch nicht nachgewiesen ist. Was die Dauer von Arbeitslosigkeit wirklich reduziert, ist gute Beratung und Unterstützung von Arbeitsuchenden während der Vermittlung.
Davon würden auch Jugendliche profitieren. Jugendarbeitslosigkeit ist ein großes Problem momentan. Wie kann man jungen Menschen eine Perspektive geben?
Bei der Lehre haben wir ein Problem: zu wenige Lehrplätze. Dafür haben wir ein sehr gut ausgebautes Instrument, das man jetzt quantitativ ausbauen sollte: die überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen. Die fangen jetzt den Rückgang beim Lehrstellenangebot auf. Für die Abgänger*innen aus den berufsbildenden höheren Schulen und aus den Universitäten bin ich versucht zu sagen: Blicken wir zurück in die Zukunft! Wir hatten in den späten achtziger bis Mitte der neunziger Jahre die „Aktion 8.000“, wo für Menschen ohne Berufspraxis, aber mit Berufsausbildung eine auf Basis des Arbeitslosengeldes abgesicherte Einstiegsphase gewährleistet werden konnte. Wir brauchen Beschäftigungsförderung nicht nur für Ältere und Langzeitarbeitslose, sondern auch für Jugendliche, die jetzt vor verschlossenen Türen stehen.
Wir brauchen Beschäftigungsförderung nicht nur für Ältere und Langzeitarbeitslose, sondern auch für Jugendliche, die jetzt vor verschlossenen Türen stehen.
Gernot Mitter, Arbeitsmarktexperte der AK
Viele Frauen arbeiten seit der Pandemie mehr, weil sie in systemrelevanten Berufen tätig sind. Auf der anderen Seite ziehen sich Frauen durch Teilzeitarbeit aus dem Arbeitsmarkt zurück, um Betreuungspflichten nachzukommen. Was bedeuten diese Entwicklungen?
Die Gefahr, die in dem Ganzen lauert: dass sich Frauen wegen der Defizite in der Kinderbetreuung wieder vom Arbeitsmarkt zurückziehen müssen, weil Familien auch betriebswirtschaftlich ins Kalkül ziehen: Wer verdient wie viel? Wo kostet es uns als Haushalt am wenigsten, wenn sich wer von der Arbeit zurückzieht? Da sind wir wieder bei den Einkommensunterschieden zwischen Mann und Frau. Da sage ich bewusst als Mann: Es braucht ein paar härtere Anreize für mein Geschlecht, sich mehr in die Familien- und Reproduktionsarbeit einzulassen.
Zum Beispiel?
Dass es beim Kinderbetreuungsgeld manchen Anspruch nur gibt, wenn der Mann dieses oder jenes tut. Punkt.
Wenn Sie an drei Hebeln ziehen könnten, um den Arbeitsmarkt zu entspannen, welche wären das?
Die Verbindung von Investitionen in Wachstumsbereiche mit einer gut abgestimmten Qualifikationsoffensive – nicht nur für Arbeitslose, auch für Beschäftigte! Das Zweite wäre eine Jobgarantie für Langzeitarbeitslose, mit dem Ziel, 40.000 Arbeitsplätze einzurichten. Das Dritte: die Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit ausbauen. Die Pandemie führt zu mehr Armut in diesem Land. Wir werden sehen, welche Welle an Privatinsolvenzen auf uns zurollen wird. All das spielt eine große Rolle, und wir brauchen eine Politik der Armutsvermeidung.