„Die Regierung will den Sozialstaat abschaffen“ – Alois Stöger im Interview

Inhalt

  1. Seite 1 - Angriff auf den Sozialstaat
  2. Seite 2 - Reform gegen die ArbeitnehmerInnen
  3. Seite 3 - Bald keine kollektive Sicherheit mehr?
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Ex-Gesundheitsminister Alois Stöger kennt das österreichische System der Sozialversicherungen aus der Sicht der Krankenkassen, der Gewerkschaften, der Regierung und der Opposition.

Interviewfoto von Alois Stöger
„Wenn man sich dann die finanziellen Kriterien im Gesetz ansieht, dass nämlich die Privatanstalten künftig 14,7 Millionen Euro jährlich erhalten, dass die Finanzierung berufsbedingter Krankenbehandlungen durch die AUVA abgeschafft wird, dass die Finanzierung der Sozialbeihilfen, also der Ersatz der Mehrwertsteuer verändert wird – zu Lasten der Krankenversicherung für die Arbeiter und Angestellten, dann fehlt dieses Geld natürlich“, so der ehemalige Gesundheitsminister.

Und darüber hinaus gehend hat die SPÖ keinen Bedarf zu einer Reform gesehen?

Es gab Bedarf, das Leistungsrecht zu verbessern und nach oben hin anzupassen. Da ist auch sehr viel passiert: Wir haben in den Gebietskrankenkassen die Leistungen zusammengefasst. Die Effizienzstudie der London School of Economics und Political Science (im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, veröffentlicht im Sommer 2017; Anm.)  hat bestätigt, dass die Anpassung nach oben notwendig ist. Das ist tatsächlich angegangen worden, alleine wenn ich an die Verbesserungen in der Zahnversorgung denke. Nur: Man hat nicht immer das höchste Niveau erreicht. Aber die Zielsetzung war gegeben – und in vielen Fällen umsetzbar (Zahnspange, Kinderrehabilitation, Gesundheitsreform usw.). Das war nur möglich, weil wir einen Blick auf die regionale Versorgung hatten. Das will man jetzt mit der Zerschlagung der Gebietskrankenkassen nicht mehr.

Diese Bundesregierung hat den Arbeitnehmern den Krieg erklärt. Sie will keinen Sozialstaat haben. 

Die Kürzungen der VP-FP-Regierung betreffen auch Maßnahmen, die Sie als Arbeitsminister ermöglicht haben wie u.a. die Streichung der „Aktion 20.000“ für Langzeitarbeitslose. Will die Bundesregierung letztendlich eine mehr-Klassen-Gesellschaft und mehr privat statt Staat?

Diese Bundesregierung hat den Arbeitnehmern den Krieg erklärt. Sie will keinen Sozialstaat haben. Ein Sozialstaat bedeutet einfach gesagt: Eine demokratische Gesellschaft muss für den sozialen Zusammenhalt ihrer Bewohner etwas tun, sonst bleibt das keine demokratische Gesellschaft. Diese Bundesregierung tritt für eine Spaltung der Gesellschaft ein. Mit der Zielsetzung, dass ganz wenige reicher werden und die meisten Mitglieder der Gesellschaft ärmer. Das gelingt, indem man den Sozialstaat abschafft. Die wichtigste Säule des Sozialstaats ist die Unfallversicherung – das ist die Bundesregierung angegangen.

Das Zweite ist die Krankenversicherung, wo die Regierung eben die Gebietskrankenkassen zerschlagen will. Drittens wird Armut im Alter zum Thema gemacht – das hat sich die Regierung noch nicht getraut; aber es kommen noch Fragen etwa, wie wir mit den Pensionisten umgehen. Im Arbeitslosenbereich hat die Regierung den Sparstift angesetzt, die „Aktion 20.000“ abgeschafft, die Mittel für Ausbildungsmaßnahmen gestrichen und ein Ende der Notstandshilfe angekündigt – das alles sind Ansagen gegen die ArbeitnehmerInnen und gegen den Sozialstaat. Auch bei der Mindestsicherungen wurden Differenzierungen angekündigt.

Wenn wir uns das kollektiv sichern, können wir die Freiheit besser leben. Jetzt gibt es in Österreich eine Regierung, die neoliberal denkt und sagt, kollektive Sicherheiten gehören abgebaut, privatisiert und dem Markt überlassen. 

Ich sage immer: Die Freiheit von Menschen ist abhängig davon, ob sie kollektive Sicherheiten haben. Wenn ich Sport betreibe, mich dabei verletze und weiß, dass ich eine gute Krankenversicherung habe, bin ich viel freier. Wenn ich das nicht habe, ist meine Unfreiheit wesentlich größer. Die Freiheit der Menschen braucht Sicherheit und zwar kollektive Sicherheit. Denn individuelle Sicherheit ist fragil. Die Sozialdemokratie und Gewerkschaften haben kollektive Sicherheiten entwickelt. Das waren Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen-, Pensionsversicherung und auch der Zugang zu Infrastruktur wie Wasser, Kanal, Mobilität. Wenn wir uns das kollektiv sichern, können wir die Freiheit besser leben. Jetzt gibt es in Österreich eine Regierung, die neoliberal denkt und sagt, kollektive Sicherheiten gehören abgebaut, privatisiert und dem Markt überlassen.

Nur: Der kranke Mensch hat keine Marktposition! Daher wird er am Markt keine Chance haben. Der einzelne hat keine Marktposition. Das ist sehr deutlich zu sehen am Beispiel der Bankomatgebühr: Wenn das Individuum beim Bankomaten steht, ist es zu spät – das muss man vorher regeln. Diese Auseinandersetzung ist nach wie vor zu führen. Daher braucht es kollektive Sicherheiten. Diese zu entwickeln war der Erfolg der Arbeitnehmerbewegung – immer mit dem Ziel, die individuelle Freiheit zu gestalten. Wenn die Infrastruktur ausgebaut wird, wird auch die individuelle Freiheit größer, kann jemand aus Linz auch in Wien studieren, das erhöht meine Freiheitsgrade. Daher ist es wichtig, kollektive Sicherheiten zu entwickeln – und das haben wir gemacht. Diese Regierung zerstört das wieder, ganz bewusst.

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  1. Seite 1 - Angriff auf den Sozialstaat
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Über den/die Autor:in

Heike Hausensteiner

Heike Hausensteiner ist seit ihrer Schulzeit Anhängerin der Aufklärung. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie im Burgenland, studierte sie Sprach- und Europawissenschaften in Paris, Mailand, Wien und Krems/Donau. Als politische Redakteurin begann sie ihre journalistische Laufbahn 1996 bei der "Wiener Zeitung", wo sie u.a. auch das Europa-Ressort gründete. Nach einjähriger Baby-Karenz machte sie sich 2006 selbstständig und arbeitet seither als freie Journalistin für Zeitungen, Magazine und Online-Medien in Österreich und Deutschland sowie als Autorin (u.a. "Im Maschinenraum Europas. Die österreichische Sozialdemokratie im Europäischen Parlament", 2013) und Moderatorin. Sie lebt mit ihrer Familie und 2 Katzen in Wien.

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