„Die Regierung will den Sozialstaat abschaffen“ – Alois Stöger im Interview

Inhalt

  1. Seite 1 - Angriff auf den Sozialstaat
  2. Seite 2 - Reform gegen die ArbeitnehmerInnen
  3. Seite 3 - Bald keine kollektive Sicherheit mehr?
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Ex-Gesundheitsminister Alois Stöger kennt das österreichische System der Sozialversicherungen aus der Sicht der Krankenkassen, der Gewerkschaften, der Regierung und der Opposition.

Interviewfoto von Alois Stöger
„Jeder, der das Gesetz lesen kann, weiß, dass es gegen die Arbeitnehmerseite gerichtet ist.“ Stöger vertritt ArbeitnehmerInneninteressen in der Grundlagenabteilung der PRO-GE und im Nationalrat.

Wenn die Gebietskrankenkassen als Versicherungen, die die regionale Gesundheitsversorgung steuern, abgeschafft werden sollen, brauche ich neue Steuerungsinstrumente. Mit dem Regierungsentwurf werden aber keine neuen Steuerungsinstrumente gesetzt, sondern sie werden reduziert. Damit wird der Blindflug größer, egal, wie man das macht.

Zweitens wenn man Sozialversicherungsträger zusammenlegen möchte, braucht es eine Zielsetzung und ein gemeinsames Leistungsrecht – das ist aber kein Thema. Was die Bundesregierung schafft, ist eine Drei-Klassen-Medizin: für Beamte, für Selbstständige und Bauern und für die Restgröße, das ist die Mehrheit wie Arbeiter und Angestellte, Arbeitslose, Mindestsicherungsbezieher, Haftentlassene, um’s genau zu sagen. Also die Strukturen zur Zusammenlegung werden gar nicht angegangen. Es gibt keinen Diskussionsbeitrag dazu, dass wir auch die 15 Krankenfürsorgeanstalten (für unterschiedliche Beamte – sie sind keine Sozialversicherungsträger, gehören auch nicht dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger an und unterliegen keiner Aufsicht durch Aufsichtsbehörden; Anm.) hineinnehmen in einen Zusammenführungsprozess der Sozialversicherungen. Es ist in dieser Republik noch nie da gewesen, dass eine Regierung etwas kommuniziert, das mit dem praktischen Handeln nicht zusammenstimmt – was man auch als Unwahrheit beschreiben kann.

Was die Bundesregierung schafft, ist eine Drei-Klassen-Medizin: für Beamte, für Selbstständige und Bauern und für die Restgröße, das ist die Mehrheit wie Arbeiter und Angestellte, Arbeitslose, Mindestsicherungsbezieher, Haftentlassene, um’s genau zu sagen. Also die Strukturen zur Zusammenlegung werden gar nicht angegangen. 

Von dem Regierungsentwurf sind hauptsächlich Arbeitnehmerinteressen betroffen. Dennoch wirken ÖVP-nahe ArbeitnehmervertreterInnen nach außen auffallend ruhig. Stimmt dieser Eindruck, oder haben Sie diesbezüglich andere Informationen?

Ich kenne Betriebsrätinnen und Betriebsräte der Fraktion Christlicher Gewerkschafter (FCG), die sagen, „dieses Vorhaben geht vollkommen gegen die ArbeitnehmerInnen“. Das ist auch tatsächlich so. Jeder, der das Gesetz lesen kann, weiß, dass es gegen die Arbeitnehmerseite gerichtet ist. Zum Beispiel ist vorgesehen, dass die Beamten Selbstverwaltung haben, also in der Sozialversicherung für Beamte sind nur Beamte vertreten und dass in der Sozialversicherung für Selbstständige nur Selbstständige inklusive Bauern sitzen – aber in der Sozialversicherung für ArbeitnehmerInnen sollen künftig mehrheitlich Arbeitgeber vertreten sein. Das ist demokratiepolitisch ein Rückfall um mehr als hundert Jahre in vorrepublikanische Zeiten. Und das kann nicht verfassungskonform sein.

Außerdem sollen die Unternehmer die Entscheidungsbefugnis haben, ob Zuzahlungen, also Selbstbehalte für ArbeitnehmerInnen vorgesehen sind. Das heißt, es ist bereits in Vorbereitung, dass die Arbeitgeber Selbstbehalte für die ArbeitnehmerInnen einführen werden. Wenn man sich dann die finanziellen Kriterien im Gesetz ansieht, dass nämlich die Privatanstalten künftig 14,7 Millionen Euro jährlich erhalten, dass die Finanzierung berufsbedingter Krankenbehandlungen durch die AUVA abgeschafft wird, dass die Finanzierung der Sozialbeihilfen, also der Ersatz der Mehrwertsteuer verändert wird – zu Lasten der Krankenversicherung für die Arbeiter und Angestellten, dann fehlt dieses Geld natürlich. Damit ist auch klar: Die Regierungsparteien wollen den Gesundheitsschutz der ArbeitnehmerInnen aushöhlen.

Außerdem sollen die Unternehmer die Entscheidungsbefugnis haben, ob Zuzahlungen, also Selbstbehalte für ArbeitnehmerInnen vorgesehen sind. Das heißt, es ist bereits in Vorbereitung, dass die Arbeitgeber Selbstbehalte für die ArbeitnehmerInnen einführen werden. 

Sie kennen das österreichische Sozialversicherungssystem aus verschiedenen beruflichen Positionen: aus Sicht der Gebietskrankenkasse und der Gewerkschaft, als Regierungsmitglied, das sie neun Jahre waren, und als gewählter Abgeordneter. Nun gibt es Fälle, wo innerhalb einer Familie drei verschiedene Krankenkassen oder mehr zuständig sind. Warum hat die SPÖ als Regierungspartei nie eine Vereinheitlichung in Angriff genommen?

Der Ausgangspunkt für die Versicherungspflicht ist ja der Arbeitsvertrag, das ist das Prinzip. Und wenn es in einer Familie unterschiedliche Arbeitsverträge etwa mit Land, Bund oder der Privatwirtschaft gibt, habe ich drei unterschiedliche Ausgangspunkte. Folglich gibt es drei Versicherungen. Entscheidend ist das Leistungsrecht der Versicherungen. In der Vergangenheit ist in vielen Fällen das Leistungsrecht jenem der Gebietskrankenkasse gleichgestellt worden – das kann nach oben oder nach unten gleichgestellt werden. Je nachdem, was eine Regierung will.

Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, das Leistungsrecht bei den Gebietskrankenkassen nach unten zu reduzieren – da hätte die ÖVP geklatscht. Wenn ich als Minister gesagt hätte, wir stellen das Leistungsrecht für alle auf jenes der Beamten, gab es niemanden, der bereit gewesen wäre, das auch zu finanzieren. Daher war diese Erwartung nicht möglich. Die Arbeitnehmer haben im Bereich der Krankenversicherung das Leistungsrecht gleichgestellt; da gibt es nur noch marginale Unterschiede bei einzelnen Produkten in den Gebietskrankenkassen.

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Über den/die Autor:in

Heike Hausensteiner

Heike Hausensteiner ist seit ihrer Schulzeit Anhängerin der Aufklärung. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie im Burgenland, studierte sie Sprach- und Europawissenschaften in Paris, Mailand, Wien und Krems/Donau. Als politische Redakteurin begann sie ihre journalistische Laufbahn 1996 bei der "Wiener Zeitung", wo sie u.a. auch das Europa-Ressort gründete. Nach einjähriger Baby-Karenz machte sie sich 2006 selbstständig und arbeitet seither als freie Journalistin für Zeitungen, Magazine und Online-Medien in Österreich und Deutschland sowie als Autorin (u.a. "Im Maschinenraum Europas. Die österreichische Sozialdemokratie im Europäischen Parlament", 2013) und Moderatorin. Sie lebt mit ihrer Familie und 2 Katzen in Wien.

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